Amnesty Journal Afghanistan 28. August 2019

Rückkehr in Schuld und Scham

Blick über die sandige Straße einer Stadt, vereinzelt Menschen, dahinter Berge im Dunst

Blick über Kabul im April 2019.

Aus Deutschland abgeschobenen Afghanen droht am Hindukusch soziale Ausgrenzung – und die Gefahr, entführt zu werden.

Von Theresa Breuer, Kabul (Text und Fotos)

Naghibollah versucht, seine Tränen zu verstecken. Es gelingt ihm nicht. Mit dem Arm, auf dem sich vier tiefe Schnittwunden abzeichnen, wischt er sich über die Augen. Er blickt aus dem Autofens­ter auf Kabul, die afghanische Hauptstadt. Aus Sicht der deutschen Behörden ist das Naghibollahs Heimat. Doch der junge Mann kennt Kabul nicht, fühlt sich einsam und verloren. "Das ist nicht mein Zuhause", sagt er. Wieder laufen ihm Tränen über die Wangen.

Vier Monate ist es nun her, dass die Polizei vor der Tür seiner Wohngemeinschaft in Leipzig stand – um ihn zum Flughafen zu bringen, von wo er abgeschoben werden sollte. Naghibollah, 24 Jahre alt, war verwirrt und schockiert. Dass er Deutschland verlassen sollte, habe er schon gewusst. Aber sein Anwalt habe ihm noch kurz zuvor versichert, dass sich seine Duldung sicherlich verlängern ließe, erzählt er.

Doch dann sollte es plötzlich ganz schnell gehen. Zwanzig Minuten, sagt Naghibollah, hätten ihm die Beamten gegeben, um das Nötigste zu packen. Wie benommen sei er in sein Zimmer geschlichen. Nicht, um zu packen, sondern, um sich die Pulsadern aufzuschneiden. In seinen Sachen habe er gewühlt, ein Küchenmesser gefunden, sich auf sein Hochbett gesetzt und begonnen, sich in den Arm zu ritzen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Bis zum Ellbogen reichen die Schnitte.

Die Beamten versuchten, die Blutung zu stoppen und die ­Situation unter Kontrolle zu bringen. Doch Naghibollah weinte und schrie, außer sich vor Verzweiflung. Er wollte sich nicht von seinen Freunden trennen, mit denen er zusammenwohnte. Von seiner Verlobten, die er in Leipzig im Deutschkurs kennengelernt hatte. Und nicht von seinem Traum, in Deutschland ein ­Leben in Frieden und Sicherheit zu führen.

Doch Naghibollah hatte keine Chance. Seine Mitbewohner riefen einen Krankenwagen, Sanitäter brachten ihn in ein Krankenhaus. Fast vierzig Stiche brauchten die Ärzte, um seine Wunden zu nähen. Für reisetauglich erklärten die Beamten ihn trotzdem – schließlich seien die Verletzungen nicht lebensgefährlich. Zeit zu packen hatte Naghibollah nun keine mehr. In Handschellen wurde er von der Polizei zum Flughafen gebracht. Weil er sich selbst verletzt hatte, galt er als Risiko. Um kurz nach 22 Uhr startete die Maschine aus Düsseldorf, ohne dass Naghibollah sich verabschieden konnte.

Die Ankunft in Kabul knapp eine Woche später war für den Mann ein Schock. Er wusste nicht, wohin. Lief vom Flughafen in die Stadt, orientierungslos. Die erste Nacht schlief Naghibollah in einem Park, in der zweiten in einer Moschee. Seine Familie lebt in Kundus, 335 Kilometer von Kabul entfernt. Immer wieder versuchen die Taliban, die Stadt einzunehmen. Dorthin kann und will Naghibollah nicht zurück. Ihretwegen sei er schließlich einst geflohen. Er sagt, die Taliban hätten seinen Vater bedroht: Entweder, er gebe seine Söhne zu den Kämpfern, oder sie würden ihn umbringen. "Ich habe zu viel Angst, nach Kundus zu gehen", sagt Naghibollah.

