DEINE SPENDE KANN LEBEN RETTEN!
Mit Amnesty kannst du dort helfen, wo es am dringendsten nötig ist.
DEINE SPENDE WIRKT!
MENSCHENRECHTE SCHÜTZEN!
Wir setzen uns für den Schutz von bedrohten Aktivist*innen ein, stellen klare Forderungen an die Politik.
UNTERSTÜTZE UNSERE ARBEIT MIT DEINER SPENDE.
Argentinisches Theater: Erfahrungen, die zu Bildern werden

Die argentinische Regisseurin Lola Arias im September 2024 (San Sebastián, Spanien)
© Ander Gillenea / AFP / Getty Images
Das dokumentarische Theater der argentinischen Regisseurin Lola Arias gibt gesellschaftlichen Realitäten und ihren Protagonist*innen eine Bühne.
Von Eva-Christina Meier
Mit einem Kaffeebecher in der Hand kommt Lola Arias eilig ins Foyer des norwegischen Nationaltheaters gestürmt. Sie begrüßt mich herzlich, und wir nehmen Platz im historisch-plüschigen Ambiente des Schauspielhauses, um die knappe Zeit zwischen den Theaterproben zum Gespräch zu nutzen. Die argentinische Regisseurin erwartet an diesem Wochenende ein dichtes Programm. Sie ist nicht nur mit einem neuen Stück nach Oslo gekommen, sondern nimmt dort auch den Ibsen-Preis in Empfang. Es ist das erste Mal, dass der hochdotierte Theaterpreis des norwegischen Staates an eine Dramatikerin aus Lateinamerika geht.
Bei der Preisverleihung sagt Lola Arias in ihrer Rede: "Ich danke der Jury, das sie damit das Licht auf eine Frau aus Argentinien richtet, wo aktuell die rechtsextreme Regierung von Javier Milei das Bildungswesen, das Gesundheitswesen, die nationale Industrie, die Kunst und die Kultureinrichtungen zerstört und Tausende Menschen in ein Leben unterhalb der Armutsgrenze drängt."
Zärtlichkeit im Gefängnis
Die 1976 in Buenos Aires geborene Autorin, Regisseurin und Musikerin steht für ein engagiertes dokumentarisches Theater. Ihr Interesse gilt Menschen, die auf der Bühne üblicherweise nicht sichtbar sind. Mit deren Erfahrungen zu arbeiten, bedeutet für Arias, zuzuhören, die entscheidenden Worte festzuhalten und dafür Bilder zu finden. Zu einer Art Verstärker dieser Stimmen zu werden, ist für sie die Herausforderung.
Ihr jüngstes Theaterstück "Los días afuera / The days out there" veranschaulicht diese künstlerische Praxis besonders eindrücklich. In dem dokumentarischen Musical verhandeln Carla, Estefanía, Nacho, Noelia, Paulita und Yoseli ihr Leben nach der Entlassung aus einem argentinischen Frauengefängnis, in dem sie, meist wegen Drogen- oder Betrugsdelikten, jahrelang einsaßen. Auf der Bühne berichten, singen und performen die sechs Protagonist*innen über die Schwierigkeiten, als vorbestrafte cis und trans Personen ihren Platz in der Gesellschaft draußen zu finden.
Damit knüpft Lola Arias an ihr Filmmusical "Reas" an, das 2024 auf der Berlinale Premiere feierte. Es entstand in den Ruinen von Caseros, einem ehemaligen Gefängnis am Stadtrand von Buenos Aires und berüchtigten Folterzentrum während der argentinischen Militärdiktatur. Das Drehbuch der Regisseurin, das Gewalt und Willkür, aber auch Momente der Zärtlichkeit und Solidarität im Gefängnisalltag thematisiert, basiert auf den Erfahrungen entlassener Häftlinge, die ihr Gefängnisleben in "Reas" selbst tanzend und singend darstellen.
Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit während der Dreharbeiten und vielleicht auch die Sorge, sie müssten bald wieder in ihr früheres Leben in prekären Verhältnissen zurückkehren, weckten bei den Beteiligten den Wunsch, weiterzumachen. Ihre Energie überzeugte die Regisseurin, die gemeinsame Arbeit mit einem Theaterstück fortzusetzen. Seit der Premiere in Buenos Aires tourt "Los días afuera / The days out there" nun erfolgreich durch Europa. Doch Lola Arias räumt ein, dies sei das mit Abstand schwierigste Projekt ihrer bisherigen Laufbahn. Auch sei sie sich der besonderen Verantwortung bewusst, mit Menschen zu arbeiten, die besonders verwundbar sind. So mussten zuvor unter anderem Aufenthaltstitel legalisiert, Bankkonten eröffnet und Babysitter organisiert werden.
