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Aufnahmeprogramm ohne Menschen
Das Aufnahmeprogramm des Bundes für Afghan*innen kam lange wegen Sicherheitsbedenken nicht in Gang. Dabei ist es nötiger denn je.
von Theresa Bergmann
Zaman Sultani, Afghanistan-Experte von Amnesty International, war schon beunruhigt, als die Taliban noch weit von Kabul entfernt waren. Dennoch überraschte es auch ihn, dass die Hauptstadt so schnell an die Taliban fiel. Die Machtübernahme Mitte August 2021 versetzte unzählige Menschen in Angst; Bilder des Kabuler Flughafens voller Leute, die das Land verlassen wollten, gingen um die Welt. Sultani war mittendrin: "Ich war am Flughafen gestrandet. Tage und Nächte ohne Essen und Wasser, inmitten von Schusswechseln. Ich sah Menschen von den Tragflächen der Flugzeuge fallen." Schließlich gelang es ihm, einen Flug nach Katar zu bekommen.
Im April 2021 hatte die NATO verkündet, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Die Sicherheitslage verschlechterte sich daraufhin schnell. Um besonders gefährdete Menschen zu evakuieren, blieb nach der Rückkehr der Taliban weniger Zeit als erwartet. Die Luftbrücke der Bundeswehr musste zwölf Tage nach der Machtübernahme abgebrochen werden. Deutschland evakuierte in diesem Zeitraum 5.400 Personen – deutsche und andere ausländische Staatsbürger*innen sowie schutzsuchende Afghan*innen. Zahllose gefährdete Menschen blieben jedoch zurück.
Zusicherung machte Hoffnung
Auch für sie wollte die Bundesregierung Verantwortung übernehmen, das kündigte das Auswärtige Amt an, als die Luftbrücke endete. Im Koalitionsvertrag der im September 2021 gewählten Regierung hieß es schwarz auf weiß: Es würde auf Bundesebene ein humanitäres Aufnahmeprogramm für Afghanistan geben. Eine Zusicherung, die gefährdeten Afghan*innen Hoffnung machte und einer Forderung deutscher Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nachkam. Deutschland ist bis heute das einzige Land mit einem solchen Aufnahmeprogramm.
Die Bundesregierung sagte bisher die Aufnahme von mehr als 40.000 ehemaligen Ortskräften und gefährdeten Afghan*innen einschließlich ihrer Angehörigen zu, etwa 30.000 von ihnen kamen bereits nach Deutschland. Das geschah allerdings im Rahmen der Aufnahme von ehemaligen Ortskräften oder nach Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes und nicht im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms, das es offiziell seit Oktober 2022 gibt. Denn dieses Programm, das monatlich rund 1.000 Afghan*innen aufnehmen soll, die aufgrund ihrer Tätigkeit, Religion, sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität als gefährdet gelten, stockte bis Ende Juni, obwohl sich die menschenrechtliche Lage in Afghanistan weiter dramatisch verschlechtert. Erst am 26. Juni 2023 nahm die Bundesregierung die Sicherheitsbefragungen von Afghan*innen mit einer Aufnahmezusage für Deutschland in der Botschaft in Islamabad wieder auf. Die Wiederaufnahme der Ausreisen soll nun schrittweise erfolgen und zunächst die Personen berücksichtigen, die bereits seit Wochen und Monaten in Pakistan und Iran auf eine Ausreise gewartet haben.
Neben Zustimmung gab es von Anfang an Kritik: Zugang zu diesem Programm haben ausschließlich Personen, die noch in Afghanistan sind, eine Antragstellung aus Drittstaaten wie Iran oder Pakistan ist nicht möglich. Dies setzt einen gefährlichen Anreiz, in Afghanistan zu bleiben. Die Regierung arbeitet eng mit NGOs zusammen, die besonders gefährdete Personen vorschlagen sollen. Die NGOs machen mit, haben jedoch mehrfach darauf hingewiesen, dass es die Pflicht des Staates sei, gefährdete Personen auszuwählen. Zwar ist mittlerweile eine zivilgesellschaftliche Koordinierungsstelle mit der Prüfung von Fällen beauftragt worden, doch noch immer landet ein Großteil der Hilferufe bei den NGOs. Wichtiger noch: Das "Vorschlagsrecht" der NGOs steht in der Kritik, weil gefährdete Afghan*innen auf eine NGO hoffen müssen und sich nicht selbst um eine Aufnahme bemühen können. Mehr als 70 deutsche NGOs arbeiten derzeit mit dem Aufnahmeprogramm zusammen.
