Amnesty Journal Nord- und Südamerika 22. Januar 2013

Das Land der anderen

In Lateinamerika nehmen Landkonflikte zu: Weil multinationale Unternehmen auf dem Gebiet indigener Gemeinden Rohstoffe ausbeuten und große Infra­strukturprojekte bauen, fürchten diese Umweltzerstörung und Vertreibung. Die indigenen Aktivisten sind mittlerweile gut vernetzt. Sie wehren sich auf der Straße und vor Gericht – mit Erfolg.

Von Maja Liebing

Es war ein großer Tag für Sarayaku in Ecuador und das Ende eines zehnjährigen Rechtsstreits: Am 25. Juli 2012 entschied der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in einem wegweisenden Urteil, dass der Staat Ecuador das Recht der indigenen Bevölkerungsgruppe auf vorherige Konsultation, auf Gemeindeeigentum und auf kulturelle Identität verletzt hat, als er einem Ölunternehmen Konzessionsrechte auf dem Gebiet der Sarayaku erteilte. Ecuador wurde zur Zahlung von Entschädigungen und einer Reihe weiterer Maßnahmen verpflichtet. So muss der Staat etwa auf dem Gebiet der Indigenen den Sprengstoff räumen, den das Ölunternehmen hinterlassen hat.

Der Streit, den die Sarayaku mit dem Ölunternehmen und ihrer Regierung ausgetragen haben, ist beispielhaft für viele Konflikte um Land und Wirtschaftsinteressen in Lateinamerika. Und ihr Erfolg vor dem Gerichtshof ist über Ecuador hinaus von großer Bedeutung. Die steigende Zahl von Landkonflikten steht häufig in Zusammenhang mit Bergbauaktivitäten oder mit großen Infrastrukturprojekten, wie dem Bau von Staudämmen oder ausgedehnten landwirtschaftlichen Monokulturen.

Nicht immer bleibt der Protest so friedlich wie bei den Sarayaku. In Peru gab es im Zusammenhang mit sozialen Protesten immer wieder Tote. Am 5. Juni 2009 wurden in der Stadt Bagua im Amazonasgebiet 33 Menschen getötet und mindestens 200 verletzt, als die Polizei mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten vorging. Indigene hatten eine Straßenblockade organisiert, um gegen die wirtschaftliche Ausbeutung ihres Landes durch Bergbauunternehmen zu protestieren. Im peruanischen Amazonasgebiet leben mehr als 300.000 Indigene, die 59 verschiedenen ethnischen Gruppen angehören. Nationale und internationale Öl- und Gasgesellschaften haben Konzessionen erhalten, die es ihnen erlauben auf 70 Prozent des ge­sam­ten Amazonasterritoriums Rohstoffe auszubeuten. Der größte Teil dieser Gebiete gehört indigenen Völkern. Die Ereignisse von Bagua sind kein Einzelfall – aus Peru gibt es regelmäßig Berichte über Tote, weil die Polizei mit unverhältnismäßiger Härte auf soziale Proteste reagiert.

In Guatemala wurde im Juni 2012 die Aktivistin Yolanda Oquelí von Unbekannten angeschossen. Oquelí leitet eine Organisation, die auf die negativen Auswirkungen eines Bergbauprojekts eines kanadischen Unternehmens in ihrer Gemeinde aufmerksam macht. Die Organisation befürchtet, dass durch die Bergbauaktivitäten das Trinkwasser verschmutzt wird, und kritisiert, dass die örtlichen Gemeinschaften nicht über die möglichen Folgen aufgeklärt und nicht vorher gefragt wurden. Als sich Oquelí auf dem Heimweg von einer Protestveranstaltung befand, stellten sich ihr in der Nähe ihres Hauses zwei Männer auf einem Motorrad in den Weg und schossen auf sie. Sie wurde von einer Kugel getroffen und überlebte knapp. Amnesty International startete eine Eilaktion, um für sie und weitere Aktivisten vor Ort Schutzmaßnahmen sowie eine Untersuchung des Anschlags zu fordern.

