Amnesty-Menschenrechtspreis 2018 für das Nadeem-Zentrum in Ägypten

Porträt von vier Frauen vor einer Pinnwand und einem Schrank

Die Leiterinnen des Nadeem-Zentrums (von links nach rechts): Dr. Mona Hamed, Dr. Aida Seif al-Dawla, Dr. Magda Adly und Dr. Suzan Fayad in ihrem Büro in Kairo im Januar 2018

Die Menschenrechtslage in Ägypten hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Regierung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi geht rücksichtslos gegen kritische Stimmen vor. Seit der Machtübernahme des ehemaligen Armeechefs 2013 wurden Zehntausende Menschen inhaftiert, darunter viele Oppositionelle, Demonstrierende und Medienschaffende. Schwere Verbrechen wie Folter und andere Misshandlungen sind an der Tagesordnung. 

Doch viele mutige Ägypterinnen und Ägypter nehmen das nicht hin. Zu ihnen gehören die unbeugsamen Frauen des Nadeem-Zentrums für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter aus Kairo. Sie betreiben die einzige Klinik in Ägypten, in der gefolterte Menschen behandelt werden und machen die routinemäßige Folter in Gefängnissen und Polizeiwachen öffentlich. 

Für diesen Einsatz hat Amnesty International in Deutschland das Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter in Kairo mit dem 9. Menschenrechtspreis ausgezeichnet.

Menschen wie die Ärztinnen des Nadeem-Zentrums halten die Hoffnung auf ein Ägypten am Leben, in dem die Menschenrechte geachtet werden. Doch die Regierung versucht ihr Engagement mit aller Macht zu unterdrücken und das Ausmaß der Folter durch Sicherheitskräfte zu vertuschen. 

Seit 2016 gehen die Behörden massiv gegen die Organisation vor. Im Februar 2017 wurde die Klinik des Zentrums geschlossen. "Mit dem Preis an das Nadeem-Zentrum würdigt Amnesty International dessen wichtige Rolle für Menschenrechte in Ägypten. Unter schwierigsten Bedingungen versorgen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Nadeem-Zentrums Folterüberlebende medizinisch und psychologisch und machen die schweren Menschenrechtsverletzungen öffentlich", heißt es in der Begründung von Amnesty für die Auszeichnung.

YouTube-Video zur Arbeit des Nadeem-Zentrums

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Wir können nicht behaupten, dass wir nicht wissen, was vor sich geht. So sehr wir auch versuchen es zu verdrängen - es geht nicht. Wir wissen Bescheid. Und dieses Wissen hat unser Team so verinnerlicht, dass der Kampf gegen die Folter zu einem persönlichen Anliegen geworden ist. Ja, wir nehmen sie persönlich und wir werden nicht aufhören, Folter öffentlich zu machen.

Dr. Aida Seif
al-Dawla
Psychiaterin und Mitgründerin des Nadeem-Zentrums für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter in Ägypten

Verleihung des 9. Amnesty-Menschenrechtspreises an das Nadeem-Zentrum in Ägypten

Der 9. Menschenrechtspreis von Amnesty in Deutschland wurde am 16. April 2018 in der Volksbühne Berlin verliehen. Mitwirkende waren u.a. Markus N. Beeko, Dr. Taher Mokhtar, Bertha Zúniga Cáceres, Salil Shetty, Hinrich Westerkamp, Najia Bounaim, Anikó Bakonyi, Jutta Klöwer Damien Rice & Cantus Domus, Ferhan und Ferzan Önder, Fetsum, Anne Tismer und BÄM.

Video zur Verleihung des Menschenrechtspreises 2018 auf YouTube

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Unter Lebensgefahr im Einsatz für die Menschenrechte

"Sieben Jahre nach Beginn der ägyptischen Revolution befindet sich die Menschenrechtslage in Ägypten auf einem Tiefpunkt. Die Regierung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi geht systematisch gegen politische Gegner vor. Polizei und Geheimdienste sind für schwere Verbrechen wie Folter, Verschwindenlassen und außergerichtliche Tötungen verantwortlich", sagt Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland.