Seit dem 30. März 2023 werden die Hilferufe lauter, denn das Auswärtige Amt erklärte überraschend, alle Visaverfahren für Afghan*innen würden ausgesetzt, da "eine Optimierung der Sicherheitsprozesse" vorgenommen werden müsse. Zuvor hatte die Zeitschrift Cicero über mutmaßlichen Visamissbrauch berichtet. In mehreren Artikeln, die auf ein vertrauliches Schreiben des deutschen Botschafters in Pakistan Bezug nahmen, schrieb das Monatsmagazin, dass "zahlreiche Islamisten und Sharia-Gelehrte" das Aufnahmeprogramm unterwandern würden.
Das Schreiben des Botschafters erhob Vorwürfe gegen die Kabul Luftbrücke und andere NGOs, Personen für eine Aufnahme vorgeschlagen zu haben, die nicht gefährdet seien. Außerdem gebe es Hinweise, dass "Gefährdungsanzeigen gegen Geldzahlungen erstellt wurden". NGOs würden "ihre eigene Agenda verfolgen"; die Öffentlichkeit erhalte falsche Informationen, schrieb Cicero. AfD-nahe Weblogs und seriöse Medien griffen dies auf. So fanden die "Sharia-Richter" ihren Weg in die Berichterstattung.
Das Märchen der "Sharia-Richter"
Eine Mitarbeiterin der Kabul Luftbrücke, die anonym bleiben möchte, sprach mit Amnesty über diese Vorwürfe. "Unsere Arbeit wurde mit der größtmöglichen Sorgfalt durchgeführt", sagt sie. Der Begriff "Sharia-Richter" sei irreführend, "Sharia-Recht" sei auch vor der Taliban-Herrschaft ein elementarer Bestandteil des afghanischen Rechtssystems gewesen und gehöre zwingend zur Ausbildung von Jurist*innen. Eine Zeit lang eine Madrassa oder eine ähnliche Einrichtung besucht zu haben, sei eine der Voraussetzungen, um in Afghanistan Anwält*in, Staatsanwält*in oder Richter*in zu werden.
Waren die Personen, die die Kabul Luftbrücke unterstützt hat, denn tatsächlich gefährdet? "Die Anzeichen einer Gefährdung für diese Personen waren unglaublich hoch", sagt die Mitarbeiterin. Viele dieser Menschen oder ihre Angehörigen hätten Attacken erlebt. So sei das Haus der Familie eines Staatsanwalts von den Taliban angezündet worden, eine Staatsanwältin wurde mit einem Messer angegriffen und der Sohn eines Richters entführt und gefoltert. "Die Taliban nehmen solche Menschen ins Visier."
Auch Amnesty hat Erkenntnisse über die Brutalität der Taliban gegen ihre "vermeintlichen Feinde" gesammelt. In einem Bericht von August 2022 spricht die Organisation von einer "Menschenrechtskrise von noch nie dagewesenem Ausmaß". Vor allem ehemalige Beamt*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Frauenrechtsaktivist*innen würden unter den Taliban entrechtet. Amnesty legt den Taliban unter anderem Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last.
Den Prozess der Visavergabe zu überarbeiten, findet die Kabul Luftbrücke sogar nachvollziehbar. Tilly Sünkel, eine andere Mitarbeiterin der NGO, betont, man habe selbst eine Überarbeitung der Sicherheitsüberprüfung im Hinblick auf menschenrechtliche Standards gefordert. Nun aber befänden sich Afghan*innen oft in einer drastischen Lage, insbesondere wenn sie nach einer Zusage aus Deutschland "bereits nach Iran oder Pakistan gereist sind und jetzt nicht weiterreisen können". Aktuell unterstützt die Kabul Luftbrücke 150 Personen, die sich in einer solchen Situation befinden.
Schaden richte auch das Gerücht an, NGOs hätten gegen Geld Gefährdungseinschätzungen vorgenommen. Der Ruf der NGOs sei beschädigt worden. Vor allem aber seien es "gefährdete Afghan*innen, die unter der Berichterstattung gelitten haben", sagt Tilly Sünkel. Sie hätten keine Möglichkeit, ihre Situation richtigzustellen.
Wo von den Taliban verfolgte Jurist*innen auf der Suche nach Schutz zu "Sharia-Richtern" umgedeutet werden, da entsteht eine von Rassismus untermauerte Falschberichterstattung. Perfide ist dabei, dass nun NGOs beschuldigt werden, die stets darauf hingewiesen haben, der Staat selbst müsse "Gatekeeper" seines Aufnahmeprogramms sein. Bei Pannen und Verzögerungen des Programms dürfen auf keinen Fall die gefährdeten Afghan*innen die Leitragenden sein. Das Programm muss nun richtig anlaufen, damit sie endlich den Schutz bekommen, den die Bundesregierung versprochen hat.
Theresa Bergmann ist Asien-Expertin bei Amnesty Deutschland.