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Aus der Nische ins Zentrum

Industrieller Charme: Can Sungu und Malve Lippmann vor ihrem Sinema in Berlin
© Marvin Girbig (CC BY-SA 4.0)
Ein neues Kinoprojekt in Berlin möchte selten gezeigte Filme und marginalisierte Perspektiven auf die Leinwand bringen. Im Sinema Transtopia gibt es keine seichte Unterhaltung, dafür jede Menge Raum für die Debatten der "transnationalen" Gesellschaft.
Von Hannah El-Hitami
Es hat 32 Jahre gedauert, bis der Film "Kara Kafa" (deutsch: "Schwarzkopf") gezeigt werden konnte, und selbst dann nur als schlechte Kopie auf einer VHS-Kassette. Der Film des türkischen Regisseurs Korhan Yurtsever wurde 1979 gedreht und erzählt vom schwierigen Schicksal eines türkischen Gastarbeiters, der seine Familie nach Deutschland holt. Bevor der Film jedoch seine Premiere feiern konnte, wurde er von der türkischen Zensurbehörde beschlagnahmt. Der Regisseur wurde angeklagt und floh ins Exil nach Deutschland.
Als 2011 doch noch eine schlechte Kopie des Films auf einem Festival in Antalya gezeigt werden durfte, wurde der Filmemacher und Kurator Can Sungu auf das Werk aufmerksam. "Seitdem war es immer in meinem Kopf, dass der Film restauriert werden muss", erzählt Sungu. 2021 konnte er das Filminstitut Arsenal für sein Projekt gewinnen – es folgte eine abenteuerliche Suche nach dem Ursprungsmaterial. Filmrollen wurden aus dem Gefängnis freigekauft, stellten sich dann doch als die falschen heraus. Schließlich tauchte der richtige Film in einem Archiv in Istanbul auf.
Globale Vielfalt in lokaler Gemeinschaft
Filme wie diese sind es, denen sich Can Sungu und Malve Lippmann mit ihrem Sinema Transtopia verschrieben haben. Anfang 2023 hat das Kino im Berliner Stadtteil Wedding eröffnet, laut Website als "sozialer Diskursraum und als Ort des Austauschs und der Solidarität". Zu sehen gibt es hier Filme abseits des Mainstreams: Produktionen, die nicht in nationalen Archiven liegen, weil sie staatliche Narrative infrage stellen und marginalisierte Stimmen zu Wort kommen lassen; Arbeiten, die selten gezeigt wurden, weil sie keine Millionen an der Kinokasse einbringen, sondern kritische Diskurse vorantreiben wollen. "Wir achten ganz stark darauf, dass unterschiedliche Communities der Stadt in diesem Kino ihren Platz finden", sagt Sungu. Dabei gehe es auch viel um Rückblicke und den Aufbau von Archiven einer "migrantischen Filmkultur, die in Deutschland und Europa sehr unterrepräsentiert ist oder durch Machtverhältnisse unsichtbar gemacht wurde".
"Sinema", das ist türkisch für Kino. "Transtopia" bezieht sich auf das Konzept des Migrationsforschers Erol Yıldız. Er spricht von Transtopien als Räumen, die in einer durch Mobilität geprägten globalisierten Welt entstehen. Vor allem in Städten seien Migration und Diversität seit Generationen ein zentraler Bestandteil des Zusammenlebens, schreibt Yıldız in einem Aufsatz. Er plädiert dafür, Mythen von nationaler Zugehörigkeit infrage zu stellen. Vielmehr entstehe Gesellschaft aus "einer Bewegung, die Regionen, Kulturen, Lebensstile und Lebensformen, die oft geografisch wie zeitlich weit voneinander entfernt sind, auf lokaler Ebene zusammenbringt". Transtopien sind also Räume, in denen globale Vielfalt zu lokaler Gemeinschaft verschmilzt. Sie rücken marginalisierte Akteur*innen ins Zentrum, so Yıldız, und stellen dadurch herrschende Normen infrage.