Dass solche Konflikte zunehmen, ist auf zwei Entwicklungen zurückzuführen: Zum einen vergeben immer mehr lateinamerikanische Regierungen in ihrem Streben nach Entwicklung Konzessionen für Bergbauprojekte und treiben große Infrastrukturprojekte voran. Problematisch wird dies, wenn sie dabei ihren internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen und die beteiligten Unternehmen nicht auf die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards sowie menschenrechtlicher Standards verpflichten. Zum anderen sind die indigenen Bevölkerungsgruppen Lateinamerikas heute besser vernetzt denn je. Sie kennen ihre Rechte und fordern diese von Regierungen und Unternehmen ein.

Die indigenen Aktivisten Lateinamerikas begannen in den sechziger und siebziger Jahren, sich zusammenzuschließen, um ihre Anliegen voranzubringen. Sie wurden dabei von internationalen Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen unterstützt. So gründeten sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl nationaler und internationaler Organisationen und Dachverbände, die gemeinsam Strategien gegen Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung entwickelten. Ihr politischer Einfluss wuchs, insbesondere auch durch die Gründung indigener politischer Parteien, die Wahl indigener ­Repräsentanten in politische Ämter und die zunehmende Verrechtlichung ihrer Anliegen. Meilensteine für die Anerkennung der Rechte der indigenen Bevölkerungen waren die ILO-Konvention 169, die 1989 verabschiedet wurde, und die UNO-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker aus dem Jahr 2007. Die ILO-Konvention 169 wurde von den meisten Staaten Lateinamerikas ratifiziert und ist damit für sie völkerrechtlich verbindlich. Zudem haben viele lateinamerikanische Länder die Rechte ihrer indigenen Bevölkerung in die Verfassung aufgenommen.

Indigene Völker haben gemäß den internationalen Übereinkommen wegen der besonderen Bedeutung ihres Landes für ihre kulturelle Identität und Lebensgrundlage auch besondere kollektive Landrechte. Neben den Rechten, die jedem Menschen zustehen – beispielsweise nicht wegen eines Großprojekts illegal zwangsgeräumt zu werden – müssen sie gemäß der ILO-Konvention 169 bei allen Projekten, die ihr angestammtes Land betreffen, vorher konsultiert werden. Die Konsultationen müssen kulturell angemessen sein, internationale Standards beachten und sollen eine gütliche Einigung zum Ziel haben. Dies bedeutet, dass es nicht reicht, den indigenen Bevölkerungsgruppen bereits getroffene Entscheidungen mitzuteilen. Vielmehr müssen sie frühzeitig einbezogen werden, alle relevanten Informationen erhalten und ohne Zwang frei entscheiden können. Damit dies gelingen kann, müssen entsprechende Konsultationsgesetze verabschiedet werden, Beamte geschult und Beschwerdestellen eingerichtet werden.

Trotz dieser großen Fortschritte in Bezug auf Vernetzung, politische Repräsentanz und Verrechtlichung ist der politische Einfluss der Indigenen – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil – in den meisten Ländern noch immer schwach. Sie leiden nach wie vor unter Armut und Diskriminierung. Und im Zweifelsfall werden ihre Kollektivrechte auf Land den wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen untergeordnet. Immer wieder werden die Anführer indigener Proteste kriminalisiert, wegen fingierter Anschuldigungen inhaftiert oder mit hohen Geldstrafen belegt. Bis heute fehlen in den meisten lateinamerikanischen Ländern konkrete Konsultationsmechanismen, die die Rechte der Indigenen in die Praxis umsetzen könnten.

Dies gilt auch für Bolivien, obwohl Indigene dort die Bevölkerungsmehrheit stellen. Seit 2006 wird das Land von Evo Morales regiert, dem ersten indigenen Präsidenten Lateinamerikas. 2009 rief Morales die Bürger Boliviens zu einem Referendum über eine Verfassungsänderung auf, die angenommen wurde und den Indigenen weitgehende Rechte einräumt. Dazu gehören die Rechte auf Selbstbestimmung innerhalb des Staates, auf Autonomie sowie auf Selbstverwaltung, Kultur und Sprache, auf Anerkennung und Stärkung von Institutionen und lokalen Behörden.
Trotzdem kommt es immer wieder zu Protesten, bei denen es um wirtschaftliche Probleme und die Rechte der indigenen Bevölkerung geht. Im März zweifelte die UNO an der Umsetzung eines Gesetzes, das ethnische Diskriminierung bekämpfen soll und kritisierte die mangelnde Vertretung der indigenen Bevölkerung in Entscheidungsgremien und ihren fehlenden Zugang zum Rechtssystem.

