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Das Wasser, in dem wir alle schwimmen
Amnesty-Aktivist*innen demonstrieren gegen Hass und Hetze, Berlin 2024.
© Massimo Di Nonno / Getty Images
Warum der Einsatz gegen Rassismus und weitere Formen von Diskriminierung das Zentrum von Menschenrechtsarbeit ist.
Ein Standpunkt von Katharina Masoud
Die steigende Zahl rassistischer Straftaten ist die sichtbare Spitze eines Eisbergs. Unter der Wasseroberfläche liegt der wesentlich größere Teil: eine große Anzahl nicht angezeigter oder nicht verfolgter Taten. Wie der Eisberg im Wasser schwimmt, so wird auch rassistische Gewalt von einem gesellschaftlichen System umflossen und gehalten.
Dabei sind rassistische Gewalttaten ein Teil, aber bei Weitem nicht der einzige Ausdruck dieses Systems der Diskriminierung. Rassistische Hassrede gilt zumeist als Vorstufe, bevor aus Worten Taten werden. Auch rassistische Abwertungen, zumal durch öffentliche Personen, und Anstachelungen zu Ausgrenzung sind gewaltvoll. Ein gängiges Missverständnis ist, dass rassistisches Verhalten absichtlich geschieht. In vielen Bereichen erkennen wir an, dass Absicht und Wirkung oft nicht deckungsgleich sind – in Bezug auf Rassismus haben wir als Gesellschaft dagegen noch viel zu lernen.
Systemischer Rassismus in Deutschland
Auf diese Problematik weisen Betroffene und antirassistische Aktivist*innen seit Jahrzehnten hin. Der Antirassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen stellte Ende vergangenen Jahres erneut mit Besorgnis fest, dass in Deutschland systemischer Rassismus existiere. Er empfahl der Bundesrepublik, "angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um strukturelle Diskriminierung und die fortbestehenden Strukturen rassistischer Ungleichheit zu bekämpfen und die grundlegenden Ursachen von rassistischer Diskriminierung, einschließlich Kolonialismus und Sklaverei, anzuerkennen".
Ausgehend von der sich selbst zugeschriebenen Überlegenheit unterdrückten, beraubten und töteten weiße Europäer*innen bei ihren kolonialistischen Bestrebungen einen Großteil der indigenen Bevölkerung in den Gebieten, die sie ab dem 15. Jahrhundert zu "entdecken" glaubten. Sie versklavten und verschleppten eine Vielzahl Schwarzer Menschen vom afrikanischen Kontinent, beuteten sie aus und betrieben Handel mit ihnen. Und sie bereicherten sich am Wissen, den Ländereien und natürlichen Ressourcen derer, die vor ihrer Ankunft auf weiteren Kontinenten lebten. Mit der Vorstellung ihrer Vormachtstellung versuchten die weißen Europäer*innen ihren unmenschlichen Umgang gegenüber Schwarzen und indigenen Menschen zu begründen.
Später versuchte man, diese Entmenschlichung mit sogenannten "Rassentheorien" pseudowissenschaftlich zu rechtfertigen und auf weitere Personengruppen auszuweiten. Auch die Nationalsozialist*innen behaupteten, den von ihnen verübten Völkermord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden in Europa damit legitimieren zu können. Obwohl inzwischen allen Menschen klar sein sollte, dass es keine wissenschaftliche Grundlage für die Annahme unterschiedlicher Menschenrassen gibt, ist die veraltete Vorstellung der Ungleichwertigkeit weiterhin in vielen Köpfen verankert. Dabei gilt es achtsam zu sein, wenn Konzepte wie "Ethnie" oder "Kultur" den Rassebegriff ersetzen, aber die entmenschlichende Vorstellung dahinter ähnlich ist.
Kolonialer Rassismus wirkt bis in die Gegenwart nach
Die rassistische Ideologie geht von einer Ungleichwertigkeit aus und macht auch heute noch nicht-weiße Menschen zu Personen zweiter Klasse oder spricht ihnen ihr Menschsein sogar vollkommen ab. Dabei machen sich weiße Menschen zur Norm und alle, die davon abweichen, zu einer homogenen Masse der "Anderen". Mithilfe dieser willkürlichen Abgrenzung sollen letztere angeblich anders behandelt werden dürfen. Die historische Unterdrückung der als "die Anderen" verstandenen Menschen hat sich weltweit in unseren Gesellschaften verankert. Sie zeigt sich in einem System ungleicher Machtverhältnisse auch gegenwärtig: Im Gebiet des heutigen Namibia haben deutsche Kolonialherren in den Jahren 1904 bis 1908 trotz mutigen Widerstandes den ersten Genozid des vergangenen Jahrhunderts an den dort lebenden Ovaherero und Nama verübt, dabei Frauen vergewaltigt und sich die Ländereien gewaltvoll angeeignet. Immer noch ist ein Großteil dieser Gebiete im Besitz von Nachfahren weißer deutscher Kolonialist*innen. So wirkt kolonialer Rassismus bis in die Gegenwart über Landesgrenzen hinweg und verfestigt eine ungleiche Ressourcenverteilung.