"Ein bisschen nerdig ist das hier schon", sagt Malve Lippmann lachend. Die Bühnenbildnerin und Künstlerin ist an einem Abend im Februar zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn ins Sinema Transtopia gekommen. Das kürzlich sanierte Industriegebäude liegt unweit der Müllerstraße, die wie der ganze Stadtteil von türkischem und arabischem Leben geprägt ist. Das Foyer des Kinos befindet sich in einem großen Raum mit Betonboden und freigelegtem Backstein an den Wänden. Der industrielle Charme wird durch eine massive, goldglitzernde Theke und Holztische mit Tulpendeko abgerundet. Lippmann schließt noch eben eine Kerzenbestellung ab, dann erzählt sie von der Entstehung des Kinos, das mit einem Experiment des Kulturprojekts bi’bak am Alexanderplatz begann.
Stressige Suche nach Geld
"Das eine Experiment war, dass wir gezielt für die transnationale Stadtgesellschaft Kino machen wollten. Und das andere Experiment war die finanzielle Struktur", erklärt Lippmann. Denn anders als Oper oder Theater ist der Kinobetrieb in Deutschland nicht im Kultur- sondern im Wirtschaftssektor angesiedelt. Das bedeutet, Kino muss sich durch Einnahmen finanzieren, statt staatlich subventioniert zu werden. Was aber, wenn man Filme zeigen möchte, die sich nicht an ein Massenpublikum wenden? Das Geld dafür aus verschiedenen Fördertöpfen zusammenzubekommen, sei ganz schön stressig, sagt Lippmann. Doch die Mitgründerin von Sinema Transtropia ist überzeugt, dass es sich lohnt: "Filmkultur kommt ja nur weiter, wenn so etwas möglich ist."
Das Experiment scheint jedenfalls gelungen zu sein: Zum Jahreswechsel zog das Kino vom provisorischen Abrissbau am Alexanderplatz in die eigenen vier Wände im Wedding. Seitdem stellt das Team jeden Monat ein neues Programm auf die Beine, jeweils von anderen Kurator*innen zusammengestellt; darunter sind Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Filmemacher*innen wie der chinesische LGBT-Aktivist Popo Fan, die iranische Fotografin Nafiseh Fathollahzadeh oder die nonbinäre thai-deutsche Filmemacher*in Sarnt Utamachote.
Während des Gesprächs mit Lippmann betritt der mauretanisch-französische Filmemacher Julius Amédée Laou das Sinema Transtopia. Am Abend sollen zwei Kurzfilme von ihm aus den 1980er Jahren gezeigt werden, die sich mit Rassismus gegen Schwarze Menschen in Frankreich befassen. Das Februar-Programm im Sinema trägt den arabischen Titel "YA FRANÇA, YA FRANÇA" und handelt von den politischen Spannungen in Frankreich ab Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre.
Dabei stehen die Perspektiven von People of Colour im Mittelpunkt, die sich mit Rassismus und kolonialem Unrecht beschäftigen. Obwohl Filme wie die von Laou alt und ziemlich speziell sind, sind die 78 rotgepolsterten Holzsitze an diesem Dienstagabend fast voll besetzt. Im Anschluss gibt es noch ein Podiumsgespräch mit dem Filmemacher – das gehört zu jeder Vorführung. "Für uns ist es wichtig, dass das Kino zum Diskursraum wird, wo Menschen zusammenkommen und diskutieren können", sagt Lippmann.
Darum sollen im Sinema Transtopia nicht nur Filme gezeigt und besprochen werden. Das Foyer des Kinos soll auch als Raum für Workshops genutzt werden: Bisher gab es zum Beispiel einen zu Empowerment durch Film für queere People of Colour oder eine Masterclass zum Aufbau transnationaler Archive – "lebendiger Archive, die genutzt und nicht einfach nur eingelagert werden", betont Lippmann. Außerdem sollen regelmäßig Partys stattfinden und Kooperationen mit Festivals wie dem arabischen ALFILM.
Weitere Programmschwerpunkte werden diesen Sommer auf Meisterwerken des iranischen Kinos und chinesischer Subkultur liegen. Auch "Kara Kafa", der verschwundene und wiederentdeckte türkische Film, darf im Programm von Sinema Transtopia nicht fehlen. Nach seiner Premiere auf der Berlinale soll er im Juni im Wedding gezeigt werden.
Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.