Amnesty Journal Deutschland 10. August 2021

Lieder zwischen den Welten

Ein türkischer Mann mit Glatze ist in schwarz gekleidet und steht vor einem Wandteppich.t

Der Klang der Integration: Ozan Ata Canani konnte nie von seiner Musik leben.

Der Saz-Virtuose Ozan Ata Canani hat in den 1970er Jahren als Erster die Erfahrungen der Migrant_innen in Deutschland musikalisch verarbeitet – auf Deutsch. Erst jetzt ist sein Debütalbum erschienen.

Von Thomas Winkler

Es war einmal, lang ist es her, da schrieb ein junger Mann in Liedern auf, was ihn bewegte in dem Land, in dem er lebte. Er nahm das Instrument, das er aus einem anderen Land mitgebracht hatte, gab sich selbst den Ehren­titel Ozan ("Dichter") und spielte und sang seine Lieder. Die handelten davon, wie es ist, als Fremder in Deutschland zu leben, als einer, der damals "Gastarbeiter" genannt wurde. Sie handelten davon, dass alle Menschen glücklich sein wollen und dass man nicht allein von Brot satt wird. Davon, wie es ist, härter arbeiten zu müssen für weniger Lohn als die deutschen Kol­leg_in­nen, und wie es sich anfühlt, zwischen zwei Welten zu leben. Heute ist Ata Canani 57 Jahre alt und sagt: "Ich bin stolz, dass meine Lieder immer noch so aktuell sind – und ich fürchte, sie werden auch in hundert Jahren noch aktuell sein."

Lebensrealität der Neuankömmlinge

Ata Canani war der erste Migrant, der in den 1970er Jahren die Lebensrealität der Neuankömmlinge in Songs verarbeitete – und das in deutscher Sprache. Ein Novum, das aber kaum wahrgenommen wurde. Es gab zwar ein paar TV-Auftritte, unter anderem bei Alfred Biolek, doch spielte Canani seine Songs vor allem bei türkischen Hochzeiten, bei denen er allerdings eher als Virtuose mit der Saz, der Langhalslaute, gefragt war. "Die Gastarbeiter haben mich nicht verstanden, weil sie der deutschen Sprache nicht mächtig waren, und den Deutschen war meine Musik zu orientalisch", erinnert er sich.

Ozan Ata Canani auf YouTube

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Umso wichtiger, dass diese verloren gegangenen Lieder nun endlich wieder zu hören sind. Alle Stücke auf dem Album "Warte mein Land, warte", die neu geschriebenen sowieso, aber auch die jahrzehntealten, mussten von Canani und seiner Band neu eingespielt werden. Dass die alten Bänder verloren gegangen waren, dass es keine Originalaufnahmen mehr gab, macht deutlich, wie sehr Cananis historische Leistung in Vergessenheit geraten war. Als Bülent Kullukcu und Imran Ayata im Jahr 2013 die Compilation "Songs of Gastarbeiter" herausbrachten und Cananis vergessenen Klassiker "Deutsche Freunde" an den Anfang stellten, bekam er zumindest einen Teil der Anerkennung, die er ­verdient. Trotzdem dauerte es noch einmal acht Jahre, bis nun endlich ein ganzes Album ­erscheint.

Harte, körperliche Arbeit

Leben konnte Canani nie von seiner Musik. Mit elf Jahren kam er nach Deutschland, sein ­Vater wollte das musikalische ­Talent des Sohnes nie fördern, obwohl er die Saz spielen konnte wie kaum ein anderer. Also ging Canani 36 Jahre lang harter ­körperlicher Arbeit nach, ebenso wie die anderen "Drecks- und Müllarbeiter, Stahlbau- und Bahnarbeiter" aus der "Türkei, aus Italien, aus Portugal, Spanien, Griechenland, Jugoslawien", deren Schicksal er in "Deutsche Freunde" besingt. In dieser Zeit ­erlebte er, wie aus Gastarbeiter_innen zumindest offiziell doch noch Migrant_innen wurden, aber auch wie der NSU in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe zündete – Canani lebte ganz in der Nähe.

