Gaza: Mögliche Kriegsverbrechen durch Israel und palästinensische Gruppen müssen geahndet werden

Bewaffnete palästinensische Gruppen im Süden des Gazastreifens feuern am 11. Mai 2023 Raketen in Richtung Israel (Bild links). Die israelische Armee greift am 10. Mai 2023 den Osten von Gaza-Stadt mit Kampfflugzeugen an (Bild rechts).
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Im Zusammenhang mit der gewaltsamen Eskalation in Israel und dem Gazastreifen Anfang Mai 2023 hat Amnesty International mögliche Kriegsverbrechen auf Seiten der israelischen Armee (IDF) und auf Seiten der bewaffneten palästinensischen Gruppen dokumentiert.
Nachdem am 2. Mai 2023 Khader Adnan, der wegen seiner Mitgliedschaft bei dem Palästinensischen Islamischen Dschihad inhaftiert war, als Folge seines Hungerstreiks in israelischer Haft verstorben war, feuerte der Palästinensische Islamische Dschihad Dutzende Raketen wahllos auf israelisches Staatsgebiet.
In der Folge führte Israel ab dem 9. Mai 2023 Luftangriffe gegen die Al-Quds Brigaden, den militärischen Arm des Palästinensischen Islamischen Dschihad, im Gazastreifen durch. Dabei wurden elf palästinensische Zivilpersonen getötet, darunter vier Minderjährige. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden 190 Menschen verletzt, darunter 64 Minderjährige. Viele der Luftangriffe stuft Amnesty International als unverhältnismäßig ein. Während der israelische Staat völkerrechtlich das Recht – und die Pflicht – hat, seine eigene Bevölkerung vor Gewalt zu schützen, müssen sämtliche hierfür erforderliche Maßnahmen stets den Geboten der Verhältnismäßigkeit und des Schutzes der Zivilbevölkerung entsprechen.
Nach Angaben der israelischen Streitkräfte feuerten bewaffnete palästinensische Gruppen vom 9. bis 13. Mai 2023 mindestens 1.468 Raketen wahllos auf Israel. Dabei wurden nach Angaben des israelischen Gesundheitsministeriums zwei Zivilpersonen in Israel getötet – Inga Avramyan, eine 82-jährige israelische Frau, und Abdallah Abu Jibbeh, ein 35-jähriger palästinensischer Arbeiter aus dem Gazastreifen – und 40 weitere verletzt. Amnesty International fordert, diese Handlungen ebenfalls daraufhin zu untersuchen, ob es sich dabei um Kriegsverbrechen handelt.
Raketen bewaffneter palästinensischer Gruppen, die fehlgeleitet wurden oder ihr Ziel verfehlten, töteten auch drei palästinensische Zivilpersonen im Norden des Gazastreifens, darunter die beiden Kinder Layan Mdoukh, 10 Jahre, und Yazan Alayan, 16 Jahre. Dies ist kein Einzelfall. Amnesty International hat Recherchen zu palästinensischen Opfern durch fehlgeleitete Raketen im Nachgang zu der bewaffneten Auseinandersetzung vom August 2022 veröffentlicht. Die Raketenangriffe der bewaffneten palästinensischen Gruppen sind für ihre Ungenauigkeit bekannt und erfolgen wahllos. Amnesty International fordert, sie als mögliche Kriegsverbrechen zu untersuchen.
Missachtung des Schutzes der Zivilbevölkerung
Amnesty International hat neun israelische Luftangriffe der Militäroperation untersucht, die zur Tötung von Zivilpersonen sowie zur Beschädigung und Zerstörung von Wohngebäuden im Gazastreifen führten. Bei drei separaten Angriffen in der Nacht vom 9. Mai, bei denen präzisionsgelenkte Bomben drei hochrangige Kommandeure der Al-Quds-Brigaden trafen, wurden auch zehn palästinensische Zivilpersonen getötet und mindestens 20 weitere verletzt. Die israelische Armee bombardierte um 2 Uhr morgens – zu einer Zeit, in der die meisten Menschen schlafen – dicht besiedelte städtische Gebiete, was darauf hindeutet, dass diejenigen, die die Angriffe planten und genehmigten, den unverhältnismäßigen Schaden für die Zivilbevölkerung vorhersehen konnten. Die bewusste Durchführung unverhältnismäßiger Angriffe, wie sie Amnesty International bereits bei früheren Operationen des israelischen Militärs dokumentiert hat, ist ein Kriegsverbrechen. Unbenommen der dokumentierten Praxis der Al-Quds-Brigaden und des Islamischen Dschihad, Zivilpersonen bewusst als "menschliche Schutzschilde" zu missbrauchen, ist die israelische Armee völkerrechtlich verpflichtet, Zivilpersonen zu schützen.
