Pressemitteilung Aktuell Türkei 05. April 2023

Türkei: Menschenrechtsverstöße durch Polizei und Gendarmerie im Erdbebengebiet

Das Foto zeigt zwei Polizisten von hinten bei Nacht. Sie beobachten einen Bagger, der sich im Scheinwerferlicht durch Trümmer gräbt.

Neuste Untersuchungen von Amnesty International und Human Rights Watch belegen, wie türkische Ordnungskräfte in den Erdbebengebieten Menschen wegen des Verdachts auf Diebstahl und Plünderung geschlagen, gefoltert und anderweitig misshandelt haben. Eine Person starb in Gewahrsam, nachdem sie gefoltert wurde. In anderen Fällen schritten Sicherheitskräfte nicht ein, als Menschen gewaltsam angegriffen wurden. Eine ausführliche englischsprachige Pressemitteilung mit Details zu den untersuchten Fällen ist auf amnesty.org zu finden.

Die türkischen Strafverfolgungsbehörden standen bei der Wahrung der Sicherheit nach dem Erbeben vor enormen Herausforderungen. Jedoch verbieten das Völkerrecht sowie das türkische Recht unter allen Umständen Folter und andere Misshandlungen. Die türkische Regierung verlautbart seit langem, eine "Nulltoleranz-Politik gegenüber Folter" zu verfolgen.

Amke Dietert, Türkei-Expertin bei Amnesty International in Deutschland, sagt: "Die Berichte und Bilder von mutwilliger Gewalt durch Ordnungskräfte sind erschütternd. Inmitten der schlimmsten Naturkatastrophe, die das Land je erlebt hat, missbraucht die türkische Polizei und Gendarmerie ihre Macht. Wir fordern Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Betroffenen von Gewalt, darunter syrische Geflüchtete. Die türkischen Behörden müssen unverzüglich strafrechtliche Ermittlungen zu allen Fällen von Folter und anderen Misshandlungen durch Polizei, Gendarmerie und andere Ordnungskräfte einleiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen."

Das Bild zeigt eine zerstörte Stadt aus der Vogelperspektive

Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch, sagt: "Die glaubhaften Berichte über Angehörige von Polizei, Gendarmerie und Militär, die Menschen, die sie einer Straftat verdächtigen, brutal verprügeln und willkürlich und ohne rechtliche Grundlage in Haft nehmen, sind ein schockierender Hinweis auf die Praktiken der Strafverfolgungsbehörden in der türkischen Erdbebenregion. Ordnungskräfte missbrauchen den wegen der Naturkatastrophe verhängten Ausnahmezustand als Lizenz, um zu foltern, andere Misshandlungen zu begehen und sogar straffrei zu töten."

Amnesty International und Human Rights Watch befragten 34 Personen und sichteten Videomaterial zu 13 Fällen von Gewalt durch Polizei, Gendarmerie (die Polizeifunktionen in ländlichen Gebieten ausübt) und im Erdbebengebiet stationierte Soldat*innen. Bei den befragten Opfern handelt es sich um 34 Männer. Die Untersuchungen legen nahe, dass insgesamt noch mehr Menschen betroffen waren.

Die meisten Betroffenen berichteten, dass Ordnungskräfte der Polizei, der Gendarmerie oder des Militärs sie aufgriffen, als sie bei den Such- und Rettungsmaßnahmen an den vom Erdbeben zerstörten Gebäuden halfen oder in einem der Stadtviertel Antakyas unterwegs waren. In den meisten Fällen wurden die betroffenen Personen nicht in offiziellen Gewahrsam genommen, sondern unmittelbar geschlagen oder gezwungen, sich hinzuknien oder hinzulegen, während sie getreten, geohrfeigt oder längere Zeit beschimpft wurden – teilweise in Handschellen. Einige wurden gezwungen, Straftaten zu "gestehen". Allerdings wurden anschließend nur in zwei Fällen Ermittlungen gegen die Betroffenen eingeleitet, was ernsthafte Zweifel daran aufkommen lässt, ob in den anderen Fällen jemals der Verdacht einer Straftat bestanden hatte.

Unter den befragten Personen befanden sich zwölf Opfer von Folter oder anderen Misshandlungen und zwei Personen, die von Gendarmen mit der Waffe bedroht worden waren. Die meisten Fälle von Folter und anderen Misshandlungen fanden in der Stadt Antakya in der Provinz Hatay statt. In vier Fällen handelte es sich bei den Betroffenen um syrische Geflüchtete, die Angriffe deuten auf zusätzliche rassistische Motive hin. Alle Vorfälle ereigneten sich in den zehn Provinzen, in denen der von Präsident Recep Tayyip Erdogan am 7. Februar angekündigte und zwei Tage darauf vom Parlament verabschiedete Ausnahmezustand verhängt worden war.

Das Foto zeigt eine Gruppe Menschen, die teilweise mit wütenden Gesichtern und geballten Fäusten Parolon rufen. Einige von ihnen halten Schilder hoch mit türkischer Schrift.

Ein türkischer Mann berichtete, ein Gendarm habe ihm gedroht: "Hier herrscht der Ausnahmezustand, wir werden dich töten… Wir werden dich töten und unter dem Schutt begraben." Ein Syrer sagte aus, ein höhergestellter Polizeibeamter, bei dem er sich darüber beschwert hatte, dass ein Polizist ihn ins Gesicht geschlagen hatte, habe ihm erklärt: "Hier herrscht Ausnahmezustand. Selbst wenn der Polizist dich tötet, wird er nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Niemand würde ihm etwas sagen können."

Am 17. März informierten Amnesty International und Human Rights Watch den Innen- und den Justizminister der Türkei in einem Schreiben über die Ergebnisse ihrer Recherchen und baten um Informationen zu den Ermittlungen hinsichtlich der Vorwürfe und den in den Sozialen Medien kursierenden Videos. Am 29. März antwortete die Abteilung für Menschenrechte des Justizministeriums im Namen des Justizministeriums und des Innenministeriums: die Ministerien beteuerten, dass die türkische Regierung Folter nicht dulde, und behaupteten, bei den von Amnesty International und Human Rights Watch übermittelten Rechercheergebnissen handele es sich um "vage Behauptungen, die jeglicher sachlichen Grundlage entbehren". Auf die Erkenntnisse der Menschenrechtsorganisationen oder die Anfragen zu konkreten Fällen oder zum Vorgehen der Polizei in der Erdbebenregion während des Ausnahmezustands wurde nicht eingegangen.

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