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Wikileaks und das Recht auf freie Meinungsäußerung
Julian Assange, Wikileaks
© Demotix / Alex Milan Tracy
9. Dezember 2010 - Die Veröffentlichung von Depeschen US-amerikanischer Botschaften sorgt international weiter für heftige Kontroversen. Gerade haben Paypal, Visa und Mastercard Spendenzahlungen an Wikileaks für ihre Kunden gesperrt. Als Grund machten die Kreditkartenunternehmen geltend, dass die Website möglicherweise in illegale Handlungen verwickelt sei. Amnesty International untersucht derzeit mögliche Verstöße gegen die Menschenrechte.
Stellt eine strafrechtliche Verfolgung von Julian Assange für die Veröffentlichung von Dokumenten der US-Regierung einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung dar?
Die US-Regierung hat schon im Juli 2010 darauf hingewiesen, dass gegen Wikileaks und dessen Gründer Julian Assange Ermittlungen wegen der Verbreitung geheimer Dokumente durchgeführt werden. Eine Reihe von US-PolitikerInnen hat die strafrechtliche Verfolgung von Assange gefordert.
Für Amnesty International lassen sich Strafverfolgungen, die darauf abzielen, eine Privatperson für die Veröffentlichung von Beweismaterial zu Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen, in keiner Weise rechtfertigen. Dasselbe gilt für Informationen zu einer ganzen Reihe weiterer Angelegenheiten von öffentlichem Interesse.
Dies scheint zumindest auf eine beträchtliche Zahl der von Wikileaks veröffentlichten Dokumente zuzutreffen, sodass sich eine Strafverfolgung, die sich ganz oder zum Teil auf diese Dokumente stützt, mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung unvereinbar wäre.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein international anerkanntes Menschenrecht, das die Macht des Staates beschränkt, um den Erhalt und die Veröffentlichung von Informationen zu schützen. Die Last der Beweisführung, dass eine etwaige Einschränkung angemessen und erforderlich ist und das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht gefährdet, liegt dabei auf Seiten des Staates.
Uns ist nicht bekannt, dass wegen der Veröffentlichung der Dokumente rechtliche Schritte gegen Julian Assange eingeleitet wurden. Da derzeit keine konkrete Klage gegen ihn vorliegt, kann Amnesty International diesbezüglich auch keine Stellungnahme abgeben.
Stellt die Sperrung von Spenden an Wikileaks über den Online-Zahlungsverkehr einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung dar?
In den letzten Tagen haben Paypal, Visa und Mastercard die Möglichkeit, online für Wikileaks zu spenden, für ihre NutzerInnen gesperrt und sich darauf berufen, dass Wikileaks möglicherweise an illegalen Aktivitäten beteiligt sei. Es wurde spekuliert, dass diese Sperrung auf Druck der US-Regierung erfolgt sei.
Amnesty International liegen keine Informationen vor, die diese Spekulation stützen oder widerlegen, betont jedoch, dass Regierungen ihre Verpflichtung, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu respektieren, nicht umgehen können, indem sie etwas indirekt tun, was ihnen direkt untersagt ist. Auch Unternehmen sollten darauf achten, bei all ihren Aktivitäten die Menschenrechte stets zu respektieren.
Stellt die Strafverfolgung von MitarbeiterInnen der US-Regierung, die möglicherweise Dokumente an Wikileaks weitergegeben haben, eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung dar?
Der US-Soldat Private Bradley Manning befindet sich derzeit in Haft und soll u. a. wegen der Weitergabe militärischer Geheimnisse angeklagt werden.
Staatsbedienstete haben zwar das Recht auf freie Meinungsäußerung, aber auch Pflichten in ihrer Funktion als Beschäftigte. So kann eine Regierung ihren MitarbeiterInnen mehr Einschränkungen auferlegen als Privatpersonen, die Informationen erhalten oder weitergeben.
Allerdings hätte Amnesty International Bedenken, wenn eine Regierung versuchen sollte, eine Person zu bestrafen, die aus Gewissensgründen auf verantwortliche Weise Informationen weitergegeben hat und zwar in dem guten Glauben, dass es sich dabei um Beweismaterial zu Menschenrechtsverletzungen handelt, die die Regierung vor der Öffentlichkeit geheimzuhalten versucht.
Haben Regierungen das Recht, diplomatische Gespräche und Verhandlungen geheimzuhalten, wenn es ihrer Ansicht nach im nationalen Interesse ist?
Natürlich können Regierungen sich allgemein darum bemühen, ihre Kommunikation durch technische Mittel oder die Verpflichtung ihrer MitarbeiterInnen zur Geheimhaltung vertraulich zu halten. Es ist jedoch nicht legitim, dass Regierungen unter der vagen Berufung auf die nationale Sicherheit oder das nationale Interesse Beweise für Menschenrechtsverstöße zu verschleiern versuchen.
Wenn Informationen in die Hände von Privatpersonen gelangt sind, können Staaten zudem nicht einfach pauschal ein nationales Interesse geltend machen, um Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen, die eine weitere Veröffentlichung oder Diskussion der Informationen verhindern sollen.
