Amnesty History: Adoptiert von Gruppe 209
40 Jahre nach ihrer Verhaftung hat "La Nacha" zum ersten Mal Deutschland besucht. Als Gefangene wurde sie von einer Frankfurter Amnesty-Gruppe betreut. Heute kämpft sie gegen die Straflosigkeit in Mexiko.
Im Januar 1971 bekam eine Frankfurter Amnesty-Gruppe Post aus Mexiko. Auf dem maschinengeschriebenen Brief stand handschriftlich, quer über den Briefbogen: "Ich bin frei!"
Zwei Jahre war Ana Ignacia Rodríguez, bekannt als La Nacha, im Frauengefängnis von Mexiko-Stadt eingesperrt, bevor sie diesen Satz schreiben konnte. Kurz nach ihrer Verhaftung hatten Mitglieder der Amnesty-Gruppe 209 in Frankfurt am Main begonnen, La Nacha zu betreuen. Sie schickten ihr Briefe ins Gefängnis, korrespondierten mit ihrem Anwalt und forderten von der mexikanischen Regierung ihre Freilassung.
Rodríguez zählt zu den wenigen Frauen, die in der mexikanischen Studentenbewegung eine führende Rolle gespielt haben. Das Massaker vom 2. Oktober 1968 im Stadtteil Tlatelolco, bei dem Militär und das paramilitärische Batallón Olimpia Hunderte Teilnehmer einer Studentendemonstration erschossen, hatte La Nacha überlebt. Anschließend geriet sie aber ins Visier der Geheimdienste, wurde verschleppt und später aufgrund einer fabrizierten Anklage zu 16 Jahren Haft verurteilt.
Im Herbst 2009 kam La Nacha zum ersten Mal nach Deutschland. Auf Einladung von Amnesty International berichtete sie auf Veranstaltungen über ihren andauernden Kampf gegen Straflosigkeit und über die aktuelle Situation in Mexiko. Gern hätte sie auch ihre Briefpartner von damals persönlich kennengelernt, die leider aber nicht mehr am Leben sind oder nicht mehr zu erreichen.
Drei Monate nach dem Massaker von Tlatelolco wurden Sie zu Hause festgenommen. Wie lief Ihre Festnahme ab?
Ich war zuerst überrascht, denn ich war schon zwei Mal verhaftet und wieder frei gelassen worden. Einmal, als die Armee die Universität besetzte, und das zweite Mal nach dem Massaker. Am 2. Januar 1969, also beim dritten Mal, wurden ich und ein Kommilitone von Bewaffneten aus meiner Wohnung entführt. Sie haben uns die Augen verbunden und in ein Haus gebracht. Ich nehme an, es gehörte dem Militär, doch entsprechende Beweismittel sind bis heute nicht zugänglich. Dort behielten sie uns eine Nacht und einen Tag und haben uns getrennt verhört.
Was wurde Ihnen vorgeworfen?
Sie warfen mir die absurdesten Straftaten vor, acht gewöhnliche Verbrechen – Diebstahl und Beschädigung von Eigentum anderer, Körperverletzung, Besitz von Waffen, Ermordung eines Soldaten – und noch zwei politische Straftaten – Aufruhr und Anstiftung zur Rebellion. Sie wollten, dass ich ein Schuldbekenntnis unterschreibe. Nichts davon war wahr, aber ich wurde unter starken psychischen Druck gesetzt und wusste mir schließlich nicht anders zu helfen, als zu unterzeichnen. Aufgrund der Anklage wurde ich dann später zu 16 Jahren Haft verurteilt.
Wie haben Sie während Ihrer Gefangenschaft bemerkt, dass sich Amnesty für Sie einsetzte?
Eines Tages kam ein Brief für mich an, und ich habe mich gefragt, wo der herkam, da es ein ungewöhnlicher Umschlag mit ausländischen Briefmarken war. Ich erfuhr darin, dass Amnesty Gefangene adoptiert, die keine Verbrechen begangen haben, und dass die Amnesty-Gruppe aus Frankfurt sich um mich – eine mexikanische Studentin, 23 Jahre alt und unschuldig im Frauengefängnis für gewöhnliche Kriminelle – kümmern wollte. Ich erhielt Postkarten und Briefe, die eine andere Gefangene für mich übersetzte, und zu Weihnachten schickten sie mir ein Paket. Sie haben auch Briefe an den Präsidenten geschrieben, in denen sie meine Entlassung forderten. Ich bin mir sicher, dass Amnesty zu meiner Freilassung beigetragen hat. Nachdem ich dann frei war, hat mir die Frankfurter Gruppe deutsches Geld geschickt, damit ich mein Leben wieder aufbauen konnte. Ich bin ihnen sehr dankbar. Leider habe ich zu meinen damaligen Helfern später den Kontakt verloren.
Sie wurden schließlich nach zwei Jahren freigelassen, obwohl Sie zu 16 Jahren verurteilt worden waren. Wie kam es dazu?
Luis Echeverría, der als Innenminister der Hauptverantwortliche für das Massaker von Tlatelolco war, wurde 1970 Präsident. Er hat politische Gefangene freigelassen, zum einen, weil er unter Druck gesetzt wurde, und zum anderen, um sich als Staatsoberhaupt beliebt zu machen. Sie haben uns gesetzeswidrig ins Gefängnis gebracht, und genauso gesetzeswidrig haben sie uns rausgelassen. Mir wurde keine Amnestie gewährt. Ein Jahr lang musste ich mich jede Woche bei der Polizei melden. Aufgehoben wurde nur die Verurteilung wegen der gewöhnlichen Delikte, nicht die für die politischen Delikte.
Jetzt kämpfen Sie im "Comité 68" für Verfahren gegen die Verantwortlichen für die Niederschlagung der 68er-Bewegung.
Ja, wir haben den Leiter des Bundessicherheitsdienstes, der für unsere Gefangenschaft verantwortlich war, vor Gericht gebracht, aber das Verfahren wurde schließlich aufgrund seines Alters und seines Gesundheitszustandes eingestellt. Echeverría, der für das Massaker die Verantwortung trägt, stand zwei Jahre lang unter Hausarrest, aber auch dieses Verfahren wurde ausgesetzt. Die Justiz sah das Massaker nicht als Genozid an und Mord verjährt in Mexiko nach 30 Jahren. Wir beabsichtigen deshalb, den 2. Oktober 1968 als Genozidfall vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission zu bringen, um die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft zu ziehen.
Wie gehen heute, über 40 Jahre danach, die Behörden mit dem Massaker um?
Die Regierung hat zu den Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen noch immer nicht Stellung genommen. Es gibt keine offizielle Version dessen, was wirklich passiert ist oder ein Schuldeingeständnis des Staates. Wir werden also nie erfahren, wie viele Menschen ermordet wurden, und es gibt bis heute "Verschwundene". Inzwischen wurde aber immerhin ein Denkmal für die Ermordeten und politischen Gefangenen errichtet; und das alte Frauengefängnis haben sie jetzt in eine Hochschule umgewandelt. Wir wollen, dass dort ein Museum des Widerstandes entsteht. Nach 41 Jahren kämpfen wir immer noch weiter, aber jetzt ist es ein Kampf für die Gerechtigkeit. Wir wollen kein Schweigen und kein Vergessen.
Interview: Sophie Hatzfeldt