Amnesty Journal 22. Juli 2016

Bomben in Bagdad, Bomben in Brüssel

Bomben in Bagdad, Bomben in Brüssel

In der deutschen Sprache zuhause. Schriftsteller Najem Wali, gebürtiger Iraker, in seiner Heimatstadt Berlin

Der deutsch-irakische Schriftsteller Najem Wali ist nach Brüssel gereist, um im "Problemviertel" Molenbeek vor jungen arabischen Migranten zu lesen – und mit ihnen über Heimat, Integration und Terror zu diskutieren.

Von Markus Bickel

Was machen wir jetzt?", fragt Najem Wali sein Publikum etwas ratlos, als der offizielle Beginn der Lesung längst mehr als zwei Stunden zurückliegt – ohne dass der irakische Exilschriftsteller auch nur eine Zeile gelesen hätte. Aus den Lautsprechern tönt arabische Musik, belgische Bierflaschen machen die Runde. Die Themen, um die die Gespräche kreisen, sind immer dieselben: Integration, Heimweh sowie die bürokratische Kleinkrämerei der Behörden.

"Deutsche Pünktlichkeit lassen wir heute einmal bei­seite", sagt Wali mit einem Lachen und löst sich dann doch aus dem Kreis junger Iraker und Syrer, die an diesem sonnigen Abend in die lichtdurchflutete Wohnung am Rande des Brüsseler Viertels Molenbeek gekommen sind, um ihn lesen zu hören.

Das Goethe-Institut hat den streitlustigen Autor, der 1956 im irakischen Basra geboren wurde und heute in Deutschland lebt, in die belgische Hauptstadt geladen. "Der Durst nach Wissen ist in der Luft und in den Genen geblieben", sagt Wali, als er endlich begonnen hat, aus seinem jüngsten Buch "Bagdad – Erinnerungen an eine Weltstadt" zu lesen.

Vom schweren Anschlag auf das Café Shahbandar auf Bagdads Literaturmeile Mutanabbi im Jahr 2006 berichtet er. Über Jahrhunderte war die Straße nahe des Tigris das kulturelle Herz der irakischen Hauptstadt. Doch nach den Jahren des Terrors in Folge des amerikanischen Einmarschs 2003 benötigten die Buchhändler viel Zeit, um sie wieder zum Leben zu erwecken.

Bomben in Bagdad, Bomben in Brüssel. Wali selbst zieht den Vergleich, spricht vom Widerstandsgeist der Iraker, die sich durch die tägliche Gewalt die Lust am Leben und an der Kultur nicht nehmen ließen, und von den Solidaritätsbekundungen vieler Bagdader nach den Terroranschlägen in Brüssel im März 2016. Dass er am Rande des Migrantenviertels Molenbeek liest, gibt dem Auftritt eine besondere Note: Schließlich war das Quartier im Westen der belgischen Hauptstadt schon lange vor den Anschlägen als Islamistenhochburg ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten. Auch die Drahtzieher für das Massaker von Paris im November 2015 versteckten sich hier.

Bereits Anfang des Jahres hatte ihn die Leiterin des Brüsseler Goethe-Instituts deshalb gefragt, ob er nicht zu einer Hauslesung kommen wolle – ein Wunsch, dem Wali nach den Bomben mit den Worten "jetzt erst recht" nachkam. "Ganz Brüssel ist Molenbeek", stellt er später am Abend fest, als die Sonne untergegangen und der Ruf des Muezzins aus der benachbarten Moschee verklungen ist. Nicht, weil hier überall Attentäter lauerten, wie es manche Medien suggerierten, sondern weil die jüngsten Entwicklungen für das Scheitern einer Einwanderungspolitik stünden, die sich nun zu wiederholen drohe. Schließlich versäume es der Staat abermals, den vielen Neuankömmlingen Perspektiven zu bieten.

Dass Belgien und Frankreich mit der Verhängung des Ausnahmezustands auf den Terror reagiert hätten, hält Wali ebenfalls für einen Fehler. Ein Zeichen von Schwäche sei das, nicht von Stärke. Man spiele damit auch dem autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in die Hände: Weshalb solle dieser sich Kritik an seinen Notstandsgesetzen gefallen lassen, wenn im Herzen Europas ebenfalls die Verfassung außer Kraft gesetzt werde? Eine Handvoll schwer bewaffneter Soldaten und Militärtransporter steht auch am Ende der Straße, in der die Hauslesung stattfindet.

Maschinengewehre und gepanzerte Fahrzeuge am Flughafen Zaventem hatten bei Wali bereits nach der Landung Erinnerungen an Bagdad geweckt.
Den meisten der rund 25 Gäste ist die innere Aufrüstung der EU-Hauptstadt nicht einmal ein Schulterzucken wert. Sie sind froh, den Krisen und Kriegen in ihren Herkunftsländern entkommen zu sein. Viele der jungen Iraker und Syrer im Raum schafften erst im vergangenen Sommer die Flucht aus Nahost, einige warten aber auch schon seit zwei Jahren auf eine endgültige Aufenthaltserlaubnis. Mit Humor reagiert Wali auf ihre Fragen nach der schleppenden Arbeit der Ausländerämter und anderen Alltagssorgen im emotional wie klimatisch kalten Europa.