Am 9. Mai um 2 Uhr morgens trafen israelische Luftangriffe ein zweistöckiges Gebäude im Stadtteil al-Sha'af in Gaza-Stadt mit einer GBU-39-Bombe. Diese hat einen kleinen Durchmesser, wird von Boeing Defense, Space & Security hergestellt und aus den Vereinigten Staaten nach Israel exportiert. Der Angriff galt der Wohnung von Khalil al-Bahtini, einem führenden Mitglied der Al-Quds-Brigaden. Dabei wurden Khalil al-Bahtini, seine Frau Leila al-Bahtini und ihre vierjährige Tochter Hajar getötet. Auch die Nachbarwohnung wurde getroffen, wobei die 19-jährige Dania Adas und ihre 17-jährige Schwester Iman getötet wurden.
Bei der Durchführung militärischer Angriffe gilt die völkerrechtliche Verpflichtung, Zivilpersonen zu schützen. Angriffe müssen beendet werden, wenn sich herausstellt, dass Zivilpersonen und zivile Objekte unverhältnismäßig stark geschädigt werden könnten.
Zerstörung von Wohnhäusern
Durch die israelische Militäroperation wurden insgesamt 2.943 Wohneinheiten beschädigt, 103 Häuser wurden dabei vollständig zerstört. Nach Angaben des palästinensischen Ministeriums für öffentliche Bauvorhaben wurden mindestens 1.244 Palästinenser*innen durch die Offensive vertrieben. Opfer von vorsätzlichen Zerstörungen von Wohnhäusern durch die israelische Armee waren auch Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen.
Am 13. Mai griffen die israelischen Streitkräfte ein vierstöckiges Gebäude im Flüchtlingslager Jabalia an. Das Gebäude beherbergte 42 Personen aus der Großfamilie Nabhan. Fünf Familienmitglieder leben mit körperlichen Beeinträchtigungen, drei von ihnen nutzen einen Rollstuhl.
Hussam Nabhan, ein Augenzeuge des Angriffs, sagte gegenüber Amnesty International, er habe gegen 18 Uhr einen Anruf erhalten, den er für den Anruf eines israelischen Geheimdienstmitarbeiters hielt. Der Anrufer sagte, dass die Bewohner*innen des Gebäudes 15 Minuten Zeit hätten, um es zu verlassen. Hussam wies den Anrufer darauf hin, dass sich Menschen mit Behinderungen in dem Gebäude befänden und sie mehr Zeit bräuchten, doch der Anrufer wiederholte lediglich die Warnung.
Nachforschungen von Amnesty International ergaben keine Beweise dafür, dass das Nabhan-Gebäude – und andere Wohngebäude, die in den letzten beiden Tagen der Offensive zerstört oder beschädigt wurden – als Lager für Waffen oder andere militärische Ausrüstungsgegenstände genutzt worden waren oder dass aus ihrer unmittelbaren Nähe Raketen abgefeuert worden waren.
Die unrechtmäßige Zerstörung palästinensischer Häuser, oft ohne militärische Notwendigkeit, kommt einer Form der kollektiven Bestrafung der Zivilbevölkerung gleich.
Zur Recherche
Da die israelischen Behörden Amnesty International weiterhin den Zugang zum Gazastreifen verwehren, beauftragte die Organisation eine*n lokale*n Feldforscher*in, der*die während und nach der fünftägigen Offensive an den Anschlagsorten Beweise sammelte und Zeug*innen befragte. Expert*innen von Amnesty International führten Nachbefragungen durch und analysierten Satellitenbilder und andere frei zugängliche Beweise, darunter Aufnahmen der Angriffe und ihrer Folgen sowie Aussagen israelischer Beamt*innen.