Amnesty Journal Deutschland 25. Juli 2016

"Engagiert euch"

Zeichnung eines Zelts

Ankunftszeit in Deutschland: Hunderttausende Flüchtlinge müssen menschenwürdig untergebracht werden. Dies thematisiert der Deutsche Pavillon auf der 15. Internationalen Architektur-Biennale in Venedig. Die Projektkoordinatorin Anna Scheuermann sieht Architekten und Städteplaner in sozialer Verantwortung.

Interview: Lena Reich

Der Deutsche Pavillon steht in diesem Jahr unter dem Motto "Making Heimat." Kann man Heimat "machen"? Deutschland ist weder starr an den historischen Heimatbegriff noch an den Wohnungsbau gebunden. Das haben wir mit dem "offenen Pavillon" in Venedig erfolgreich zum Ausdruck gebracht: Der 1909 von einem Italiener erbaute und 1938 durch den deutschen Architekten Ernst Haiger erweiterte Pavillon für die Biennale stand bisher unter Denkmalschutz. Es gab in der jüngsten Vergangenheit Vorschläge, ihn abzureißen. Wir haben stattdessen einige Wände geöffnet. So wie sich eben durch die Flüchtlingspolitik in Deutschland der Blick der Gesellschaft für die Zukunft öffnen sollte. Die Flüchtlingskrise und den demografischen Wandel müssen wir als Chance begreifen und nutzen.

Kann Architektur so dynamisch sein? Na klar. Es muss nicht immer Jahre dauern, bis das Supergebäude steht – oder auch nicht. Einige der Flüchtlingsunterkünfte, die auf unserer Website zu sehen sind, sind in kurzer Zeit entstanden. Zum Beispiel das Wohn- und Gemeinschaftsgebäude im hessischen Hünfeld des Architekturbüros "trapp wagner", das in nur viereinhalb Monaten errichtet wurde.

Ihr Biennale-Beitrag basiert auf der Idee der "Arrival City" des britischen Autors Doug Saunders. Er fordert dynamische Viertel in der Stadt, die in der Lage sind, Fremde aufzunehmen und ihnen schnell eine neue Heimat zu bieten. Saunders hat weltweit in Problemvierteln recherchiert, die von Migration und Armut geprägt sind: in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End, in den Banlieues von Paris, den Favelas von Rio de Janeiro oder den Barrios in Los Angeles. Saunders ist überzeugt davon, dass wenn die "Arrival City" klug strukturiert ist, hieraus ein neues Bürgertum entstehen kann. Die architektonischen Vorschläge, die wir auf unserer Website gesammelt und im Deutschen Pavillon in Venedig präsentiert haben, umfassen nicht nur den sozialen Wohnungsbau, sondern gehen auch andere Bauaufgaben und den Städtebau an.

Weltweit wird das Recht auf Wohnen ignoriert. Ist die "Arrival City" eine Chance für die Menschenrechte? Die acht Thesen "Die Arrival City ist/braucht …" bilden die Grundlage für eine funktionierende "Arrival City", in der die Menschenrechte selbstverständlich gewahrt werden müssen: Die "Arrival City" ist eine Stadt in der Stadt. Sie ist informell und selbst gebaut, wie die Favelas. Sie ist bezahlbar und durch ihre Ebenerdigkeit stemmt sie den "Integrationsmotor Arbeit" – hier können Läden eröffnet werden – und sie ist verknüpft mit weiteren Arbeitsorten. Das Recht auf eine Bleibe, die an Wasser und Stromversorgung angeschlossen ist, ist genauso unabdingbar wie die Möglichkeit für Kinder, ihr Recht auf Bildung und auch die Pflicht dazu in Anspruch zu nehmen und einen Schulweg zu haben, den sie meistern können. Daher fordern wir: Die "Arrival City" braucht die besten Schulen. In unserer städtischen Idee kann man günstig und gut wohnen, hat Zugang zu Bildungs- und Freizeitangeboten, die zu einer stabilen Entwicklung beitragen. Das alles ist aber nur zu schaffen, wenn Architekten, Stadtplaner und Kommunen gemeinsam neue Wohnungsbautypen finden und vorhandene Wohnviertel in ihrer baulichen Eigenart respektiert werden. Vielleicht bringen uns auch die "Self-Built"-Vorschläge des chilenischen Architekten Alejandro Aravena auf neue Lösungen.