Porträtfoto von Markus N. Beeko

"Auch Menschenrechtsaktivisten geraten verstärkt ins Visier der Behörden, erst vor kurzem wurde ein Gesetz zur Einschränkung der Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen verabschiedet. Mit der Verleihung des Amnesty-Menschenrechtspreises an das Nadeem-Zentrum wollen wir all die mutigen Frauen und Männer unterstützen, die sich in Ägypten unter Lebensgefahr gegen Folter, Gewalt und Willkür einsetzen."

Markus N.
Beeko
Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland

Schikanen beim Einsatz gegen Folter

Die ägyptische Staatsführung leugnet den Einsatz von Folter. Sicherheitskräfte haben immer wieder versucht, das Zentrum an seiner Arbeit zu hindern. Die Konten der Organisation wurden 2016 vorübergehend eingefroren und zwei der Gründerinnen wurden mit Ausreiseverboten belegt. Im Februar 2017 drangen Sicherheitskräfte in die Klinikräume des Nadeem-Zentrums ein und versiegelten diese. Das Nadeem-Zentrum legte noch im selben Monat Rechtsmittel gegen die Schließung der Klinik ein.

Blick in Büroräume durch zwei geöffnete Türen, links arbeitet eine Frau an einem Computer, rechts diskutieren zwei Frauen und ein Mann

Die Büroräume des Nadeem-Zentrums in Kairo im Januar 2018

Der Amnesty-Menschenrechtspreis: Ein Zeichen gegen Folter in Ägypten

Mit dem Menschenrechtspreis zeichnet die deutsche Amnesty-Sektion alle zwei Jahre Persönlichkeiten und Organisationen aus, die sich unter schwierigen Bedingungen für die Menschenrechte einsetzen. Denn Menschenrechtsverteidigerinnen und-verteidiger nehmen große Risiken auf sich, damit Menschenrechtsverletzungen verhindert und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Ihr Einsatz zeigt, dass durch das Engagement von Einzelnen Veränderungen möglich sind. Ziel des Preises ist es, das Engagement dieser Menschen zu würdigen, sie zu unterstützen und ihre Arbeit in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. Unterstützt wird der Preis von der Stiftung Menschenrechte – Förderstiftung Amnesty International. 2018 wird der Menschenrechtspreis zum neunten Mal verliehen. Die Verleihung findet am 16. April in der Volksbühne Berlin statt. Bisherige Preisträgerinnen und Preisträger sind unter anderem: Henri Tiphagne aus Indien (2016), Alice Nkom aus Kamerun (2014) und Abel Barrera aus Mexiko (2011).

Staatliche Repression gegenüber Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern

Der Einsatz gegen Polizeigewalt und staatliche Willkür war ein zentraler Antrieb der Protestbewegung in Ägypten 2011. Sieben Jahre später sitzen zehntausende politische Gefangene in überfüllten Zellen. Folter und Verschwindenlassen sind wieder an der Tagesordnung. Neue Gesetze behindern die Arbeit von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern und schränken die Versammlungs- und Meinungsfreiheit massiv ein.

Das Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter dokumentiert seit mehr als zwanzig Jahren Folter durch die ägyptischen Sicherheitskräfte und behandelt Überlebende. 

Eine Tür ist abgesperrt mit braunem Klebeband, das zwischen Türrahmen und Tür klebt

Die abgeklebte Tür der von den Behörden vor Monaten geschlossenen Klinik des Nadeem-Zentrums im Januar 2018 in Kairo

Seit 1993 aktiv gegen Folter in Ägypten

Die vom Nadeem-Zentrum betriebene Klinik ist die einzige Spezialklinik zur Behandlung Überlebender von Folter und Gewalt in Ägypten. Neben der medizinischen und psychologischen Behandlung dokumentiert das Zentrum Fälle von staatlicher Folter und arbeitet mit anderen Organisationen zusammen, um Gewaltopfer juristisch zu unterstützen. Neben Folteropfern können sich auch Frauen an das Zentrum wenden, die vergewaltigt wurden oder häusliche Gewalt erfahren haben. Das Zentrum wurde 1993 gegründet. 

