Aktuell Kultur Vereinigte Staaten von Amerika 20. April 2022

"Guantánamo hat mein Grundvertrauen in rechtsstaatliche Sicherungen erschüttert"

Das Bild zeigt einen Mann und eine Frau, im Hintergrund das Kapitol in Washington, USA

Die Schauspieler_innen Alexander Scheer (als Rechtsanwalt Bernhard Docke) und Meltem Kaptan (als Rabiye Kurnaz) im Film "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush"

Mehr als vier Jahre lang musste Murat Kurnaz aus Bremen im US-Gefangenenlager in Guantánamo Folter und Misshandlung erleiden bis er schließlich 2006 freigelassen wurde. Maßgeblich zu seiner Freilassung beigetragen haben sein Rechtsanwalt Bernhard Docke sowie die Mutter von Murat Kurnaz, Rabiye Kurnaz. Der Film "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush", der auf der diesjährigen Berlinale zweifach ausgezeichnet wurde und ab 28. April 2022 in Kinos in Deutschland zu sehen ist, porträtiert den unermüdlichen Einsatz der beiden für Murat Kurnaz' Freilassung. 

Herr Docke, der Film "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" beschreibt, wie Sie sich zusammen mit Rabiye Kurnaz für die Freilassung von Murat Kurnaz stark machen. Finden Sie den Film gelungen? 

Ja, ausgesprochen. Es ist nicht einfach, diese langen fünf Jahre und die komplexen Probleme auf zwei Stunden zu kürzen. Der Film vermittelt alle wesentlichen Botschaften, so zum Beispiel die zentrale Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und des Folterverbots. Dem Regisseur ist es außerdem gelungen, eine gute Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Humor zu finden.

Welche Bedeutung hat die filmische Aufarbeitung des Falls für die Familie Kurnaz?

Rabiye Kurnaz hat Außerordentliches für ihren Sohn geleistet, sie hat sehr gelitten. Bisher wurde ihre Perspektive nur wenig beleuchtet. Deswegen freut es mich sehr, dass ihr Einsatz eine solche Würdigung erfährt. Vor kurzem waren wir in der Türkei, wo der Film das Istanbuler Filmfestival 2022 eröffnet hat. Ich glaube, er wurde dort auch als Mutmacher begriffen. Weil er darin bestärkt, gegen Folter und für Menschenrechte einzutreten, selbst wenn die Situation ausweglos scheint.

Die US-Behörden waren schon früh von Murat Kurnaz' Unschuld überzeugt, dennoch blieb er jahrelang in Guantánamo unter menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert. Wie konnte das passieren?

Wie wir erst viel später erfuhren, wurde er von amerikanischer Seite bereits im September 2002 für unschuldig befunden und Deutschland zur Überstellung angeboten. Nachdem sich Deutschland unverständlicherweise geweigert hatte, ihn zurückzunehmen, blieb er in Guantánamo. Bis zu seiner Entlassung im August 2006 wurde er weiterhin gefoltert, die Standardprozedur.  

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Worin bestanden für Sie als Rechtsanwalt die Schwierigkeiten und Herausforderungen im Fall Kurnaz?

Es war die schwierigste Ausgangsposition, die man sich vorstellen kann: US-Präsident George W. Bush, der mächtigste Mann der Welt, hatte mit Guantánamo einen künstlichen rechtsfreien Raum geschaffen. Infolgedessen war mein ganzes rechtsstaatliches Instrumentarium, um meinen Mandaten zu verteidigen, komplett entwertet. Ich hatte keinen Kontakt zu Murat Kurnaz, wusste nicht, was ihm vorgeworfen wurde. Es gab weder Staatsanwaltschaft noch ein Gericht, wo man einen Haftprüfungsantrag hätte stellen können – ein kafkaeskes Vakuum. Gleichzeitig herrschte zu Beginn großer medialer Druck, dass es sich bei Kurnaz offenbar um ein Terrorverdächtigen handele.