Aravena ist in diesem Jahr Direktor der Biennale und propagiert einen partizipativen sozialen Wohnungsbau: Ein Rohbau wird von den Bewohnern weitergebaut – dies stärkt Eigenverantwortung und Integration. Lassen sich solche Konzepte auch in Deutschland zeitnah umsetzen? Ähnliche Konzepte werden bereits von Architekten wie beispielsweise "Praeger Richter" in ihren Ausbauhäusern oder "BeL" in ihrem Wohnprojekt für die städtische Projektentwicklung IBA Hamburg getestet und ausgeführt. Auch die neuen Baugemeinschaften, wie sie im Laufe der vergangenen Jahre etwa in Berlin oder Frankfurt entstanden sind, basieren auf dem Konzept, durch Eigeninitiative den Wohn- und Städtebau mitzugestalten – und sich von der Herrschaft der Investoren zu lösen. Das müsste natürlich und vor allem auch für die vielen Migranten gelten, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind. Allerdings wird die wohnliche Integration oft noch durch Sparmaßnahmen und Alltagsrassismen behindert.

Asylbewerber, die in einer Massenunterkunft wohnen, dürfen keine Möbel besitzen und nicht selbst kochen. Wie kann eine Integration in den Unterkünften ermöglicht werden? Es sollte nach einem beschleunigten Asylverfahren keine reinen Flüchtlingsunterkünfte mehr geben, sondern früh auf eine Kombination mit Studentenwohnungen oder mit bezahlbarem Wohnungsbau geachtet werden. Die sich ergebende Chance wäre ähnlich wie bei den Baugruppen: Es können neue Wohngemeinschaften entstehen und mit ihnen neue Gemeinschaftsräume.

Ließen sich so die Probleme des mangelnden bezahlbaren Wohnraums, der fehlenden Durchmischung und der Verdrängung bestimmter Gruppen überwinden? Wenn in den Städten genügend Platz und Wohnraum für alle da wäre, müsste nicht so viel Verdrängung stattfinden. Da gibt es kein Patentrezept, außer: Es sollte einfach mehr durchmischte Stadtviertel wie die "Arrival Cities" geben. Wenn Sie etwa nach Offenbach ins Nordend schauen, gibt es dort sozialen Wohnungsbau neben hippen Loftausbauten und das Zusammenleben funktioniert gut, weil jeder dort seine Heimat findet und eine eigene wichtige Rolle spielt.

Für Großevents wie die Olympischen Spiele oder die Fußball-WM werden immer wieder provisorische Viertel mit Bull­dozern abgeräumt. Müssen Slums ein Dorn im Auge der Stadtplaner bleiben? Slums wird es immer geben und wenn sie verdrängt werden, entstehen sie wieder an anderer Stelle. Wichtiger ist es, diese nicht zu meiden, sondern sie in ihrer Entwicklung zu eigenständigen Stadtvierteln zu unterstützen. Jede Gesellschaft braucht solche Durchgangsstationen. Eine globale Generallösung gibt es nicht, dafür sind diese Orte viel zu unterschiedlich.

In welcher sozialen Verantwortung sehen Sie Architekten und Stadtplaner? Ich kann nur sagen: Engagiert euch! Jetzt ist die Stunde der Architekten und Stadtplaner, um im Wohnungs- und Städtebau sowie bei der Integration der neuen Mitbürger langfristige ­Lösungsvorschläge zu machen.

Weitere Informationen: www.makingheimat.de

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