Inzwischen ist er in Kabul bei einem Freund seines Vaters untergekommen. Wenn man ihn fragt, wie es nun weitergehe, antwortet er immer gleich: "Ich weiß es nicht." Er hat weder einen Job noch einen Bezug zu Kabul. Die meisten Tage wirkt er resigniert und traurig. Nur manchmal schimmert Hoffnung durch:""Meinst Du, ich kann zurück nach Deutschland?", fragt er dann schüchtern.

Ein dunkelhaariger Mann sitzt auf einem rasen und blickt auf sein iPhone.

Naghibollah Shirzad am Telefon mit seiner Verlobten in Deutschland, Kabul, Mai 2019.  

Chancen dafür gibt es allerdings kaum. Wer nach Afghanis­tan abgeschoben wird, für den gilt in der Regel ein Einreiseverbot in den Schengen-Raum für bis zu fünf Jahre. Seit 2016 sind mehr als 600 Afghanen aus Deutschland in ihr Heimatland abgeschoben worden, allein 2018 waren es 284. Naghibollah ist einer von 30 Männern, die es am 24. April 2019 traf. In seiner Maschine, die aus Düsseldorf startete, saßen auch Straftäter. Es war die 23. Sammelabschiebung seit dem ersten Flug im Dezember 2016; inzwischen sind es 26.

Der Tod ist allgegenwärtig

In einem Bericht des Auswärtigen Amts von 2018 heißt es, dass die Sicherheitslage in Afghanistan weiterhin volatil sei; in dem Land mit seinen rund zwanzig unterschiedlichen ethnischen Gruppen herrsche die höchste Konzentration an bewaffneten Widerstands- und Terrororganisationen weltweit. Trotzdem stuft die Bundesregierung Afghanistan weiterhin als sicheres Herkunftsland ein. Das aber ist es mitnichten: Seit die Vereinten Nationen 2009 begannen, die zivilen Todesopfer in Afghanistan zu zählen, waren es 2018 mehr als je zuvor. Mehr als 3.800 Menschen wurden bei Anschlägen und Kampfhandlungen getötet, mehr als 7.100 verletzt. In Kabul gehen wöchentlich Bomben hoch; Aufständische greifen Gebäude der Regierung oder internationaler Organisationen an, Selbstmordattentäter sprengen sich in die Luft. Der Tod ist in der afghanischen Hauptstadt allgegenwärtig.

Wer Kabul kennt, versteht, weshalb Menschen hier weg wollen. Es ist nicht allein die Gewalt. Es ist auch die hohe Arbeitslosigkeit. Die Hoffnungslosigkeit, dass sich in naher Zukunft die Situation im Land verbessern könnte. Noch immer haben viele Migranten außerdem falsche Vorstellungen von Europa. Sie denken, dass man sie dort mit offenen Armen empfangen würde. Oft werden sie aber auch von Verwandten unter Druck gesetzt, Geld nach Hause zu schicken. Manche träumen auch einfach nur von einem besseren Leben.

Ein Mann sitzt auf einer Couch und sieht aus einem Fenster.

 Jawid Sherzai im April 2019 in Kabul.

So wie Jawid Sherzai. Weil es für den 24-Jährigen zu gefährlich wäre, mit einer Ausländerin gesehen zu werden, treffen wir uns in meiner Wohnung. Schließlich könnten sich Nachbarn bestätigt fühlen in dem, was einige vermuten: dass sich die Männer in Europa unislamisch verhalten hätten. Einige stehen im Verdacht, Alkohol getrunken oder sich mit jungen Frauen getroffen zu haben. Verbrecherbanden könnten außerdem davon ausgehen, dass man Geld habe, wenn man Kontakt zu Menschen aus dem Westen hat. Das macht Rückkehrer zum Ziel von Entführungen.

Sherzai gibt zu, dass er naiv gewesen sei, als er sich vor zwei Jahren auf den Weg nach Deutschland machte. 13.000 US-Dollar hatte er sich von Verwandten geliehen, drei Monate lief er durch ein halbes Dutzend Länder – nur, um am Ende in einem Auffanglager 16 Monate gelangweilt darauf zu warten, wieder abgeschoben zu werden. Jetzt sitzt er auf den Schulden, wohnt bei entfernten Verwandten, weil er seiner eigenen Familie nicht ­unter die Augen treten kann. "Ich habe Schande über sie gebracht", sagt er.