Internationale Menschenrechtsabkommen lassen eine Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung von staatlicher Seite nur bei spezifischen und sehr eng gefassten Gründen zu. Dazu gehören die Bereiche nationale Sicherheit, öffentliche Ordnung, öffentliches Allgemeinwohl oder öffentliche Moral sowie der Schutz der Rechte und des Ansehens Dritter. Doch auch wenn einer dieser Gründe vorliegen sollte, besitzt kein Staat einen Blankoscheck, um Informationen geheimzuhalten oder Personen für ihre Veröffentlichung zu bestrafen, indem er sie einfach als "geheim" deklariert oder es als erforderlich erklärt, ihre Veröffentlichung im Rahmen der "nationalen Sicherheit" einzuschränken: Der Staat muss nachweisen, dass die jeweiligen Einschränkungen angesichts der Bedrohung angemessen und erforderlich sind, die diese Maßnahmen rechtfertigen soll.
Ist Amnesty International beunruhigt angesichts der möglichen Gefahr, die die veröffentlichten Informationen für einzelne Personen darstellen könnten?
Amnesty International hat Wikileaks immer wieder aufgefordert, jede erdenkliche Anstrengung zu unternehmen, um zu gewährleisten, dass einzelne Personen keinem höheren Risiko für Gewalt oder andere Menschenrechtsverstöße ausgesetzt sind, weil sie beispielsweise aus den Dokumenten als Informationsquellen hervorgehen.
Diese Risiken sind jedoch ganz anderer Art als das Risiko, öffentlich bloßgestellt oder zur Verantwortung gezogen zu werden, das den Beamten droht, die in den Dokumenten der Beteiligung an Menschenrechtsverstößen oder anderer Vergehen überführt werden.
Enthalten die diplomatischen Depeschen, die von Wikileaks veröffentlicht wurden, relevante Informationen zum Thema Menschenrechtsverletzungen?
Einige der veröffentlichten Dokumente des US-Außenministeriums liefern eine Bestätigung oder weitere Einzelheiten zu Menschenrechtsverletzungen, die von Am-nesty International in der Vergangenheit bereits öffentlich angesprochen wurden. Hier einige Beispiele:
In der Depesche vom Februar 2007 geht es um den Widerstand der USA angesichts des möglichen Erlasses internationaler Haftbefehle gegen dreizehn AgentInnen des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA durch deutsche Behörden. Die AgentInnen sollen an der Überstellung und dem "Verschwindenlassen" von Khaled El-Masri beteiligt gewe-sen sein. Amnesty International hat dazu eine Reihe von Berichten veröffentlicht, zuletzt am 15. November 2010: "Open Secret: Mounting Evidence of Europe’s Complicity in Rendition and Secret Detention" [etwa: Ein offenes Geheimnis: Zunehmende Beweise einer europäischen Beteiligung an Überstellungen und geheimer Haft]
Die Depesche vom Januar 2010 über ein Treffen zwischen dem jemenitischen Präsidenten und Angehörigen des US-Militärs bestätigt frühere Erkenntnisse von Amnesty International, nach denen bei dem Angriff auf die Gemeinde Al-Ma'jalah in der Provinz Abian im Südjemen am 17. Dezember 2009 ein US-amerikanischer Marschflugkörper eingesetzt wurde. Amnesty International hatte die US-Regierung aufgefordert, ihre Beteiligung an dem Angriff zuzugeben – ungeachtet der Tatsache, dass die jemenitische Regierung behauptete, diesen allein durchgeführt zu haben.
Auch in früheren Veröffentlichungen von Wikileaks zu den Kriegen in Afghanistan und Irak wurden Informationen bestätigt, die wir aus anderen Quellen erhalten haben. Neben vielen anderen Informationsquellen wird Amnesty International auch weiterhin für die Menschenrechte relevante Informationen aus Dokumenten bewerten und zitieren, die von Wikileaks verfügbar gemacht wurden.
Sind die Versuche, Julian Assange wegen des Vorwurfs von Sexualdelikten an Schweden auszuliefern, politisch motiviert?
Berichten zufolge stehen die Vorwürfe, die in Schweden gegen Julian Assange erhoben werden, in keinem Zusammenhang mit den Veröffentlichungen von Wikileaks. Spekulationen zufolge wird der Fall von den schwedischen und anderen Behörden nicht ordnungsgemäß gehandhabt und auf eine Weise behandelt, die als Folge der allgemeinen Kritik betrachtet werden kann, denen Julian Assange wegen der Aktionen von Wikileaks ausgesetzt ist. Amnesty International liegen jedoch bisher keine Informationen vor, die solche Spekulationen bestätigen oder entkräften würden.
Wie bei jedem anderen Strafverfahren sollte ein ordentliches Gerichtsverfahren durchgeführt werden. Amnesty International wird den weiteren Verlauf des Falles genau beobachten.
Wie steht Amnesty International zu der neusten Veröffentlichung von Dokumenten durch Wikileaks?
Amnesty International begrüßt alle Bemühungen, Informationen über Menschenrechtsverstöße öffentlich zugänglich zu machen. Wikileaks hat öffentlich angekündigt, in den kommenden Wochen bzw. Monaten nach und nach Tausende von Dokumenten zu veröffentlichen, und Amnesty International wird alle Dokumente, in denen sich Informationen zu Verstößen gegen die Menschenrechte finden könnten, sorgfältig untersuchen.
Auch wenn nicht alle aktuell von Wikileaks veröffentlichten Dokumente relevante Informationen zu Menschenrechtsverstößen enthalten, möchten wir betonen, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung das Recht auf den Erhalt und die Weitergabe von Informationen aller Art, für das es nur ganz wenige Ausnahmen gibt, beinhaltet.