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"Ja, wir nehmen Folter persönlich"
Dr. Aida Seif al-Dawla, Psychiaterin und Mitgründerin des Nadeem-Zentrums in Kairo im Januar 2018
© Amnesty International, Foto: Dana Smillie
Das Nadeem-Zentrum in Kairo engagiert sich seit über 20 Jahren gegen Folter und Gewalt seitens der ägyptischen Sicherheitskräfte. Für sein mutiges Engagement erhält es den Amnesty-Menschenrechtspreis 2018. Die Einrichtung gerät immer wieder ins Visier der Behörden, im Februar 2017 wurde die zugehörige Spezialklinik geschlossen. Dr. Aida Seif al-Dawla, eine der Mitgründerinnen, schrieb damals diesen Text. Sie erzählt darin, wie das Zentrum 1993 gegründet wurde, und was sie und ihre Kolleginnen bis heute unablässig antreibt.
Im Februar 2017 nahm ich an einem Workshop teil, in dem wir uns nicht wie üblich selbst vorstellten, sondern uns in Zweiergruppen gegenseitig vorstellten. Als ich meinem Workshop-Partner erzählte, warum wir das Nadeem-Zentrum gegründet hatten, meinte er: "Aber das sind doch ganz persönliche Gründe". Das Persönliche daran schien ihn nicht zufriedenzustellen. Etwas "Wichtigeres" sollte hinter der Gründung stecken.
Das Nadeem-Zentrum wurde 1993 von drei Psychiaterinnen gegründet - Freundinnen, Kolleginnen und Genossinnen seit den 70er-Jahren. Drei Freundinnen und Freunde waren gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Man hatte sie alle schwer gefoltert. Wir brachten sie in die Krankenhäuser, in denen wir arbeiteten. Doch dort wurden sie weder vollständig untersucht noch war es möglich, einen Bericht über ihren Zustand zu erhalten. Der Grund: Die Polizei hatte sie so übel zugerichtet, dass das Krankenhaus nicht bereit war, einen Bericht zu erstellen, der es hätte in Schwierigkeiten bringen können. Als Freundinnen wurden wir auch in den Teil der Geschichte eingeweiht, der normalerweise vom Helden-Image der Folterüberlebenden überschattet wird. Wir konnten die Wut sehen, die Demütigung, die tiefen psychischen Wunden, die noch schlimmer waren als die körperlichen Verletzungen. Also beschlossen wir, eine Klinik zu eröffnen und darin psychologische Unterstützung anzubieten. Außerdem wollten wir professionelle psychologische Gutachten für Folterüberlebende erstellen, die sie vor Gericht verwenden könnten, sollten sie sich entscheiden, Gerechtigkeit einzufordern. Das war alles. Es war keine Menschenrechtsarbeit – zuvor waren wir Ehrenamtliche der damaligen Ägyptischen Organisation für Menschenrechte, bis diese Mitte der 90er-Jahre unter die Kontrolle der ägyptischen Regierung gestellt wurde. Nebenbei hatten wir vor, eine Art Karte der Polizeiwachen zu zeichnen, in denen gefoltert wurde.
Folter soll keine "Geständnisse" erzwingen
Wir waren drei, später vier Aktivistinnen, die zu wissen glaubten, was im Land geschah und warteten also darauf, dass politische Gefangene unsere Hilfe in Anspruch nehmen würden. Das taten sie aber nicht. Jedenfalls nicht bis zum Jahr 2000, als Ägypterinnen und Ägypter erneut auf die Straße gingen, diesmal zur Unterstützung der palästinensischen Intifada, und bei den Demonstrationen umstellt und festgenommen wurden. Einige wurde gefoltert. Bis dahin waren sieben Jahre lang, von 1993 bis 2000, ausschließlich ganz normale Ägypterinnen und Ägypter aus dem ganzen Land zu uns gekommen. Sie alle waren marginalisiert und sozial benachteiligt. Uns wurde damals klar, dass Folter in Ägypten nicht dazu diente, "Geständnisse" zu erzwingen.
