Amnesty Journal Deutschland 25. September 2018

Endstation Ellwangen

Zeichnung eines Zelts

In der baden-württembergischen Landeserstaufnahme­einrichtung für Flüchtlinge ist die Angst vor Abschiebungen allgegenwärtig.

Von Markus Bickel, Ellwangen

Für den leitenden Polizeidirektor Peter Hönle endete der Einsatz eine Woche nach der Razzia. Für Lamin Mboge ist er bis heute nicht vorbei. Doch der Reihe nach.

Landeserstaufnahmeeinrichtung Ellwangen, kurz LEA genannt, im schwäbischen Ostalbkreis. Die heiße Sommersonne knallt auf die große Wiese unterhalb der Kantine. Auf dem Grün stehen zwei Fußballtore und ein paar Holzbänke mit Tischen. Es ist Mittagsessenszeit, das ganze Camp ist auf den Beinen. Mädchen und Jungs auf Fahrrädern, Eltern schlendern lässig hinterher.

Auf einer Bank abseits des Wegs hoch zur Essensausgabe sitzt Lamin Mboge*. Der Mann aus Gambia kriegt zurzeit keinen Bissen herunter. Selbstmordgedanken plagen ihn. "Wenn ich aus der Stadt zurückkomme, die Hauptstraße entlang Richtung Camp, überlege ich manchmal, mich einfach vor ein Auto zu schmeißen", sagt der 33-Jährige.

Auf seinem Handy spielt er Szenen aus einem Flüchtlingslager im italienischen Latina vor. Lagerleiter Luca sei ein Quäler gewesen, ein Menschenverachter vor dem Herrn. Bilder von ­abgeführten Afrikanern flackern über den Touchscreen, Szenen einer medienwirksam inszenierten Rückführungsaktion der ­Regierung in Rom.

Neun Monate verbrachte Mboge in Italien, ehe er sich Anfang des Jahres nach Deutschland durchschlug. Die meiste Zeit hatte er davor außerhalb des Lagers verbracht – so wie Tausende junge Männer und Frauen, die in Italien nach der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Zwangsprostitution und Ausbeutung auf Obst- und Gemüseplantagen gehören dort zum Alltag. Aber vielen Afrikanerinnen und Afrikanern ist das immer noch lieber als das Leben in den schlecht versorgten italienischen Flüchtlingsunterkünften, wo jederzeit die Abschiebung drohen kann.

Auch aus der LEA in Ellwangen werden regelmäßig Flüchtlinge abgeführt, im Schnitt dreimal pro Woche. Lamin Mboge kann deshalb oft nicht schlafen. Er verfügt lediglich über eine Duldung und rechnet Tag für Tag damit, dass Polizisten ihn aus seinem Zimmer holen. Weil das Dublin-System in der Mehrheit der Fälle die Aufnahme in jenem Land vorschreibt, in dem ein Geflüchteter zum ersten Mal registriert wurde, würde das die Rückkehr ins gefürchtete Italien bedeuten.

Damit die Beamten ihn nicht finden können, setzt Mboge sich deshalb auch nachts oft auf eine der Holzbänke auf der Wiese unterhalb der Kantine. Hier funktioniert das WLAN gut, was hilft, die Angst zu vergessen und die Zeit totzuschlagen. "Es ist nicht einfach, glauben Sie mir", sagt Mboge. "Wenn man mich nach Italien zurückbringt, werde ich leiden."

Die Chancen, dass es so kommt, sind groß. Denn eine Verlängerung seiner Duldung wird der junge Gambier wohl kaum erreichen können. Im Frühjahr 2017 hatte er sich auf den Weg aus seinem Heimatland Richtung Libyen aufgemacht und von dort weiter über das Mittelmeer. Der Grund für die Flucht: Familienstreitigkeiten. Die Schwiegereltern gehören einer anderen Ethnie an, was nach dem tödlichen Unfall seiner Frau zu Streit um Geld führte und ihn um sein Leben fürchten ließ. Asyl gibt es dafür nicht.

Auch viele der anderen Geflüchteten sind unruhig: Mehr als 600 sind es Mitte September, die meisten aus Ghana, Gambia, Guinea, Kamerun, Nigeria, Senegal und Togo. Kaum einer der Westafrikaner wird legal in Deutschland bleiben können. Und je geringer die Bleibeperspektive ist, desto größer die Verzweiflung.

Angst und Ausweglosigkeit

Für Pater Reinhard Baumann von den Comboni-Missionaren ist diese Ausweglosigkeit der Grund, weshalb sich am 30. April Dutzende LEA-Bewohner mit Yussif O. solidarisierten, einem 23-jährigen Mann aus Togo. Baumann gehört zu den Initiatoren des Ellwanger Freundeskreises Asyl, der sich schon lange vor der ­Eröffnung der LEA im März 2015 zusammenfand. Für den 3. Mai hatte der Freundeskreis ein Pressegespräch geplant, bei dem die Betroffenen selbst über die Lage in der LEA berichten sollten.