Aber was kommt für die Beteiligten nach dem Stück? Diese Frage wird der argentinischen Regisseurin oft gestellt. In Oslo gibt sie darauf eine fast beschwörende Antwort: "Das Leben ist danach nicht mehr dasselbe: Sie haben ihre Lebensgeschichte neu geschrieben und mit der Welt geteilt. Sie haben eine Distanz geschaffen, die es ihnen möglich macht, sich von außen zu betrachten. Aber das Leben geht weiter."
In gemeinsamen Produktionen mit Stefan Kaegi, Mitbegründer des deutsch-schweizerischen Theaterkollektivs Rimini Protokoll, begann Lola Arias 2006 mit nichtprofessionellen Schauspieler*innen zu arbeiten. Es war für sie der Abschied vom fiktionalen Theater. Bis heute gefällt ihr der Gedanke, dass Theater einen Raum schafft, in dem unterschiedliche Lebensrealitäten und Perspektiven aufeinandertreffen können.
Ihr erstes dokumentarisches Stück "Mi vida después" (Mein Leben danach) inszenierte Lola Arias 2009 in Buenos Aires mit Angehörigen von Opfern und Täter*innen der argentinischen Militärdiktatur, basierend auf deren Familienerinnerungen. 2016 interviewte sie britische und argentinische Veteranen des Falklandkriegs und brachte die ehemaligen Gegner anschließend in "Campo Minado" (Minenfeld) auf der Bühne zusammen.
Ensemble junger Geflüchteter auf der Bühne
Obwohl die Argentinierin das kollektive Arbeiten schätzt, das den Theaterbetrieb in Buenos Aires kennzeichnet, ist sie vor ein paar Jahren mit ihrer Familie, dem argentinischen Schriftsteller Alan Pauls und dem gemeinsamen Sohn nach Berlin gezogen, weil sich hier Möglichkeiten für größere Produktionen boten. Am Gorki Theater entwickelte sie mit einer Gruppe von unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen 2019 das Stück "Future Land". Dieses Projekt hat ihre Theaterarbeit nachhaltig geprägt. Zu Beginn der Proben waren die Heranwachsenden, die aus Afghanistan, Syrien, Somalia, Guinea und Bangladesch nach Deutschland gekommen waren, erst elf, zwölf oder dreizehn Jahre alt.
Das Science Fiction-Stück entstand aus den Exilerfahrungen der Jugendlichen, die sich eine Zukunft vorzustellen versuchten. Als "Future Land" nach fünf Jahren, Anfang 2024, zu Ende ging, waren einige der Beteiligten schon volljährig. "Das ist ein langer Lebensabschnitt, in dem sie von einem Netzwerk von Menschen begleitet wurden, die sich darum gekümmert haben, wie es ihnen geht, wie ihre Wohnsituation ist und was in der Schule passiert", sagt die Regisseurin. Sie ist überzeugt, dass die gemeinsam verbrachte Zeit viel dazu beitragen konnte, Potenziale zu entdecken und Vertrauen zu schaffen.
Auch nach Oslo ist Lola Arias nicht allein gekommen. Am Vorabend der Preisverleihung geben die sechs Protagonist*innen von "Los días afuera / The days out there" zwei intensive Vorstellungen im norwegischen Nationaltheater. Erschöpft feiert das gesamte Produktionsteam anschließend mit einem kleinen Umtrunk. Ein Baby, das auf der Tour mitreist, wird zwischen den Ensemblemitgliedern herumgereicht. Es gibt Hot Dogs, Bier und Limonade. Im Hintergrund spielt leise Musik. Selbstvergessen beginnen alle, unter den Kronleuchtern ein paar Takte zu tanzen. Für einen flüchtigen Moment entsteht ein Bild tiefer Verbundenheit.
"Letztlich", sagt die argentinische Regisseurin, "ist Theater eine etwas komplexe Art und Weise, Familie zu erweitern und Zeit mit Menschen zu verbringen, um sich in einem fensterlosen Raum Dinge vorzustellen."
Termine der Aufführungen: "Reas", 2. April 2025, Kino des DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt am Main. "Los días afuera / The days out there", 3. und 4. April 2025, Mousonturm, Frankfurt am Main, sowie am 18. und 19. April im Maxim Gorki Theater Berlin.
Eva-Christina Meier ist Journalistin, Fotografin und Kuratorin. Sie berichtet über Bildende Kunst, Literatur und Film – mit Schwerpunkt Lateinamerika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.