Ein Beispiel hierfür ist der Protest indigener Aktivisten gegen den von der Regierung geplanten Bau einer Straße durch das indigene Gebiet Isiboro-Sécure und den dortigen Nationalpark. Die Regierung argumentiert, die Straße trage zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. Nach Ansicht indigener Aktivisten dient sie jedoch dazu, das Gebiet für die Rohstoffindustrie zu erschließen, und fördert die Abholzung und die Koka-Produktion. Um gegen die mangelnde Konsultation und die Verletzung von Umweltschutzgesetzen zu protestieren, organisierten sie 2011 ­einen 580 Kilometer langen Marsch von Trinidad im Departamento Beni nach La Paz, an dem sich mehr als tausend Indigene beteiligten. Die Polizei reagierte mit unverhältnismäßiger Gewalt. Am 25. September 2011 lösten Dutzende Polizisten unter Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken ein während des Marsches errichtetes Lager auf. Zahlreiche Personen wurden verletzt, Hunderte vorübergehend festgenommen.

Das harte Vorgehen der Polizei führte zu landesweiten Protesten, auf die die Regierung reagierte: Die Verteidigungsministerin und der Innenminister traten zurück und Präsident Morales kündigte einen Konsultationsprozess mit den Indigenen über das Projekt an. Ob sich damit die Differenzen zwischen Demonstranten und Regierung tatsächlich ausräumen lassen, ist noch offen. Denn erstens kommen die Ermittlungen gegen die Verantwortlichen des unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes nicht voran. Und zweitens genügt der eingeleitete Konsultationsprozess nicht internationalen Standards, da nicht alle betroffenen indigenen Gemeinden einbezogen werden und von der Indigenen-Bewegung gefasste Beschlüsse keine Berücksichtigung finden. Insgesamt ist der Prozess von mangelnder Transparenz gekennzeichnet und die Verantwortlichen lassen keinen Willen erkennen, eine gütliche Einigung anzustreben.

Dass sich solche Konflikte nicht auf Entwicklungs- und Schwellenländer beschränken, zeigt das Beispiel Kanada. Obwohl in dem Land zahlreiche indigene Völker leben, hat die Regierung bis heute nicht die ILO-Konvention 169 ratifiziert. Im Norden des Landes, in der Provinz Alberta, wehren sich die Lubicon Cree-Indigenen seit Jahrzehnten gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch den Ausbau der Öl- und Gasindustrie. Die wirtschaftliche Erschließung ihres Landes hatte für die Lubicon katastrophale Folgen. "Wir hatten niemals etwas Besonderes, aber wir waren auch niemals hungrig. Dann fanden sie plötzlich Öl und wir standen im Weg", erinnert sich Lubicon-Chief Bernard Ominayak. Heute leiden die Lubicon unter tiefgreifenden gesundheitlichen und gesellschaftlichen Problemen, und trotz internationaler Proteste und Empfehlungen an die kanadische Regierung über eine Einigung in diesem Landkonflikt verschlechtert sich ihre Situation weiter.

Das Beispiel Kanada zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes nicht zwangsläufig zu einer stärkeren Beachtung der Menschenrechte und der Rechte der indigenen Bevölkerung führt. Daher ist es so wichtig, dass die Sarayaku in Ecuador ihren Fall bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht haben. Das positive Urteil des Gerichtshofs ist für alle Länder bedeutend, die die ILO-Deklaration 169 ratifiziert haben. Zudem führt das Urteil zu einer Stärkung des Rechts der indigenen Völker auf Konsultation insgesamt und sollte auch von den Ländern beachtet werden, die die Konvention nicht ratifiziert haben.

Neben Kanada und den USA sind hier vor allem Länder außerhalb des amerikanischen Doppelkontinents zu nennen. In Asien etwa wurde die ILO-Konvention 169 bisher nur von Nepal ratifiziert. Indigene Bevölkerungsgruppen in Ländern wie Indien oder Bangladesch, die sich ebenfalls gegen die Missachtung ihrer Rechte bei Bergbauprojekten zur Wehr setzen, haben noch einen deutlich längeren Weg vor sich als die Sarayaku und ihre Mitstreiter in Lateinamerika.

Die Autorin ist Amerika-Expertin der deutschen Sektion von Amnesty ­International.

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