Amnesty Journal Bangladesch 28. November 2013

In der Nähstube der Welt

Meist arbeiten beide Ehepartner zwölf Stunden und mehr am Tag.

Meist arbeiten beide Ehepartner zwölf Stunden und mehr am Tag.

Bangladesch zahlt den niedrigsten Mindestlohn der Welt. Entsprechend desolat
sind die Arbeitsbedingungen im Land. Daran hat sich auch nach den Katastrophen
in der Textilindustrie nichts geändert.

Von Bernhard Hertlein

Mitte September 2013 lud die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) westliche Textilproduzenten nach Genf ein. Anlass war der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Savar nördlich der bangladeschischen Hauptstadt Dhaka, bei dem fünf Monate zuvor mindestens 1.133 Menschen getötet worden waren. Die ILO wollte auf dem Treffen über die Arbeitsbedingungen in Bangladesch und über Entschädigungen für die Überlebenden und die Hinterbliebenen der Opfer von Rana Plaza diskutieren.

Etwa ein Drittel der Unternehmen reiste gar nicht erst an, darunter Adler, C&A, Benetton, Inditex (Zara) und NKD. Die US-Konzerne Walmart und Gap hatten es zuvor bereits abgelehnt, ein Abkommen zur Gebäudesicherheit zu unterzeichnen, das die deutsche Bundesregierung und die Kampagne für saubere Kleidung angestoßen hatten. Darin verpflichteten sich mehr als 70 Unternehmen, ihre bangladeschischen Geschäftspartner bei Umbau- und anderen Maßnahmen finanziell zu unterstützen.

Im "Center for the Rehabilitation for the Paralysed" in Savar werden immer noch etwa 120 Schwerverletzte des Rana Plaza-Einsturzes behandelt. Die 23-jährige Rotna wurde erst zwei Tage nach dem Unglück gerettet. Schwer verletzt lag sie die ganze Zeit im Dunkeln, stets bei Bewusstsein. Dann reichte ihr endlich jemand eine Wasserflasche. Doch dauerte es noch eine weitere halbe Stunde, bis sie gerettet werden konnte.

Jetzt geht Rotna an Krücken, sie hat kein Gefühl mehr in den Beinen. Es ist schwer vorstellbar, dass sie wieder in einer Textilfabrik arbeiten kann. Rotna spricht von Selbstmord. Auf ihren Mann, mit dem sie schon als 15-Jährige verheiratet wurde, kann sie sich nicht verlassen. Er hat die 10.000 Taka (etwa 95 Euro), die Rotna von der bangladeschischen Regierung als Soforthilfe bekam, an sich genommen und kommt fast nie ins Krankenhaus.

Ob Rotna und all die ­anderen Opfer von Rana Plaza eine Entschädigung erhalten werden, war bis Anfang November noch nicht entschieden. Auch eine Anhebung des staatlichen Mindestlohns steht noch aus. Die gesetzliche Lohnuntergrenze liegt in Bangladesch bei 3.000 Taka (28 Euro), das ist weltweit unterstes Niveau. Die Belegschaften fordern eine Anhebung auf 8.500 Taka. Das wäre zwar deutlich mehr als der bisherige Lohn, aber immer noch deutlich weniger als in China, Vietnam und Sri Lanka. Die Arbeitgeber bieten 4.500 Taka. Bangladeschische Medien prognostizieren eine Einigung auf 5.000 bis 6.000 Taka. Doch obwohl die regierende Awami League derzeit im Wahlkampf nicht auf die Stimmen der Textilarbeiterinnen verzichten will, tut sie sich mit der Entscheidung schwer. Offensichtlich steht die Partei unter dem Druck des nationalen Verbandes der Textilindustrie. Bei Protesten von Textilarbeitern kam es wiederholt zu Zusam­menstößen mit Sicherheitskräften und zu Verletzten unter den Demonstranten. Nach Ansicht von Khushi Kabir, Gründerin der Nichtregierungsorganisation "Nijera Kori" (deutsch: Wir machen es selbst), reichen angesichts hoher Mieten in Dhaka auch 5.000 Taka nicht aus, um eine Familie zu ernähren. Meist arbeiten beide Ehepartner daher zwölf Stunden und mehr am Tag.

Was die Gebäudesicherheit betrifft, so haben die EU und Bangladesch im Juli einen besseren Schutz vereinbart. Die Regierung in Dhaka verpflichtete sich, die Zahl der Inspektionen und Inspekteure deutlich zu erhöhen. Einige besonders marode Fabriken wurden geschlossen. Gebäude, die in einem weitaus besseren Zustand sind, wurden für ausländische Beobachter und Journalisten geöffnet, um zu zeigen, dass Rana Plaza eine Ausnahme war. Nur ein nachhaltiges Interesse westlicher Verbraucher an besseren Arbeitsbedingungen in Bangladesch kann dafür sorgen, dass sich die Katastrophe nicht wiederholt.

Der Autor ist Sprecher der Amnesty-Koordinationsgruppe Bangladesch.

Weitere Artikel