Vor fünf Jahren hatte er einen Herzinfarkt, seitdem lebt er von Hartz IV, mittlerweile in einer kleinen Wohnung in Lever­kusen. An der Wand des Wohnzimmers hängen alte Bilder und mehrere Exemplare seines Instruments, der Saz. Vor ein paar Jahren hat jemand ein Hakenkreuz auf die Wand des Mietshauses gesprüht, doch das Verfahren wurde eingestellt. "Meine ­Lieder sind ein Teil der Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland", sagt Ata Canani. Nun sind sie zum Glück auch ein Teil der Gegenwart des Einwanderungslandes Deutschland.

Ozan Ata Canani: "Warte mein Land, warte" (Fun In The Church/Bertus)

Thomas Winkler ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

WEITERE MUSIK-TIPPS

Rappen übers Fremdmolekül

von Thomas Winkler

Über ein Vierteljahrhundert ist es her, da entdeckten deutsche Jugendliche, dass man nicht nur auf Englisch rappen kann. Die Pioniere dieser Idee nannten sich Die Fantastischen Vier, aber auch Advanced Chemistry, Fresh Familee oder Main Concept. Die einen kennt man heute noch, die anderen sind verschwunden oder immer Underground geblieben. Die einen sind, wahrscheinlich kein Zufall, weiß und sehr deutsch, die anderen hatten schon damals, was man heute einen Migrationshintergrund nennt. Während die Minderheiten ein, zwei Generationen später als Gangster-Rapper dann doch noch die deutschen Charts übernahmen, blieben Main Concept tapfer bei ihrem Konzept vom aufklärerischen, gesellschaftskritischen Rap, den sie nun mit ihrem neuen Album "Main Concept 3.0" zum wiederholten Male aktualisieren. Dabei verzichten die Münchner ganz bewusst darauf, sich musikalisch allen Moden anzudienen, und setzen stattdessen auf das, was zum weltweiten Siegeszug von HipHop geführt hat: die Macht des rhythmisch gesprochenen Wortes. Weil die Zeiten so sind, wie sie sind, aktualisiert Rapper DavidPe seinen Klassiker "Zwischen den Stühlen", in dem er schon vor 27 Jahren das Gefühl beschrieben hatte, fremd im eigenen Land zu bleiben. In "Der ich bin" stellt er fest, dass sich auch nach einem halben Jahrhundert Einwanderungsland Deutschland nicht viel verändert hat: "Trotz all der Integration bleibst du ein Fremdmolekül".

Main Concept: "Main Concept 3.0" (Buback/Indigo)

Afro-indigener Mardi Gras

von Thomas Winkler

Wenn Second Chief Joseph Boudreaux Jr. seinen Ahnen huldigen möchte, dann trägt er einen quietschgrünen Indianerhäuptling-Anzug und dazu einen ausladenden, noch grüneren Federschmuck. Damit geht er dann zum Fasching, oder genauer: zum Mardi Gras. Der Häuptling trommelt und singt für Cha Wa, eine Band aus New Orleans, die eine alternative Version des weltberühmten Karnevals in der Stadt am Mississippi auf die Bühne bringt. Wenn die prächtigen Paraden über die großen Boulevards ziehen, dann erobern sich die Black Masking Indians die Nebenstraßen von New Orleans – Afroamerikaner_innen verkleiden sich als Native Americans. Was auf den ersten Blick wie kulturelle Aneignung wirken mag, ist historisch begründet. Die Tradition reicht zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Rassentrennung Schwarze von den offiziellen Mardi-Gras-Feierlichkeiten ausschloss. Sie nimmt Bezug darauf, dass Jahrhunderte zuvor geflüchtete Sklav_innen Schutz fanden in den Sümpfen Louisianas bei indigenen Stämmen, die von ihrem Land vertrieben waren. Viele Einwohner_innen von New Orleans können ihren Stammbaum zurückverfolgen bis in diese gemeinsame Vergangenheit von Rot und Schwarz. Deshalb hat der Sound von Cha Wa zwischen Marschmusik, Jazz, Funk und Soul auch schon ohne die Texte über Armut, Rassismus und Polizeigewalt eine soziale und politische Dimension.

Cha Wa: "My People" (Single Lock/Cargo)

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