Marokko: Prozessauftakt gegen Journalisten

Porträt von einem Mann, der eine Lederjacke trägt und vor einem Gebäude steht.

Der marokkanische Journalist Omar Radi in Casablanca (Archivaufnahme)

Am 23. März setzte ein Untersuchungsgericht den Termin für den Prozessauftakt fest: Am 6. April soll die Gerichtsverhandlung gegen den marokkanischen Investigativjournalisten Omar Radi beginnen. Der erklärte Kritiker der Menschenrechtsbilanz der Regierung wird seit neun Monaten im Oukacha-Gefängnis in Casablanca in Untersuchungshaft festgehalten. Die Vorwürfe gegen Omar Radi lauten "Gefährdung der Staatssicherheit" und "Vergewaltigung". Im Juni 2020 hatte ein Bericht von Amnesty International offengelegt, dass die Behörden das Telefon von Omar Radi rechtswidrig abhörten. Einen Monat später wurde der Journalist festgenommen.

Appell an

Premierminister

Saad Dine El-Othmani

Palais Royal Touarga

10070 Rabat

MAROKKO

Sende eine Kopie an

Botschaft des Königreichs Marokko
I.E. Frau Zohour Alaoui
Niederwallstraße 39

10117 Berlin

Fax: 030–2061 2420
E-Mail: kontakt@botschaft-marokko.de

Amnesty fordert:

  • Bitte lassen Sie Omar Radi frei, während er auf seinen Prozess wartet und sich diesem unterzieht.  Nach internationalem Recht sollte Untersuchungshaft nur in Ausnahmefällen angewendet werden und nur dann, wenn die Behörden eine besondere Gefahr nachweisen können, beispielsweise wenn Fluchtgefahr besteht. Omar Radi steht bereits unter einem Reiseverbot und hat zugesagt, sich dem Gerichtsprozess zu stellen.
  • Bitte lassen Sie die Anklage gegen Omar Radi wegen "Gefährdung der Staatssicherheit" fallen, da sie sich auf die legitime Ausübung seiner journalistischen Tätigkeit bezieht.
  • Außerdem bitte ich Sie, Omar Radi in Übereinstimmung mit den internationalen Standards das Recht auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren zu gewährleisten.

Sachlage

Der Journalist Omar Radi wird seit dem 29. Juli 2020 in Untersuchungshaft festgehalten. Am 23. März 2021 erhob ein Untersuchungsgericht Anklage wegen "Gefährdung der Staatssicherheit". Er habe Gelder aus Quellen erhalten, die "mit ausländischen Geheimdiensten in Verbindung stehen". Nach Recherchen von Amnesty International hat Omar Radi Gelder aus dem Ausland für freiberufliche Beratertätigkeiten sowie Forschungszuschüsse im Rahmen eines Journalismus-Stipendiums erhalten. Beides steht im Zusammenhang mit seiner Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Daher bestehen ernsthafte Bedenken, dass die Anklage konstruiert ist und ein Muster widerspiegelt, das die marokkanischen Behörden zur Einschüchterung von Kritiker_innen verwenden. Eine ähnliche Anklage wurde 2015 gegen den Akademiker Maati Monjib erhoben, weil er rechtmäßig Gelder von einer ausländischen zivilgesellschaftlichen Organisation erhalten hatte.

Darüber hinaus ist Omar Radi wegen "Vergewaltigung" und "sexueller Belästigung" angeklagt. Diese Vorwürfe basieren auf den Anschuldigungen einer Frau, die behauptet, er habe sie am 12. Juli 2020 angegriffen. Omar Radi bestreitet dies und beteuert, er habe eine "einvernehmliche sexuelle Beziehung" mit ihr gehabt. Der Zeuge in diesem Fall, Journalist Imad Stitou, der bei dem angeblichen Vorfall anwesend war, bestritt während der gesamten Ermittlung, dass eine Vergewaltigung stattgefunden habe. Infolgedessen wurde Imad Stitou ebenfalls angeklagt – wegen Beihilfe zur Vergewaltigung. Sein Prozess ist ebenfalls für den 6. April 2021 angesetzt.

Ein sexualisierter Übergriff ist eine schwerwiegende Straftat. Deshalb rechtfertigen die bestehenden Anschuldigungen die Untersuchung und Strafverfolgung im Rahmen eines gerechten Strafprozesses. Obschon solche Anschuldigungen im Einzelfall überprüft werden müssen und Amnesty International sich nicht zuspricht, über ihre Glaubwürdigkeit zu urteilen, gibt es Bedenken, weil sich in letzter Zeit ein Muster abgezeichnet hat, wonach Regierungskritiker_innen gehäuft wegen sexualisierter Übergriffe angeklagt und inhaftiert wurden, nachdem sie von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hatten. So befand die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen, dass die Inhaftierung des Herausgebers einer oppositionellen Zeitung im Zusammenhang mit Vergewaltigungsvorwürfen "juristischer Schikane" gleichkam, die "auf nichts anderes als seinen investigativen Journalismus zurückzuführen" war.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Omar Radi ist Investigativjournalist und Aktivist. Er ist einer der Gründer der unabhängigen marokkanischen News-Website Le Desk, für die er als Journalist tätig ist. Er hat bereits mit mehreren nationalen und internationalen Medien gearbeitet, darunter der Radiosender Atlantic Radio, die Zeitschriften Le Journal Hebdomadaire und TelQuel sowie die News-Website Lakome. Bei seinen Untersuchungen lag der Fokus auf politischen Themen, darunter die Beziehungen zwischen politischen Kräften und der Wirtschaftselite in Marokko sowie Korruptionsvorwürfe gegen die Behörden. 2013 gewann er für eine Reportage über die Ausbeutung von Sandsteinbrüchen den ersten Preis für investigativen Journalismus der NGO International Media Support (IMS) und der Association of Moroccan Investigative Journalists (AMJI). Die Reportage wurde auf Lakome publiziert. Außerdem war Omar Radi 2016 Autor eines Berichts, der unter dem Namen "Servants of the State" bekannt wurde, in welchem er die Namen von ca. 100 hohen Beamt_innen veröffentlichte, denen der rechtswidrige Erwerb von Staatsländereien vorgeworfen wurde.