Drei der Gründungsmitglieder, die Psychiaterinnen Dr. Aida Seif al-Dawla und Dr. Suzan Fayad sowie die Ärztin Dr. Magda Adly, sind bis heute in leitenden Positionen für das Zentrum tätig. Aida Seif al-Dawla ist aktuell die Koordinatorin des Rehabilitationsprogramms für Folterüberlebende. Dr. Suzan Fayad war von 1993 bis 2007 Direktorin des Zentrums und ist derzeit unter anderem Supervisorin für den klinischen Bereich. Dr. Magda Adly ist aktuell die Direktorin des Zentrums und Koordinatorin des Programms für Frauen. Derzeitige Leiterin der Klinik ist die Psychiaterin Mona Hamed.

Jedes Jahr publiziert das Nadeem-Zentrum Berichte, die dokumentieren, wo und wie in ägyptischen Polizeistationen und Gefängnissen gefoltert wurde, und wie viele Menschen dabei zu Tode kommen.

Eine erhobene Hand hinter Zaun und Maschen

Ein Angeklagter im Gerichtssaal eines Gefängnisses im Süden Kairos im August 2015 

Willkürliche Festnahmen und Misshandlung durch Sicherheitskräfte

Seit der Machtübernahme durch den ehemaligen Militärchef Abdel Fattah al-Sisi 2013 wurden zehntausende Menschen inhaftiert, darunter viele Oppositionelle, Aktivisten und Journalisten. Es wurden 19 neue Gefängnisse errichtet, um die vielen politischen Gefangenen unterzubringen. Behörden gehen mit willkürlichen Festnahmen gegen regierungskritische Demonstrationen vor. Sie verhaften nach wie vor Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Protestierende und beschneiden zunehmend die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen.

Hunderte Menschen wurden verschleppt und befinden sich in Gewahrsam des nationalen Sicherheitsdienstes (NSA). Sie haben in vielen Fällen monatelang keinen Kontakt zu ihren Angehörigen oder einem Rechtsbeistand. Angehörige des NSA und andere Sicherheitskräfte foltern und misshandeln Häftlinge. 

Ägyptische Menschenrechtsgruppen, darunter das Nadeem-Zentrum, haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Berichte über gewaltsame Todesfälle in Gewahrsam gesammelt, die auf Folter und andere Misshandlungen oder mangelnde medizinische Versorgung zurückzuführen sind. Regelmäßig werden "Geständnisse", die Gefangene unter Folter machen, vor Gericht als Beweismittel verwendet. Für Menschenrechtsverletzungen, die durch Angehörige der Sicherheitskräfte begangen werden, herrscht weitestgehend Straflosigkeit.

Ägypten - Streetart

67.000 Menschen wurden seit dem Militärputsch 2013 in Ägypten aus politischen Gründen verhaftet oder angeklagt.

Quelle: Menschenrechtlerinnen und -rechtler und Anwältinnen und Anwälte

Ein Mann trägt ein rotes T-shirt und einen blauen Turban um den Kopf gewickelt.

378 Menschen wurden zwischen August 2016 und August 2017 gewaltsam entführt – durch Angehörige des Staatssicherheitsdienstes und anderer Geheimdienste.

Quelle: Quelle: Egyptian Commission for Rights and Freedoms

Ägyptens umstrittenes NGO-Gesetz

Am 29. Mai 2017 unterzeichnete Ägyptens Präsident ein umstrittenes NGO-Gesetz. Das Gesetz zwingt Nichtregierungsorganisationen (NGOs), sich innerhalb eines Jahres zu registrieren und erlaubt lediglich Aktivitäten, die von der Regierung genehmigt werden. Die ausländische Finanzierung unabhängiger Maßnahmen wird verboten. Kritikerinnen und Kritiker sprechen vom Ende einer unabhängigen Zivilgesellschaft. Die Registrierungsfrist läuft im Mai 2018 ab.

Schon vor Inkrafttreten des Gesetzes haben Untersuchungsgerichte seit 2011 strafrechtliche Ermittlungen gegen die Arbeit und Finanzierung von NGOs vorangetrieben. Sie verhörten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, froren die Finanzmittel von sechs Organisationen und sieben Aktivistinnen und Aktivisten ein und verhängten Reiseverbote gegen zwölf Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger, darunter Aida Seif al-Dawla vom Nadeem-Zentrum.

Rückblicke: Der Amnesty Menschenrechtspreis 1998 bis 2018