Amnesty 11. Juni 2021

Dem Mut verpflichtet

Proträtbild einer Frau mit blonden Haaren und blauer Brille, sie verschränkt die Arme und schaut in die Kamera

Agnès Callamard, ehemalige UN-Sonderberichterstatterin, ist seit Ende März 2021 die neue internationale Generalsekretärin von Amnesty International.

Von Ellen Wesemüller

Agnès Callamard beginnt ihre Erzählung über die eigene Geschichte mit einem Ereignis, das 20 Jahre vor ihrer Geburt stattfand: Am 15. August 1944 ermordeten die Nazis ihren Großvater, einen  Résistance-Kämpfer. Dieses Datum, dem die junge Agnès mit ihren Verwandten jedes Jahr gedachte, brannte sich ein, ebenso die Lehre, alles dem Kampf für Gerechtigkeit zu opfern, sogar das eigene Leben. "Eine Verpflichtung zum Mut", nennt es die Menschenrechtlerin in einem Gespräch mit der Autorin Ende April. Eine Menschenrechtlerin, von der die "taz" zum Amtsantritt schrieb, sie sei selbst "furchtlos gegenüber Mächtigen und unbeeindruckt von deren Drohungen".

Neben dem Kampf für Gerechtigkeit werden die Rechte von Frauen zum Schwerpunkt ihrer Arbeit. Hineingeboren wurde Agnès Callamard in eine, so nennt sie es, matriarchale Familie, sie wächst auf umgeben von starken Frauen, ihre Mutter eine Lehrerin, die selbst in dem kleinen Dorf im Süden Frankreichs mehrere NGOs gründete und leitete. Von ihrer Mutter habe sie ihr Engagement für öffentliche Bildung geerbt, sagt ihre Tochter Agnès, die selbst kinderfrei blieb, und ebenso mehrere NGOs gründete– auf internationaler Ebene.

Das Wissen um die eigenen Privilegien, ein weiterer wichtiger Motor ihres Handels, erlangte sie auf dem Campus der Howard University, der ältesten afroamerikanischen Universität der USA, die sie mit nur einer Handvoll anderer weißer Studierender besuchte. Ihrer Heimat Frankreich hatte Agnès Callamard mit 21 Jahren den Rücken gekehrt und ist seitdem nicht mehr zurückgekommen.

An der Universität formte sich nicht nur ihr Verständnis von Weißsein in einer rassistischen Gesellschaft, auch das intellektuelle Interesse der Politikwissenschaftlerin wurde geweckt: An der New School in New York, einer von Holocaust-Überlebenden gegründeten Universität, an der sie drei Jahre später promovierte, erschloss sie sich einen Zirkel Intellektueller, die dem Zweiten Weltkrieg und der eigenen Vernichtung entkommen waren. Callamard promovierte in Refugee Studies, verbrachte dafür sechs Monate in einem Flüchtlingslager in Malawi – und verknüpfte dort zum ersten Mal wissenschaftliche Recherche mit konkreter Menschenrechtsarbeit vor Ort.

Zehn Jahr später, 1995, arbeitete sie das erste Mal bei Amnesty International: als Stabschefin des damaligen Generalsekretärs Pierre Sané, senegalesischer Politikwissenschaftler, den sie heute als ihren Mentor beschreibt. Vieles war damals noch anders, die Regionalbüros gab es noch nicht, die Agnès Callamard nun als fantastische Gelegenheit ansieht, starke Akteure vor Ort zu haben. Die Zeit bei Amnesty hat Agnès Callamard als sehr herausfordernd in Erinnerung: Man musste widerstandsfähig sein, erinnert sie sich an ihre Funktion als Koordinatorin der Recherchepolitik der Organisation: Alles, was man tat und schrieb, wurde doppelt und dreifach in Frage gestellt und überprüft.

2016 konnte sich Agnès Callamard einen lang gehegten Traum erfüllen: Sie wurde Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen, Spezialgebiet: außergerichtliche Hinrichtungen. Die Hoffnung, so eine moralische und intellektuelle Vordenkerin in Sachen Menschenrechte zu werden, wurde schnell enttäuscht, so lässt sie es bei einem Interview mit dem Guardian Ende März anklingen: Die Sonderberichterstatter wurden nicht in ihrer Rolle bestärkt, mutig die Wahrheit zu sagen, im Gegenteil: Sie wurden als Gefahr betrachtet, die in Schach gehalten werden musste, um den Mächtigen der Welt nicht auf die Füße zu treten. Sie hätte wenig Ressourcen gehabt, beklagt sie, die Recherche über den Mord am saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi, die sie berühmt machte, habe sie sogar aus eigener Tasche finanziert. Trotz ihrer eigenen, eindeutigen Ergebnisse, die dem saudischen Staat die direkte Schuld an dem Mord gaben, geschah nichts. Im November 2019 bezichtigte Callamard deshalb auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel der "Komplizenschaft" mit Saudi-Arabien. Die Illusion einer starken internationalen Gemeinschaft war dahin: "Ich habe am Fall Khashoggi verstanden, warum Ermittlungen im Sand verlaufen, Straflosigkeit vorherrscht und die internationale Gemeinschaft machtlos ist."

Tweet von Agnès Callamard:

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Vor allem das Wissen darum, dass viele Menschen zu Amnesty als einer Menschenrechtsorganisation aufschauen, die vor Ort ist, stark ist, Menschen in Gefahr unterstützt, und etwas bewegen kann. Eine Organisation, die kühn und mutig ist. Für ihre Arbeit bei Amnesty habe sie keine fertige Vision mitgebracht, sagt sie, um dann doch ganz klar zu benennen, was anders werden soll: Da ist zum einen die Schwerfälligkeit der großen Organisation, die sie als Tanker beschreibt, und die sich in ihren Augen viel schneller und agiler reagieren können müsste. Gleichzeitig soll die Besonderheit der Mitgliederorganisation erhalten bleiben, denn gute Organisationen mit großem intellektuellem Potenzial gebe es wie Sand am Meer: Die Mitglieder aber brächten durch ihre Aktionen echte Veränderung in die Welt, auch, indem sie das Bewusstsein für Menschenrechte in ihren eigenen Familien schärften.

Inhaltlich geht es Agnès Callamard darum, eine Sicht auf den Klimawandel als Menschenrechtskrise zu etablieren, den sie auch als Generationenkrise bezeichnet. Hier müsse Amnesty seine Komfortzone verlassen: "Wir können zum Beispiel den Konflikt in der Sahelzone nicht verstehen, ohne den Klimawandel zu verstehen." Viele heutige Konflikte entstünden wegen Wüstenbildung, wegen fehlendem Zugang zu Wasser und Nahrung: "Menschen sterben wegen des Klimawandels."

Zudem brauche es ein besseres Verständnis von parastaatlichen Akteuren: Es könne nicht sein, dass Opfer hierarchisiert werden, weil sie beispielsweise "nur" von bewaffneten Gruppen und nicht vom Staat angegriffen werden.

Innerhalb der eigenen Organisation will Agnès Callamards Priorität auf den Kampf gegen Rassismus legen. Sie sagt: "Wir müssen anerkennen, dass unsere Organisation privilegiert ist, nicht jeder Einzelne, aber als Struktur." Jede Sektion müssen sich verantwortlich zeigen, vor allem auf Vorstands- und Geschäftsführungsebene müsse das Problem als solches anerkannt werden, und zwar nicht im bürokratischen Sinne: Anerkannt werden müsse der Schmerz und die Wut der Betroffenen.

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