Ökonomische Ungleichheiten, die auf rassistischer Gewalt und Diskriminierung beruhen, gibt es auch in Deutschland. Darauf weisen Wissenschaftler*innen und Selbstorganisationen Betroffener immer wieder hin. Auch der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor stellte im Mai 2024 fest, dass asiatische, muslimische und Schwarze Menschen in Deutschland signifikant stärker von Armut gefährdet sind – selbst hohe Bildung und Vollzeiterwerbstätigkeit bieten davor keinen vollständigen Schutz, wie die Zahlen belegen. Neben Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt finden sich rassistische Strukturen auch in allen anderen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Bereichen der Gesellschaft wieder: vom Gesundheitssektor über die Sicherheitspolitik bis zum Bildungsbereich. Vom Umgang mit Raubkunst und menschlichen Gebeinen afrikanischer und indigener Menschen in deutschen Museen bis hin zu migrations- und bevölkerungspolitischen Fragen wie etwa der, welche Menschen in Deutschland leben dürfen sollen und wem wir Schutz gewähren: Rassismus wirkt auf verschiedenen Ebenen, strukturiert unseren Alltag, formt unsere Institutionen, ist allgegenwärtig – egal, ob uns das bewusst ist, wir davon profitieren oder wir darunter leiden.
Verschränkung von Unterdrückungsstrukturen
Rassismus findet nicht isoliert statt, sondern verstärkt und verschränkt sich mit anderen Unterdrückungsstrukturen. Insbesondere Schwarze Frauen haben darauf schon seit Jahrhunderten aufmerksam gemacht. Um diese mehrfache Diskriminierung anzugehen, empfiehlt der Antirassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen Deutschland bei der Bekämpfung von Rassismus durchgängig Merkmale wie Geschlecht, Alter, Behinderung, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu berücksichtigen. So ruft er etwa Deutschland mit Blick auf die Verschränkung von rassistischer, religionsbezogener und geschlechtsspezifischer Diskriminierung auf, muslimische Frauen nicht wegen des Tragens von Kopftüchern zu benachteiligen. Darunter fallen Kopftuchverbote an Schulen und in Gerichten, die sich nur auf muslimische, Hijab tragende Frauen auswirken – und nicht etwa auf christliche Nonnen.
Rassismus als System ungleicher Machtverhältnisse ermöglicht Privilegien für weiße Menschen und kann von Rassismus betroffene Menschen am gleichberechtigten Zugang zu Rechten und Ressourcen hindern, was zu weiteren Menschenrechtsverletzungen führt. Deshalb muss der Einsatz gegen Rassismus und weitere Formen von Diskriminierung das Herzstück von Menschenrechtsarbeit sein. Diejenigen, die durch rassistische Strukturen benachteiligt werden und den Einsatz dagegen anführen, müssen dabei im Zentrum stehen. Über die Fälle von Gewalt und Diskriminierung einzelner Menschen hinaus braucht es einen Gerechtigkeitsansatz, der Rassismus als strukturelle Unterdrückung bekämpft. Rassistische Sprache und körperliche Gewalttaten zu unterlassen, ist dabei die Grundvoraussetzung. Es geht darüber hinaus sowohl um Verantwortungsübernahme, wie Wiedergutmachungsversuche einschließlich Entschädigung für koloniales Unrecht, das sich bis heute auswirkt, als auch um die Abschaffung fortbestehender Strukturen rassistischer Ungleichheit, die Macht und Privilegien weißer Menschen verfestigen. Denn das braucht es für eine gerechtere Welt, in der die Menschlichkeit, Würde und Rechte einer jeden Person anerkannt werden.
Katharina Masoud ist Fachreferentin für Geschlechtergerechtigkeit, Intersektionalität und Antirassismus bei Amnesty International in Deutschland.