Was hat Sie motiviert, den Fall anzunehmen?

Ein rechtsfreier Raum wie Guantánamo, dazu die Foltervorwürfe – das provoziert und dagegen muss man mit allen Mitteln vorgehen. Dieser selbstherrliche Rechtsbruch der US-Regierung, die Zivilisation zu verlassen, hat mich motiviert.

Erst im August 2006 wurde Murat Kurnaz schließlich aus Guantánamo entlassen. Was führte zu seiner Freilassung?

Auf dem Weg zur Freilassung gab es etliche Hindernisse. Kurnaz war in Deutschland aufgewachsen, hatte allerdings einen türkischen Pass. Deutsche Behörden wollten den Fall juristisch entsorgen, in dem sie Kurnaz das Aufenthaltsrecht entzogen. Damit hatte man ihm auch die Rückkehrrechte genommen. Dagegen klagten wir vor dem Verwaltungsgericht und gewannen auch. Zwischenzeitlich hatten wir auch vor dem Supreme Court in den USA Erfolg, indem uns endlich Zugang zum amerikanischen Rechtssystem gewährt wurde. Medial wurde Guantánamo inzwischen anders bewertet und als Unrecht wahrgenommen. Die Wende kam mit den Bundestagswahlen im September 2005. Ich habe einen Brief an die neue Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben, mit der Bitte, zu helfen und Murat Kurnaz zurückzuholen. Sie hat geantwortet und angekündigt, sich dafür stark zu machen. Das führte schließlich zu deutsch-amerikanischen Verhandlungen und zu seiner Freilassung im August 2006 – etliche Jahre zu spät.

Wie hat der Fall Ihr Verständnis von Rechtsstaatlichkeit verändert?

Guantánamo hat mein Grundvertrauen in die Verlässlichkeit rechtsstaatlicher Sicherungen erschüttert. Zuvor habe ich rechtsstaatliche Grundsicherungen immer als selbstverständlich wahrgenommen. Der Fall war deshalb auch ein Lernprozess für mich, in Sachen Menschenrechte, Gewaltenteilung und fairer Verfahren. 

Fragen: Ralf Rebmann

Filmvorführungen mit der Beteiligung von Amnesty International:

22.04. Hamburg Zeise Kino (u.a. mit Julia Duchrow, Leiterin der Abteilung Politik und Activism bei Amnesty International Deutschland)

25.04. Berlin Kulturbrauerei (u.a. mit Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland)

30.04. Dresden PK Ost

01.05. Hannover Kino am Raschplatz

05.05. Bremen, Kino Schauburg

Hintergrund

Oktober 2001

Der 19-jährige Murat Kurnaz reist am 3. Oktober 2001 nach Pakistan, um in einer Koranschule mehr über den Islam zu erfahren. Er wird aber abgewiesen und reist im Land umher. Am 7. Oktober beginnt der Afghanistan-Krieg.

November 2001

Kurnaz wird in Peshawar von der pakistanischen Polizei festgenommen und gegen ein Kopfgeld an die US-Armee verkauft. Er wird zuerst in Kandahar (Afghanistan) und ab Anfang Februar 2002 in Guantánamo gefangen gehalten und gefoltert.

September 2002

Kurnaz wird in Guantánamo von deutschen Beamten vernommen, die zur Überzeugung gelangen, dass er unschuldig sei. Die USA signalisieren, dass sie Kurnaz freilassen wollen, Deutschland will ihn aber nicht einreisen lassen.

Oktober 2004

Die Bremer Behörden entziehen Kurnaz im August 2004 die Aufenthaltsgenehmigung. Im Oktober hat er zum ersten Mal seit seiner Verhaftung Kontakt mit seinem Anwalt.

August 2006

Im Oktober 2005 lehnt Deutschland die Einreise von Kurnaz erneut ab. Im Januar 2006 setzt sich Bundeskanzlerin Merkel bei US-Präsident Bush für Kurnaz ein. Am 24. August 2006 wird er den deutschen Behörden übergeben.

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