Menschen wurden aus einer Vielzahl von anderen Gründen gefoltert: um sie aus einer Wohnung zu vertreiben, um sie zur Aufgabe eines Stückes Land zu bewegen, weil sie eine Auseinandersetzung mit mächtigeren Leuten mit Freundinnen und Freunden bei der Polizei hatten. Oder einfach, weil sie die Beschimpfungen von Polizeibeamtinnen und –beamten nicht still hinnehmen wollten, wenn diese bei ihren nächtlichen Streifzügen durch die Stadt junge Leute in Straßencafés festnahmen.
Arbeitsbesprechung in den Büroräumen des Nadeem-Zentrums in Kairo im Januar 2018
© Amnesty International, Foto: Dana Smillie
Die Landkarte der Folter ist die Landkarte des Landes
Der oder die jüngste Folterüberlebende war ein erst dreijähriges Kind, das durch Elektroschocks dazu gebracht werden sollte preiszugeben, wo sich sein mordverdächtiger Onkel aufhielt. Wir erfuhren, dass Familienangehörige als Geiseln genommen werden, vor allem Frauen, um die "Gesuchten" zu zwingen, sich zu stellen, um ihre weiblichen Angehörigen vor Vergewaltigung zu schützen. Wir lernten, dass die Landkarte der Folter die Landkarte des gesamten Landes ist!
Vielen, die zu uns kamen, ging es nicht nur darum, eine Psychotherapie zu machen, und manche wollten etwas ganz Anderes. Sie waren keine Patientinnen und Patienten. Sie waren gesunde Menschen, denen man ein außergewöhnlich schweres Trauma zugefügt hatte. Die eigentlichen Kranken waren die Folterer; diejenigen, die die Folter zuließen; diejenigen, die sie anordneten und die Gesellschaft, die sich entschied, es nicht wahrhaben zu wollen, und schwieg. Diejenigen, die zu uns kamen, hatten andere Anliegen: Sie wollten Anzeige erstatten; sie wollten die Wahrheit veröffentlicht sehen; sie wollten, dass die Öffentlichkeit die Namen ihrer Folterer kannte. Wegen dieser Anliegen gründeten wir das Nadeem-Zentrum als Organisation.
Schikane durch die Regierung
Die Klinik war nur ein Teil unserer Aktivitäten. Wir fingen an Berichte zu veröffentlichen, rechtliche Unterstützung zu vermitteln, Folterüberlebende vor Gericht zu begleiten und Folterberichte zu erstellen, die mit Hilfe unserer Klientinnen und Klienten entstanden. Als das zu gefährlich wurde, recherchierten wir in den Medien und erstellten Monats- und Jahresberichte über Folter, außergerichtliche Hinrichtungen, die Verweigerung der medizinischen Versorgung in Hafteinrichtungen, Fälle von Verschwindenlassen und des Wiederauftauchens von Personen. All dies geschah in staatlichen Einrichtungen. Damals begannen die Schikanen durch die Regierung. Sie wurde immer schlimmer und erreichte ihren Höhepunkt mit der Schließung unseres Zentrums und der Klinik. Der Polizeieinsatz fand am 9. Februar 2017 statt, dem einzigen Tag in der Woche, an dem das Zentrum geschlossen ist.
Wir können nicht behaupten, dass wir nicht wissen, was vor sich geht
Das war so unter Mubarak und blieb so unter dem Obersten Militärrat, unter Mursi und als der Interimspräsident Adly Mansour das Land regierte. Doch eine so willkürliche, brutale und barbarische Folter wie wir sie durch die verschiedenen Sicherheitsbehörden seit 2013 erleben, gab es seit 1993 nicht mehr. 2013 jagte al-Sisi den demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Mursi aus dem Amt und installierte eine Militärherrschaft, die unter den Augen der Weltöffentlichkeit mehrere Massaker verübte.
Wir können nicht behaupten, dass wir nicht wissen, was vor sich geht. So sehr wir auch versuchen, es zu verdrängen – es geht nicht. Wir wissen Bescheid. Und dieses Wissen hat unser Team so verinnerlicht, dass der Kampf gegen die Folter zu einem persönlichen Anliegen geworden ist. Ja, wir nehmen sie persönlich und wir werden nicht aufhören, Folter öffentlich zu machen.
Weitere Informationen findest du auf www.amnesty.de/menschenrechtspreis