Heiß gefragt ist sein Rat – und glaubwürdig. Schließlich war er 1980 selbst erst 23 Jahre alt, als er vor den Schergen Saddam Husseins aus dem Irak floh und über die Türkei in den Norden gelangte.

Er hat das Soldbuch von damals mitgebracht, das er kurz nach Beginn des Irak-Iran-Krieges an entscheidender Stelle fälschte. Ansonsten hätten ihn die Grenzer nicht aus dem Land gelassen – und er wäre zum Wehrdienst eingezogen worden. Auch das eine Erfahrung, die er mit den jungen Geflüchteten teilt, ungeachtet des Generationenunterschieds – und ungeachtet der Tatsache, dass seine Antworten auf ihre drängenden Fragen bisweilen hart klingen: "Wer es hier schaffen will, muss wie ein Baby bei null anfangen", sagt er. Und: "Zurückzugehen ist keine Schande."

Ihm selbst sei die Integration vielleicht nur deshalb gelungen, weil er von Anfang an über "zwei Heimaten" verfügt habe – neben der Erinnerung an die vertrauten Orte und Menschen im Irak war das die deutsche Sprache. Schon während des Germanistikstudiums in Bagdad in den siebziger Jahren hatte er sich so sehr in die deutsche Literatur vertieft, dass sie ihm später in vielen Situationen als Schutzschild gegen Anfeindungen diente. "Das ist nicht Deutschland", habe er sich immer gesagt, wenn er wieder einmal angepöbelt wurde, und sich dann in die Werke seiner Lieblingsautoren geflüchtet.

Erich Maria Remarque nennt er als ersten. Dass Kritiker Walis zuletzt erschienenen Roman, "Bagdad Marlboro", auf eine Stufe mit Remarques Antikriegsroman "Im Westen nichts Neues" stellten, freute ihn sehr. Ebenso die Aufnahme in die Jury des diesjährigen Deutschen Buchpreises. Dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ihn als einziges Mitglied mit Migrationshintergrund auswählte, empfindet er als Anerkennung.

Eine "wunderbare Geste" sei das – und eine Öffnung hin zu den vielen Außenseitern, die längst ebenso Teil der Gesellschaft seien wie jene Deutschen, die immer noch nicht wahrhaben wollten, dass das Land sich gewandelt habe seit den Tagen der Anwerbung südeuropäischer Gastarbeiter vor einem halben Jahrhundert.

Die politisch bewussten Schriftsteller jener Zeit, wie Heinrich Böll und Günter Grass, haben Wali geprägt. Engagierte Literatur hingegen, wie sie in Lateinamerika bis heute veröffentlicht wird, vermisse er derzeit in Deutschland. Erst 2015 war er in Mittelamerika auf Lesetour – eine erfreuliche Folge seiner Jahre in Spanien, seiner zweiten europäischen Heimat. 1988 zog er von Hamburg nach Madrid, wo er Spanische Literatur studierte, ehe er drei Jahre später ins wiedervereinte Deutschland zurückkehrte. 1991 erhielt er dann die deutsche Staatsbürgerschaft.

Wali kann viele Anekdoten aus seinen Anfangsjahren erzählen und herzhaft darüber lachen. So war es nur ein Zufall, dass man ihn 1984 nach zwei Aufenthalten in Abschiebehaft doch nicht in das "Land von tausendundeiner Diktatur und tausend­undmehr Kriegen" zurückschickte, wie er sein Geburtsland nennt. Weil einer der Richter in einer Anthologie auf seine Texte gestoßen war, zitierte er während des Verfahrens daraus – als Beleg dafür, dass ihm im Falle einer Abschiebung in den Irak politische Verfolgung drohe.

Dabei war er bereits 1979 nur durch ein Wunder dem Gefängnis entkommen, nach Wochen der Folter. Traumatisiert von der Zeit in der überfüllten Zelle habe er deshalb später in Hamburg seine Wohnungstür immer offen stehen lassen – auch als ihn sein Vermieter darauf hinwies, dass das die Heizkosten in die Höhe treibe.

An diesem Abend sind es die belgischen Gastgeber, die ihn gar nicht zur Tür hinauslassen wollen – und die gemeinsam mit den jungen Irakern auch beim herzlichen Abschied auf dem Gehweg vor dem Haus noch an Walis Lippen hängen. Er werde wiederkommen, verspricht er. Zu einer Vorführung des Dokumentarfilms "Iraqi Odyssey" des Regisseurs Samir, der den Untergang der goldenen Jahre Bagdads ebenso beklage wie er in seinen Büchern und damit zugleich die Erinnerung an eine glorreiche Epoche wachhalte.

Der Autor war bis 2015 Nahost-Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Kairo. Heute arbeitet er als Journalist in Berlin.

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