Doch dann kam jener Polizeieinsatz, der über Jahre aufgebautes Vertrauen zerstörte – und weit über Baden-Württemberg hinaus die Frage aufwarf, ob künftig auch in anderen deutschen Aufnahmezentren mit Widerstand gegen die Staatsgewalt zu rechnen sei. Wasser auf die Mühlen jener, die seit der erfolgreichen Flucht Hunderttausender Syrer und Iraker über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute im Sommer vor drei Jahren vor einem Zerfall von Recht und Ordnung warnen.

Dabei konnte von Ausnahmezustand in der LEA keine Rede sein, sagt Pater Baumann. Nüchtern rekapituliert der katholische Geistliche, wie in den frühen Morgenstunden des 30. April vier Polizisten kamen, um Yussif O. für die Rückführung nach Italien in Gewahrsam zu nehmen. Als dem Togoer bereits Handschellen angelegt worden waren, hätten sich jedoch so viele Männer um die Doppelstreife geschart, dass die Beamten ihn wieder freiließen – und den Rückzug antraten. Baumann, der viele LEA-Bewohner kennt, weil er in der Einrichtung Deutsch unterrichtet, sagt: "Ich möchte dieses Verhalten nicht rechtfertigen, habe aber schon ein gewisses Verständnis dafür."

Berthold Weiß hat das nicht. Die Gewalt sei von den Flüchtlingen ausgegangen, sagt der Leiter der LEA in seinem Büro auf dem Gelände der ehemaligen Reinhardt-Kaserne der Bundeswehr. Ganz unabhängig davon, ob es nun fünfzig oder, wie von der Polizei behauptet, bis zu 200 Männer waren, die sich den Einsatzkräften entgegenstellten. Für Weiß, der die LEA seit ihrer Gründung vor drei Jahren führt, ist klar: "In keinem Staat der Welt lässt sich die Polizei so etwas gefallen."

Auch Monate nach dem Vorfall wirkt der 56-Jährige persönlich getroffen davon, dass seine "Gäste" einen der ihren aus dem Gewahrsam der Vollstreckungsbeamten befreiten. Dass die Polizei auf die spontane Solidarisierung mit dem Togoer reagieren musste, steht für den unter Mitarbeitern wie Flüchtlingen beliebten Verwaltungsfachmann außer Zweifel. Und das durchaus mit Härte, so Weiß, der außerdem Fraktionsvorsitzender der Grünen im Gemeinderat Ellwangens ist: "Wenn die Polizei in mehrere Gebäude gleichzeitig reingeht, dann geht’s auch mal robust zu", sagt er. "Dann wird nicht dreimal geklopft, sondern aufgemacht."

Wovon Weiß spricht, ist der Einsatz nach der vereitelten Abschiebung von Yussif O.: Mehrere Hundertschaften in Sturmhauben und Schutzwesten rückten 72 Stunden später abermals in der LEA an. Eine Racheaktion der gedemütigten Ordnungsmacht, sagen Kritiker der Razzia, die erfolgreiche Wiederherstellung des Rechtsstaats, deren Befürworter. Vom Kontrollverlust der Staatsmacht sprechen CDU- und AfD-Abgeordnete im Landtag in Stuttgart, von einer Zäsur, die das Ende humanitärer Maßstäbe in der Flüchtlingsbetreuung bedeute, Kirchenleute und Sozialarbeiter vor Ort.

Der Kampf um die Deutungshoheit über den Einsatz ist auch Monate später nicht beendet. "Die Stimmung ist sehr, sehr vergiftet", konstatiert LEA-Leiter Weiß, der von einer "ambivalenten Geschichte" spricht. Und in der Aussage gegen Aussage steht: Drei Flüchtlinge berichteten Amnesty, wie sie von Polizisten aus den Betten gezerrt und zu Boden gedrückt wurden. Handys seien zerstört, Türen eingetreten worden, obwohl diese gar nicht verschlossen waren. Der LEA-Psychologe Reinhard Sellmann will nicht ausschließen, dass Dutzende Männer, die bereits in ihren Herkunftsländern oder auf der Flucht traumatisiert wurden, durch die Ereignisse eine Retraumatisierung erlitten.

Die Verteidiger der Staatsgewalt ficht das nicht an. Von mehreren nach der Razzia im Mai in Untersuchungshaft genommenen LEA-Bewohnern sind inzwischen drei wegen "tätlichen Angriffs" auf Polizisten oder Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilt worden. Drei Männer wurden bereits abgeschoben, zwei kamen frei. Auch Yussif O. ist nach Italien rücküberstellt worden, wo er nach seiner Flucht aus dem Togo zum ersten Mal europäischen Boden betrat – so wie es die Dublin-Regeln vorsehen.