Grauschleier über der Stadt

Für die Rückkehrer ist es oft ein Schock, nach Afghanistan zurückzukehren. Sie alle landen in Kabul. Die afghanische Hauptstadt kann ein düsterer Ort sein. Sie liegt in einem Tal ­umgeben von Bergen. Der Verkehr staut sich von morgens bis abends, und der Smog der Abgase hängt wie ein grauer Schleier über der Stadt. Abwasser fließt durch offene Kanäle. Müll liegt in den Straßen. Jahrzehnte der Gewalt und anhaltende Kämpfe zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften haben die Einwohner traumatisiert und Misstrauen in der Gesellschaft gesät. An unzähligen Checkpoints kontrollieren Polizisten Fahrzeuge auf Sprengstoff und Waffen. Betonmauern versperren den Zutritt zu vielen Gebäuden.

Dazu kommt die Armut. Kaum eine Straßenecke, an der nicht ein Kind, ein verstümmelter Mann oder eine Frau in Burka bettelt. Unter Brücken und auf kleinen Grünflächen zwischen Straßen sitzen Opium- und Heroinsüchtige. Es riecht nach Kot und Urin. Tagelöhner warten am Rand von Märkten darauf, für kleine Arbeiten engagiert zu werden. Oft vergeblich.

Es gibt Organisationen, die sich um Abgeschobene kümmern, aber nicht viele. Wer freiwillig zurückkehrt, bekommt längerfristige Unterstützung und hat die Möglichkeit, sich legal um die Wiedereinreise zu bemühen. Die wenigsten Afghanen nehmen diesen Anreiz in Anspruch, und so wird die Mehrheit noch immer unter Zwang abgeschoben.

Ein Mann in weißer Kleidung in einem Garten.

 Matiullah Azizi in Kabul  

Garantiert ist den unfreiwilligen Rückkehrern nur die Unterstützung der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Sie empfängt die Rückkehrer am Flughafen, wo sie 12.500 Afghani in bar ausgezahlt bekommen, rund 140 Euro. Das ist genug Geld, um sich für die ersten Nächte ein Hotel zu suchen, etwas Essen zu kaufen oder ein Busticket in die Heimatprovinz. Früher hat die IOM die Rückkehrer noch in einem Hotel untergebracht. Doch die vielen Abschiebungen – vor allem aus der Türkei – bringen die Organisation an ihre Grenzen. Als sich 2018 ein 23-jähriger aus Deutschland abgeschobener Afghane in dem Hotel erhängte, entschied man, es den Rückkehrern selbst zu überlassen, wo sie übernachten möchten.

Viele Rückkehrer kommen nicht aus Kabul, aber sie können oder wollen nicht in ihre Heimatprovinzen zurück. Etwa die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt in Gebieten, die teilweise von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die ­Taliban offen präsent sind. Viele Rückkehrer fürchten sich, als vermeintlich Ungläubige zur Zielscheibe zu werden. Viel ausschlaggebender ist jedoch ein anderer Grund: Scham. Vor allem junge Männer fühlen bei ihrer Rückkehr Scham, weil Verwandte glauben, sie hätten sich kriminell verhalten und wären deshalb abgeschoben worden. Scham, weil sie sich viel Geld von Verwandten für die Flucht geliehen haben, das sie nicht zurück­zahlen können. Scham, weil sie die Erwartungen ihrer Familien enttäuscht haben.

Spirale der Verzweiflung

Matiullah Azizi kennt das Gefühl nur zu gut. Der 25-Jährige ist im Dezember 2016 abgeschoben worden, nach sieben Jahren in Deutschland. Zwei Jahre hat er danach in Kabul im psychosozialen Dienst der Organisation IPSO (International Psychosocial Organisation) gearbeitet, die Rückkehrer unterstützt. Das, was Matiullah nach seiner Abschiebung erlebt hat, berichten ihm auch andere Rückkehrer: Wie Verwandte nicht glaubten, dass man sich nichts zuschulden habe kommen lassen. Dass man ­sicherlich Gesetze in Deutschland gebrochen habe. "Es ist so ­demütigend", sagt Matiullah.

