Aktuell Kanada 23. Juli 2021

Kanada: Die Aufarbeitung der Verbrechen an indigenen Gemeinschaften ist überfällig

Das Bild zeigt zwei Junge Menschen die auf einem Platz stehen, voller Spielzeug und Kinderschuhe, Blumen

Kundgebung in der kanadischen Hauptstadt Ottawa am 5. Juni 2021 in Gedenken an 215 indigene Kinder, deren sterbliche Überreste auf dem Grundstück einer ehemaligen Internatsschule in Kamloops entdeckt wurden.

In Kanada wurden in der Nähe ehemaliger Internatsschulen hunderte Gräber mit den sterblichen Überresten indigener Kinder gefunden. Die Regierung unter Premierminister Justin Trudeau muss die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Die Entdeckung der Gräber ist außerdem ein dramatischer Appell, die jahrzehntelange, rassistische Politik gegenüber indigenen Gemeinschaften im Land endlich aufzuarbeiten. 

Die Trauer und die Wut sind groß: In zahlreichen Städten Kanadas gingen Menschen in den vergangenen Wochen auf die Straße, um an die indigenen Kinder zu erinnern, deren sterbliche Überreste in verschiedenen Massengräbern im Land entdeckt wurden. Inzwischen beläuft sich die Zahl der bisher gefundenen anonymen Gräber auf weit über 1.000. Die Funde sorgen landesweit für Entsetzen.

Alle Gräber wurden auf Grundstücken ehemaliger Internatsschulen für indigene Kinder entdeckt – sogenannte Residential Schools. Der jüngste Fund befindet sich Medienberichten zufolge auf dem früheren Schulgelände auf der Penelakut-Insel, die westlich von Vancouver liegt. Mehr als 160 anonyme Gräber wurden hier entdeckt. Inzwischen machen sich indigene Gemeinschaften im ganzen Land auf die Suche nach weiteren Gräbern. Mindestens 139 Standorte solcher Internate gibt es – weitere Funde sind nicht ausgeschlossen.

Die kanadische Regierung muss wirksamere Maßnahmen ergreifen, um systemischen Rassismus gegen Indigene, Schwarze Menschen und Menschen of Colour zu beenden.

Matthias
Schreiber
Amerikas-Experte von Amnesty International in Deutschland

"Die nun entdeckten sterblichen Überreste indigener Kinder sind der sichtbare Ausdruck einer kolonialen Politik, die jahrzehntelang versucht hat, indigene Gemeinden, ihre Sprachen und ihr kulturelles Erbe auszulöschen", sagt Matthias Schreiber, Amerikas-Experte von Amnesty International in Deutschland. "Die kanadische Regierung muss endlich in vollem Umfang zu ihren internationalen und nationalen Verpflichtungen stehen und die mit dieser Politik verbundenen Menschenrechtsverletzungen umfassend wieder gut machen. Dazu gehört auch, sicherzustellen, dass die für den Tod von indigenen Kindern Verantwortlichen auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, und mögliche weitere Grabstellen geschützt und untersucht werden, wenn die betroffenen indigenen Gemeinschaften das wünschen." 

Die Internatsschulen wurden im Auftrag der kanadischen Regierung von kirchlichen Institutionen geleitet und dienten bis 1996 der "Umerziehung" indigener Kinder. Das ausgesprochene Ziel: Die Auslöschung der indigenen Kulturen, Sprachen und Gemeinschaften. Kinder im Alter zwischen 6 und 16 wurden ihren Eltern weggenommen, in die Einrichtungen gebracht und dort oft misshandelt. Von etwa 150.000 Kindern, die zwischen 1870 und 1996 in solchen Schulen untergebracht waren, verschwanden nach Angaben offizieller Stellen rund 6.000 in Folge von Missbrauch, Hunger, Unterversorgung, Einsamkeit oder auf dem Fluchtweg zu ihren Familien. Die letzte dieser Schulen schloss 1996, doch die Traumata der Betroffenen und ihr Leid überdauern Generationen, und diskriminierende Praktiken bestehen weiterhin. 

Tweet von Amnesty in Kanada zur Situation der indigenen Gemeinschaften:

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Bis heute hat die kanadische Regierung darin versagt, die Rechte indigener Gemeinschaften umfassend zu schützen und die koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten. Im Fall der Residential Schools hatte sich die kanadische Regierung bereits im Jahr 2008 offiziell bei den Überlebenden der Internate entschuldigt. Der abschließende Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission aus dem Jahr 2015 stellte fest, dass sie Opfer eines "kulturellen Genozids " wurden. Auch Kanadas Premierminister Justin Trudeau sprach im Zuge der jüngsten Funde von einem Völkermord an kanadischen Indigenen.

Dennoch wurden von den 94 Handlungsempfehlungen der Kommission bislang nur ein Bruchteil umgesetzt. Bis heute erleben Indigene der First Nations mit ihren über 50 Sprachgruppen, Inuit und Métis immer wieder Rassismus und gesellschaftliche Ausgrenzung in Kanada, etwa durch die Polizei oder beim Zugang zu Gesundheitsleistungen. Indigene Frauen, Mädchen und two-spirit Menschen erleiden überdurchschnittlich oft Gewalt.

 "Die kanadische Regierung muss wirksamere Maßnahmen ergreifen, um systemischen Rassismus gegen Indigene, Schwarze Menschen und Menschen of Colour zu beenden", so Schreiber. "Die Behörden müssen sicherstellen, dass alle Kinder in Kanada den gleichen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung haben, dass indigenen Gemeinschaften umfassende Hilfe für die Bewältigung all der Auswirkungen und Traumata erhalten, die mit der Kolonialgeschichte zusammenhängen, und auch, dass das Recht indigener Gruppen auf Selbstbestimmung respektiert wird. In der Vergangenheit haben Behörden entgegen internationaler Menschenrechtsnormen immer wieder Wirtschaftsprojekte auf dem Land indigener Gruppen genehmigt, ohne deren vorherige, freie und informierte Zustimmung dazu erhalten zu haben."

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