Amnesty Journal Deutschland 22. September 2017

Ehren, wem Ehre gebührt

Ein Mitarbeiter der Ausstellung "freedom roads", Berlin 2010, bereitet alternative Straßenschilder vor.

Neue Namen. Ausstellung in Berlin, 2010.

In Berlin tobt ein Streit um die Umbenennung von Straßen, mit denen Schlüsselfiguren der deutschen Kolonial­herrschaft gewürdigt werden.

Von Hannah El-Hitami

"Ein Schöffi, wie immer?" Es ist ein warmer Nachmittag im Berliner Stadtteil Wedding, genauer gesagt, im Afrikanischen Viertel. "Heute mal ein richtiges Bier, ein kleines", sagt die eben eingetroffene Frau und setzt sich zu den Stammgästen auf die Bierbank vor dem Löwenherz. Seit etwa einem Jahr betreiben Jasmina und Mike die Kneipe in der Lüderitzstraße. So heißt die gut 850 Meter lange Straße im Wedding schon seit 1902 – "zu Ehren des Begründers des deutschen Kolonialwesens", wie es in einem Brief des Polizeipräsidenten aus jener Zeit heißt.

Das soll sich nun ändern. Die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte (BVV) hat 2016 beschlossen, nicht länger Männer wie den Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz zu ehren, die in die Verbrechen der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika verstrickt waren. Viele Straßen und Plätze im Afrikanischen Viertel tragen die Namen ehemaliger deutscher Kolonien oder deutscher Kolonialbeamter, darunter der Nachtigalplatz – benannt nach dem einstigen Reichskommissar für Westafrika, Gustav Nachtigal – und die Petersallee, die die Nationalsozialisten 1939 nach dem auch als "Hänge-Peters" bekannten Begründer Deutsch-Ostafrikas, Carl Peters, tauften.

Auch sie sollen neu benannt werden, möglichst nach afrikanischen Widerstandskämpferinnen. Und statt Lüderitzstraße könnte künftig der Name der Herero-Freiheitskämpferin Anna Mungunda auf den Straßenschildern prangen.

"Totaler Blödsinn", findet Jasmina, die das Löwenherz mit ihrem Mann Mike betreibt. "Nicht nur für die Geschäftsleute ist das doppelte Arbeit und kostet Geld. Auch privat muss man alle Verträge ändern." Dass die Lüderitzstraße den Namen des sogenannten "Lügenfritzes" trägt, der die Nama an der Küste des heutigen Namibia 1883 um große Teile ihres Landes betrog, weckt bei ihr auch nicht mehr Verständnis für die Umbenennungspläne. "Wen interessiert das denn, wer da was vor 200 Jahren gemacht hat?", fragt Jasmina. Ein Stammgast pflichtet ihr bei: "Ich wohne seit 42 Jahren hier, und mich hat das noch nie gestört." Beim Anstoßen einigt man sich darauf, dass am besten alles so bleiben solle, wie es ist.

Dass alles so bleibt, wie es ist, wünscht sich auch Karina Filusch von der CDU. Die 30-jährige Juristin ist das junge, freundliche Gesicht der ­Initiative Pro Afrikanisches Viertel. Die Pläne der Bezirksverordnetenversammlung sind ihrer Meinung nach eine Zumutung für die Anwohnenden. "Für die Gewerbetreibenden wäre das katastrophal", so Filusch. "Wir haben mit einem Bäcker gesprochen, der extra eine Verkäuferin für einen Tag einstellen müsste, damit er sich um die ganzen Dokumente kümmern kann." Sie will die Straßen deshalb einfach umwidmen. Die Lüderitzstraße etwa würde künftig nicht an Adolf Lüderitz erinnern, sondern an die Hafenstadt ­Lüderitz in Namibia – übrigens auch benannt nach Adolf Lüderitz.

Vergessen-Wollen statt Aufarbeiten

Christian Kopp von der Initiative Berlin Postkolonial hält das für Etikettenschwindel, der "symptomatisch" sei für den Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte: "Das ist kein Vergessen, sondern ein Vergessen-Wollen, ein Nicht-wichtig-Nehmen, ein Wegschieben." Er fordert, die Umbenennungspläne in ein breit angelegtes Bildungsprojekt einzubinden. Auf Stelen und anhand von Führungen durch das Afrikanische Viertel solle über die deutschen Kolonien aufgeklärt werden. Nicht die Bedenken der Anwohnenden müssten dabei an erster Stelle stehen, sondern eine rassismuskritische Perspektive auf die deutsche Geschichte.

Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der 35-jährigen Kolonialpolitik des deutschen Kaiserreichs im heutigen Namibia, Togo, Kamerun, Tansania, Burundi und Ruanda, deren Bevölkerungen von 1884 bis 1919 enteignet, versklavt und einer rassistischen Gesetzgebung unterworfen wurden. Ausschlaggebend war die Berliner Afrika-Konferenz 1884/1885: Unter der Moderation Otto von Bismarcks teilten die europäischen Mächte, das Osmanische Reich und die USA den afrikanischen Kontinent unter sich auf. Legitimiert wurde die Unterwerfung durch die Forschung kolonialer Wissenschaftler, deren Rassentheorien später die Nationalsozialisten aufgriffen.

Rassismus schwinge auch in der Debatte um die Umbenennung der Straßennamen mit, sagt Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland:

"Die weiße Mehrheitsgesellschaft hat das Gefühl, dass ihr etwas von einer Minderheit diktiert wird. Schwarze Menschen sollen ihrer Meinung nach keine Vorschriften machen, was Sprache, Geschichte und Erinnerungskultur angeht."

Tahir
Della
Initiative Schwarze Menschen in Deutschland

Letztlich gehe es um Deutungshoheit – darum, woran man sich erinnert und auf welche Weise. An die deutsche Kolonialgeschichte erinnert man sich in Deutschland kaum. In den Schulbüchern und im öffentlichen Raum geht sie unter in der zeitlich und geografisch weitreichenderen Kolonialherrschaft Frankreichs und Großbritanniens. Oder sie steht im Schatten des Nationalsozialismus.

Wohl auch deshalb begann der Streit um die neuen Straßennamen Medien und Bewohner Berlins schon vor dem BVV-Beschluss 2016 zu beschäftigen. Seinerzeit berief Bezirksstadträtin Sabine Weißler eine Jury ein, die aus Vertreterinnen und Vertretern der schwarzen Community, aus Anwohnenden und BVV-Mitgliedern bestand. Am Ende blieben von 196 Vorschlägen sechs übrig, mit denen Persönlichkeiten des antikolonialen Widerstands geehrt werden sollten – anstelle von Adolf Lüderitz, Carl Peters und Gustav Nachtigal.

Erinnern bedeutet Verantwortung übernehmen

Doch dann wurde der Jury Intransparenz vorgeworfen, die Gegner der Umbenennung fühlten sich in ihrem grundlegenden Widerstand bestätigt. Im Juni schließlich beschloss die BVV, den Prozess der Namensfindung neu aufzurollen und die Vorschläge der Jury von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beurteilen zu lassen.

Die Emotionalität der Debatte zeigt, dass es um mehr als neue Personalausweise und Visitenkarten geht. "Die Kolonialgeschichte hat bis heute Auswirkungen, die das weltpolitische Geschehen ­bestimmen", sagt Della, der selbst in der Jury saß. "Wenn ich Deutschland als ­Akteur in diesem europäischen Projekt sichtbar mache, dann folgt natürlich Verantwortung. Dazu gehört, Entschädigungen zu zahlen, die Folgen zu mildern und Strukturen, die bis heute wirken, zu beseitigen." Dass im heutigen Namibia ein Genozid stattfand, hat die Bundesregierung inzwischen zwar anerkannt – ohne sich jedoch offiziell zu entschuldigen. Zehntausende Angehörige von Herero und Nama wurden zwischen 1904 und 1908 ermordet, weil sie sich gegen die Besatzer aufgelehnt hatten.

Die unzureichende Übernahme von Verantwortung dürfte ein Grund sein, weshalb so viele schwarze Aktivistinnen und Aktivisten sich vehement für eine Ehrung kolonialer Widerstandskämpferinnen und -kämpfer einsetzen. Und die mangelnde Aufklärung in Schulen und seitens der Politik erklärt vielleicht, weshalb viele Bewohner der Lüderitzstraße am Namen eines Mannes nichts auszusetzen haben, der für großes historisches Unrecht verantwortlich ist. Bis sich das nicht ändert, bleibt Lüderitz für die meisten nur ein Straßenname und Mungunda ein fremdartig klingendes Wort.

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