Diese Demütigung birgt die Gefahr, dass die Rückkehrer Teil der Spirale werden, die sie einst zur Flucht trieb: Sie werden drogenabhängig, vereinsamen oder schließen sich kämpfenden Gruppen wie den Taliban oder dem Islamischen Staat an.

Im Garten meiner Wohnung erzählt Matiullah, dass er ­eigentlich nie nach Deutschland wollte. Er habe das Leben auf dem Land in Afghanistan geliebt. Als kleiner Junge ließ er Drachen steigen, genoss die Natur. Doch eines Tages begann seine Familie, Drohungen von den Taliban zu erhalten, weil sein ­Vater als Fahrer für das US-Militär arbeitete. Obwohl die Familie nach Kabul floh, attackierten die Taliban eines Tages den Wagen seines Vaters. Schwer verbrannt lag er wochenlang im Krankenhaus. Das Geld der Familie wurde immer knapper, auch Verwandte konnten nicht ewig helfen. Eines Tages befahl ein Onkel Matiullah, seine Sachen zu packen. Er war der älteste Sohn in der Familie. Er sollte nun nach Deutschland gehen, um dort ­Arbeit zu finden. Er übergab seinen Neffen 2009 an einen Schmuggler, der ihn erst in den Iran brachte. Von dort ging es weiter nach Europa. Matiullah war zu dem Zeitpunkt 14 Jahre alt.

Auch zehn Jahre später erinnert er sich an jede Station der Flucht. Und an seine Furcht, als er sich mit anderen Männern in einen Kofferraum zwängen musste. An seine Einsamkeit, wenn sie bei Schnee Grenzen überquerten. Und wie sehr er seine Familie vermisste, von der er noch nie getrennt war.

"In Deutschland aber fing mein Leben dann an", sagt er und lächelt. Der Junge kam in ein Projekt für unbegleitete minderjährige Ausländer in Hasselroth, wo er seinen Hauptschulabschluss machte. Danach begann er eine Ausbildung in Hanau als Fachkraft im Gastgewerbe. Das Restaurant, in dem er arbeitete, stellte ihn nach seiner Ausbildung an. Sein Chef half ihm, eine Wohnung zu finden. Auch eine Freundin hatte er zu der Zeit. Und nicht nur genug Geld, um endlich seine Familie in Kabul zu unterstützen, sondern auch, um sich zum ersten Mal in seinem Leben Dinge zu leisten. "Ich habe den Style in Europa geliebt", sagt er und grinst, während er auf seinem Handy Bilder von damals zeigt. Heute, in Kabul, trägt er wieder traditionelle afghanische Kleidung. In seinem Dorf ist es besser, nicht aufzufallen.

"Es ist die Ohnmacht, die einen fertig macht", sagt er, als er über seine Abschiebung spricht. Auch für ihn ging es am Ende ganz schnell. Sieben Polizisten, erinnert er sich, seien damals in das Restaurant in Hanau gekommen. Matiullah hatte noch eine Pizza im Ofen. "Du hast nichts falsch gemacht, du zahlst Steuern, du hältst dich an die Gesetze, und trotzdem schicken sie dich zurück", habe er sich immer wieder gesagt. Dass die Beamten ihm nicht einmal Zeit ließen, seine Pizza aus dem Ofen zu holen, war für ihn die größte Demütigung. Seit seiner Rückkehr 2016 vergeht kaum ein Tag, an dem er sich nicht nach Deutschland zurücksehnt. Und an dem er sich nicht fragt, warum es ausgerechnet ihn getroffen hat.

Ein Marktplatz mit Menschen, im Vordergrund ein Sonnenschirm, am Himmel ein Hubschrauber

Marktplatz in Kabul (Archivaufnahme 2019)

Persönliche Schicksale - Abschiebung nach Afghanistan

Weitere Artikel