Von "einem Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung" hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer am 1. Mai nach der Solidarisierungsaktion mit dem Togoer gesprochen, ehe zwei Tage später die Hundertschaften in der LEA anrückten. Mitten in der Nacht – mit dem Auftrag, diesmal nicht nur Yussif O. nicht entwischen zu lassen, sondern alle alleinstehenden Männer auf Waffen und Rauschgift hin zu kontrollieren. Dass am Ende unter 300 Untersuchten lediglich ein paar Gramm ­Haschisch gefunden wurden, aber keine harten Drogen, Messer oder Pistolen, gilt Kritikern als Beleg, dass mit dem Einsatz ein politisches Exempel statuiert werden sollte.

Oder, wie es der Leiter des Führungs- und Einsatzstabs im Polizeipräsidium Aalen, Peter Hönle ausdrückt: "Für uns war klar, dass wir nicht ein zweites Mal als Verlierer vom Platz gehen würden."

"Lageangepasst und professionell"

Aalen, zwanzig Kilometer südlich von Ellwangen gelegen, einen Tag nach dem Besuch in der LEA. Das Polizeipräsidium der großen Kreisstadt ist von einem hohen Baugerüst umgeben, mit zwei Mitarbeitern seines Stabs steht der leitende Polizeidirektor Rede und Antwort. Dass der Einsatz am 3. Mai weit über den schwäbischen Ostalbkreis hinaus Bedeutung hat, ist ihm bewusst. "In Zeiten von WhatsApp und Facebook bleiben solche Aktionen nicht auf einen Landkreis begrenzt."

Hunderte Einsätze hat Hönle in seiner Polizistenkarriere mitgemacht, die 1979 in der großen Kreisstadt im Osten Baden-Württembergs, unweit der bayerischen Grenze, begann. Nach dem Amoklauf von Winnenden 2009 befehligte er als Abschnittsleiter die Suche nach dem Täter und die Evakuierung der Schule, auch bei den Protesten gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21, den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 und bei Neonazi-Aufmärschen in West- und Ostdeutschland war er dabei.

Den Vorwurf, dass seine Beamten afrikanische Männer im Mai brutal behandelt hätten, weist der Einsatzleiter zurück – es sei stets um den Eigenschutz seiner Beamten gegangen, alles sei "lageangepasst und professionell" verlaufen. Auch Türen seien nur dann eingetreten worden, wenn sich die Klinken nicht hätten öffnen lassen. Und selbstverständlich habe man die beteiligten Beamten bei der Einsatzvorbereitung umfassend auf die traumatischen Verfolgungs- und Fluchthintergründe der LEA-Bewohner hingewiesen.

Als Erfolg wertet Hönle den Einsatz aber auch deshalb, weil mit der Abschiebungsvereitelung am 30. April "die Gastfreundschaft überdehnt" worden sei: "Das kann sich der Rechtsstaat nicht bieten lassen, dass er im eigenen Land vom Hof gejagt wird." Zugleich räumt er ein, dass die Polizisten die mit solchen Einsätzen verbundenen Härten ausbaden müssten. "Die Rolle der Polizei ist schwer: Sie steht am Ende eines staatlichen Handelns, das Fragen nach Auswirkungen für die Betroffenen gar nicht erst zulässt." Doch da die Abschiebungshaft zum "Handwerkszeug und Regelwerk" des Dublin-Systems gehöre, müsse sie auch durchgesetzt werden.

Weisen die Behörden die Zuständigkeit für die Flüchtlinge von sich, geht es zurück nach Italien. In Baden-Württemberg in der Regel vom Flughafen Stuttgart aus, denn auf dem Landweg nehmen weder die Schweiz noch Österreich Flüchtlinge auf. Endstation Ellwangen, wenn man so will: Weil die Dublin-Regeln in den meisten Fällen die Aufnahme im Land der Erstregistrierung vorsehen, setzt die grün-schwarze Landesregierung in Stuttgart auf Abschiebeflüge nach Italien.

Dass ein menschenwürdiges Leben für Flüchtlinge dort nicht gewährleistet ist, erfuhr Hönle eine Woche nach dem umstrittenen Großeinsatz. Der Ellwanger Bürgermeister hatte ihn und eine Delegation von LEA-Bewohnern ins Rathaus der Stadt geladen, um Verständnis auf beiden Seiten zu wecken. "Ich ­wusste nicht, was Italien für die vielen Männer und Frauen hier bedeutet", sagt Hönle über das Treffen – und äußert Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Dublin-Vorgaben. "Im Rahmen meiner Beratungspflicht habe ich meine politischen Vorgesetzten darum gebeten, dieses System zu überdenken."

Auch wegen dieser Erkenntnisse habe sich das Treffen "in der guten Stube der Stadt bei einem schwäbischen Hefekranz" gelohnt, sagt der Leiter der umstrittenen Razzia: "Erst da war der Einsatz für mich vorbei."

Für Lamin Mboge hingegen kommt die Angst vor der Abschiebung jeden Abend wieder.

 

* Name von der Redaktion geändert.

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