Aktuell Syrien 20. Januar 2014

Syrien-Friedenskonferenz muss Aushungern der belagerten Zivilbevölkerung stoppen

Tausende syrische Zivilisten waren gezwungen, ihre Heimat wegen der Gewalt zu verlassen

Tausende syrische Zivilisten waren gezwungen, ihre Heimat wegen der Gewalt zu verlassen

16. Januar 2014 - Die Genf II-Friedenskonferenz zu Syrien muss sich für ein sofortiges Ende der von Regierungstruppen durchgeführten Belagerung von den Städten, die von der Opposition kontrolliert werden, einsetzen. In diesen Städten und Regionen verhungern die eingeschlossenen Zivilpersonen. Im Hinblick auf die am 22. Januar in der Schweiz beginnende Friedenskonferenz fordert Amnesty International die syrische Regierung und Oppositionsgruppen auf, den vor Ort operierenden Hilfsorganisationen ungehinderten Zugang im ganzen Land zu gewähren.

"In den letzten Tagen haben uns aus den belagerten syrischen Städten herzzerreißende Bilder erreicht, die ausgemergelte Kinder und skelettartige Gestalten zeigen. Die humanitäre Krise in Syrien breitet sich mit erdrückender Geschwindigkeit aus. Wir fordern mit Nachdruck, dass die an den Genf II-Gesprächen beteiligten Staaten, die Vereinten Nationen, die syrische Regierung und die Syrische Nationale Koalition es zu ihrer obersten Priorität machen, das Leid der Menschen in Syrien zu lindern," sagte Philip Luther, Direktor der Abteilung für den Mittleren Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

"Wenn die Friedenskonferenz wie geplant vorangeht, bietet sie die seltene Chance, auf beiden Seiten des Konflikts entscheidende Fortschritte für die Menschenrechtslage zu erzielen. Die Verantwortlichen der Genf II-Konferenz müssen sicherstellen, dass Menschenrechte ganz oben auf der Verhandlungsagenda stehen und nicht einem politischen Kompromiss geopfert werden."

Abriegelung von Stadtteilen und Regionen zu Bestrafung der Zivilbevölkerung

Die syrische Regierung hat in Damaskus und Umgebung lebenswichtige Hilfslieferungen an die Zivilbevölkerung behindert. So auch im al-Yarmouk Lager für palästinensische Flüchtlinge, wo Berichten zufolge seit Juli mindestens 49 Menschen, davon 17 Frauen und Mädchen, gestorben sind, einige von ihnen durch Hungertod. Eine Krankenschwester eines örtlichen Krankenhauses hat Amnesty International berichtet, dass seit die Regierung im November 2013 die Kontrolle über das Gebiet nahe des al-Yarmouk Lagers übernommen hat, mehrere Zivilpersonen auf der Suche nach Nahrung in den nahegelegenen Feldern von Scharfschützen erschossen worden seien.
Blockaden von Moadamiya und Ost-Ghouta sowie weiterer Regionen haben dazu geführt, dass verzweifelte Zivilpersonen festsitzen und extremer Lebensmittel- und Medikamentenknappheit ausgesetzt sind. Nach Schätzungen der UN-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos befanden sich im vergangenen Monat rund 250.000 Menschen außerhalb der Reichweite jeglicher Hilfsversorgung.

Ein in Moadamiya eingeschlossener Zivilist berichtete Amnesty International: "Ich wachte nachts auf und trank immer wieder Wasser, in der Hoffnung, dass ich am Morgen nicht mehr hungrig sein würde…es gibt einfach nichts zu essen." Trotz des im Dezember in Moadamiya vereinbarten Waffenstillstands zwischen syrischen Regierungstruppen und den bewaffneten Oppositionsgruppen reicht die humanitäre Hilfe, welche in die Stadt zugelassen wurde, bei weitem nicht aus – es fehlt vor allem an nährreichen Lebensmitteln wie Obst und Gemüse.

"Die syrische Regierung bestraft in grausamer Weise die Zivilbevölkerung in den von der Opposition kontrollierten Städten. Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegsführung ist ein Kriegsverbrechen. Die Abriegelungen müssen umgehend aufgehoben und der Zugang zu humanitärer Versorgung darf niemals für die Verwirklichung militärischer oder politischer Ziele vereinnahmt werden," sagte Philip Luther.