Vor seiner Festnahme wurde Omar Radi siebenmal von Beamt_innen des Zentralbüros für juristische Ermittlungen (Bureau central d'investigation judiciaire – BCIJ) in Casablanca verhört. Die erste Befragung am 25. Juni 2020 dauerte über fünf Stunden. Die Ermittlungsbeamt_innen beschuldigten ihn, von Quellen Gelder erhalten zu haben, die mit ausländischen Nachrichtendiensten in Verbindung stünden. Er wurde am 2., 9., 13., 17., 20. und 25. Juli erneut zu Befragungen vorgeladen. Die Staatsanwaltschaft des erstinstanzlichen Gerichtes in Casablanca klagte Omar Radi wegen "sexueller Belästigung", "Vergewaltigung" sowie "Untergrabung der äußeren Sicherheit des Landes" an. Er hätte "durch die Aufrechterhaltung von Beziehungen zu Agenten ausländischer Behörden der militärischen und diplomatischen Lage Marokkos schaden (wollen)". Außerdem wird ihm die "Gefährdung der Staatssicherheit" vorgeworfen: Er habe Gelder aus dem Ausland erhalten, was die "Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit des Königreichs beeinträchtigen oder die Loyalität der Bürger gegenüber dem Staat und den Institutionen des marokkanischen Volkes erschüttern könnte". Die Vorwürfe gegen ihn fußen auf den Paragrafen 485, 486, 191 und 206 des Strafgesetzbuches. Die Anhörungen zu diesen Anklagepunkten begannen am 22. September 2020.

Die Schikane der marokkanischen Behörden gegen Omar Radi ist nicht neu. Am 17. März 2020 verhängte ein marokkanisches Gericht eine viermonatige Gefängnisstrafe auf Bewährung sowie eine Geldstrafe von 500 marokkanischen Dirham (knapp 50 Euro) gegen Omar Radi, weil er in einem Tweet einen Berufungsrichter kritisiert hatte, der langjährige Gefängnisstrafen gegen Hirak El-Rif-Aktivist_innen aufrechterhalten hatte. Auch zuvor wurde Omar Radi schon von der Regierung schikaniert. 2016 und 2017 berichtete er über Proteste von Hirak El-Rif, einer sozialen Bewegung, die sich für soziale und wirtschaftliche Rechte in der Randregion Rif im Norden von Marokko einsetzt. 2018 war er Co-Regisseur eines Dokumentarfilms mit dem Namen Death Over Humiliation, der die Kämpfe von Hirak El-Rif in der Provinz Al Hoceima dokumentiert.

In einem weiteren Fall wurden Omar Radi und sein Kollege Imed Stitou in der Nacht vom 4. Juli 2020 festgenommen und für 48 Stunden in Polizeigewahrsam gehalten. Am 6. Juli wurden sie der Staatsanwaltschaft des Distrikts Aïn Sebaâ von Casablanca vorgeführt. Die Anklagepunkte lauteten "öffentliche Trunkenheit" und "Gewalt". Am selben Tag eröffnete das Gericht einen Prozess gegen sie, legte die erste Anhörung auf den 24. September und ordnete bis dahin ihre Freilassung an. Omar Radi gab an, dass Imed Stitou und er auf der Straße von einem Journalisten des Fernsehsenders ChoufTV verfolgt und in eine Auseinandersetzung verwickelt worden seien. ChoufTV wird als regierungstreuer Fernsehsender angesehen. Nachdem die Anhörung in diesem Fall sechsmal verschoben wurde, war der neue Termin auf den 1. April 2021 festgesetzt.

Der Bericht von Amnesty International vom 22. Juni 2020 enthüllte Beweise, dass die marokkanischen Behörden Omar Radi gezielt mit einer Spyware der israelischen NSO-Gruppe überwachten. Nach der Veröffentlichung des Berichts starteten die marokkanischen Behörden eine Verleumdungskampagne gegen Amnesty International. Damit wollten sie die Forschungsergebnisse der Organisation diskreditieren und von den rechtswidrigen Überwachungsaktionen gegen Menschenrechtsverteidiger_innen und Journalist_innen ablenken. Bereits im Oktober 2019 hatte Amnesty International einen Bericht publiziert, der bewies, dass die marokkanischen Menschenrechtsverteidiger Maati Monjib und Abdessadak El Bouchattaoui – ähnlich wie Omar Radi – mit der Überwachungstechnologie der NSO-Gruppe überwacht wurden. Amnesty International betont die Bedrohung für die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit in Marokko durch diese unrechtmäßige, gezielte Überwachung.