Die syrischen Sicherheitskräfte könnten die ein- und ausgehenden Güter in den Städten inspizieren, dürfen aber nicht die Lieferung von Grundversorgungsmitteln, einschließlich Nahrung und Medikamente, blockieren. Sowohl Regierung als auch bewaffnete Oppositionsgruppen müssen außerdem den sicheren Zugang für Hilfspersonal, welches lebenswichtige humanitäre Unterstützung verteilt, gewährleisten und mit sofortiger Wirkung Angriffe auf medizinisches und humanitäres Personal beenden.

Inhaftierte AktivistInnen und ZivilistInnen

Neben der Gewährleistung humanitären Zugangs appelliert Amnesty International an die Teilnehmer der Genf II-Konferenz, insbesondere diejenigen Staaten mit Einfluss auf die syrische Regierung bzw. die bewaffneten Oppositionsgruppen, die Freilassung sämtlicher inhaftierter friedlicher AktivistInnen, einschließlich derjenigen, die die Menschenrechte verteidigen, sowie ziviler Geiseln zu erwirken.

Seit 2011 sind tausende friedliche DemonstrantInnen der Opposition von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen worden. Während es einige Freilassungen gegeben hat, sind in vielen Fällen inhaftierte Personen zu Tode gefoltert oder in unfairen Verfahren zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Andere werden weiterhin ohne Gerichtsverfahren festgehalten.
Der 25-jährige Majd al-Din al-Kholani ist einer der Inhaftierten. Er wurde 2011 nach der Organisation einer Demonstration in Daraya südwestlich von Damaskus festgenommen, nachdem er Wasserflaschen und Blumen als Zeichen gegen Gewalt gegenüber Demonstrierenden an syrische Soldaten verteilt hatte. Majd al-Din al-Kholani wird weiterhin in Isolationshaft gehalten. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen und fordert seine sofortige und bedingungslose Freilassung. Laut Berichten aus zuverlässigen Quellen wurde sein Fall an ein geheimes Militärgericht übergeben, vor dem ihm die Todesstrafe oder eine langjährige Haftstrafe droht.

Im August 2013 wurden mindesten 105 ZivilistInnen, überwiegend Frauen und Kinder, aus ihren mehrheitlich alawitsch-muslimischen Dörfern von bewaffneten Oppositionsgruppen entführt. Die Geiseln, die bis heute festgehalten werden, sollen gegen von der Regierung inhaftierte Oppositionskämpfer ausgetauscht werden. Die Teilnehmerstaaten der Genf II-Konferenz, die Einfluss auf die bewaffneten Oppositionsgruppen haben, müssen sich dringend für die Sicherheit und Freiheit der Geiseln einsetzen.

"Zu viele Menschen sind in Syrien inhaftiert, entführt oder Opfer von 'Verschwindenlassen' geworden, ohne dass ihr Schicksal bis heute aufgeklärt werden konnte. Jegliche Vereinbarung, welche im Rahmen der Genf II-Friedenskonferenz zustande kommt, muss die Freilassung der tausenden friedlichen AktivistInnen wie Majd al-Din al Kholani und jener Entführten, insbesondere Frauen und Kinder, zum Ziel haben," sagte Philipp Luther.

Weitere Forderungen

Amnesty International tritt weiter dafür ein, dass lokalen AktivistInnen und Frauenvertreterinnen in der Genf II-Friedenskonferenz gehört werden, damit auch sie einen effektiven Beitrag zur Entscheidungsfindung leisten können.

Die Organisation fordert darüber hinaus nachdrücklich den Stopp von Waffenlieferungen an die syrische Regierung, den Islamic State in Iraq and al-Sham (ISIS) sowie derjenigen bewaffneten Oppositionsgruppen, welche Kriegsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen verüben.

Amnesty International verlangt außerdem – insbesondere von den Regierungstruppen - die Beendigung von Angriffen auf nicht-militärische Ziele, sowie von allen Konfliktparteien die Einstellung der weitverbreiteten Praxis von Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen. Seit 2011 appelliert die Organisation an den UN-Sicherheitsrat, die Situation in Syrien der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs vorzulegen.

Weitere Informationen

Lesen Sie hier die vollständige Liste der Forderungen von Amnesty International an die Genf II-Friedenskonferenz

Hier finden Sie den Artikel "Syrien: 11.000 Gründe für wirksames Handeln".

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