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Stimmen von Tiananmen
Vor 20 Jahren lehnten sich Hunderttausende Chinesen gegen die kommunistische Diktatur auf. Sie besetzten den Tiananmen-Platz und forderten Freiheit und Demokratie. Am 4. Juni 1989 löste die Armee die studentischen Proteste auf. Wuer Kaixi, Han Dongfang und Liu Xiaobo haben die Ereignisse bis heute geprägt.
Der Student
"Tritt zurück, Deng Xiaoping!", schreit die Menge. Es ist Mai 1989, und eine Million Studenten, Arbeiter und Intellektuelle besetzen den Tiananmen-Platz in Peking. Sie sind von den Universitäten, aus den Fabriken und vom Land gekommen. Sie sind aufgebracht wegen der rasenden Inflation, der Korruption, und sie fordern Demokratie und Reformen.
Einer der studentischen Anführer ist ein 21-jähriger Mann namens Wuer Kaixi. Seine waghalsige Einstellung hat ihm bereits den Spitznamen "der Rockstar" eingebracht. Doch jetzt steht er Premierminister Li Peng gegenüber, wobei der Student in seinem gestreiften Krankenhauspyjama schwach aussieht – denn Wuer Kaixi ist zusammen mit Tausenden anderen Studenten in den Hungerstreik getreten. Als der Premier in einem belehrenden Ton zu sprechen beginnt, unterbricht ihn Wuer: "Wir haben Sie hierher eingeladen, also sollten wir diejenigen sein, die entscheiden, über was geredet wird."
"Die Studenten haben sich in Lebensgefahr gebracht, um dieses Treffen zu ermöglichen. Daher war es nicht Angst, die ich fühlte, falls ich überhaupt etwas gefühlt habe, sondern…" Wuer Kaixi, heute 40 Jahre alt, macht eine Pause, während er in die Vergangenheit zurückblickt. Wir befinden uns im 55. Stock des Taipei 101 Tower im Bankenviertel von Taiwans Hauptstadt Taipeh. Von hier aus sieht der Rest von Taipei viel kleiner aus als er in Wirklichkeit ist. "…Ich fühlte eine große Verantwortung für die toten Studenten und die Zukunft unseres Landes."
Während der Eiserne Vorhang in Osteuropa fiel, endete die Revolution in China mit einer Tragödie. Am 4. Juni 1989 tötete die Volksbefreiungsarmee Hunderte, vielleicht sogar Tausende Menschen. Bis zum heutigen Tag weiß niemand genau, wie viele auf den Straßen Pekings ihr Leben verloren haben.
Wuer ging in den Untergrund und schaffte es, das Land zu verlassen. Er lebte seitdem im Exil in Frankreich, den USA und jetzt in Taiwan, wo er als Investment Banker tätig ist.
Während des Aufstands forderte Wuer Kaixi die Revolution und kritisierte jene Intellektuellen, die nur von Reformen sprachen. Heute sagt er, dass "kleine Schritte" doch besser seien. Die menschlichen Verluste während der Revolution waren einfach zu hoch: "Ich war jung und wahrscheinlich sehr unreif. Wir wussten nicht wirklich, was wir wollten. Aber wir hatten eine ziemlich klare Vorstellung davon, was wir nicht wollten."
Nach dem Massaker in Peking isolierte der Westen das Land, während Deng Xiaoping einen Pakt mit seinen Untertanen schloss: Sie verzichteten auf ihre politischen Rechte, erhielten dafür aber ökonomische Freiheiten.
Die Folgen der Marktreformen zeigten sich schnell: Während das chinesische Wirtschaftswachstum im Jahr des Tiananmen-Massakers 3,8 Prozent betrug, stieg es drei Jahre später bereits um 14,2 Prozent. Bevor die globale Finanzkrise einsetzte, erwartete die aufstrebende Supermacht sogar eine Vervierfachung ihres Wachstums bis zum Jahr 2020. Die Mittelklasse wird bald 300 Millionen Menschen umfassen, die Autos, Kreditkarten, Privatschulen und Urlaub im Ausland fordern werden. An der Universität von Peking, an der Wuer einst eingeschrieben war, reden die Studenten nicht mehr von Revolution, sondern von Karrieren. Ein Schriftzug auf dem T-Shirt eines Studenten verkündet: "Es dreht sich alles nur um mich."
Wuer findet den Pakt mit Deng Xiaoping "lausig", da ökonomische Freiheit den Menschen sowieso zustehe. Seiner Meinung nach hat die chinesische Regierung aber gleichzeitig einen Stein ins Rollen gebracht, den sie nicht mehr stoppen kann. Heute sei der Privatsektor mit seinen Forderungen nach unternehmerischer Freiheit die größte Demokratisierungskraft in China, argumentiert der frühere Studentenführer.
"Ich will Ihnen ein extremes Beispiel nennen: Heute ist die Industrie, die für Pressefreiheit kämpft und den größten Einfluss hat, sicherlich die Pornobranche. Diese Kraft bringt die Zensur und die öffentliche Kontrolle wirklich ins Wanken. Tun sie dies, weil sie an das Recht auf freie Meinungsäußerung glauben? Ich bezweifle das. Aber das Streben nach Profit ist oftmals der Antrieb zur Demokratie."
So verlangt der private Sektor, dass die Korruption, die auch für die Kommunistische Partei ein großes Problem darstellt, härter bekämpft wird. Aber die Geschäftswelt könne noch mehr tun, meint Wuer.
Jedes Jahr werden in China ausländische Investitionen in Höhe von mehr als 60 Milliarden Dollar getätigt. Die ausländischen Geschäftspartner sowie die Handelsrepräsentanten sollten ihre Macht nutzen, wenn die chinesische Regierung wieder einmal tibetanische Mönche verprügelt oder Menschenrechtsverteidiger eingesperrt werden.
"Ich sage nicht, dass es ihre Pflicht ist zu handeln. Es ist unsere Pflicht. Aber ich appelliere an euer Gewissen. Wenn ihr ein paar Druckmittel besitzt, dann nutzt sie auch für die Menschenrechte. Sagt den Chinesen, dass ein Freund seinen Freunden immer die Wahrheit erzählt. Sagt nicht: 'Ja, das ist nun mal China. Dagegen können wir nichts tun.' Es gibt immer etwas, das man tun kann."
Der frühere Studentenführer bleibt still, als er nach den Investitionen seines eigenen Arbeitgebers in China gefragt wird. Den Namen des Unternehmens kann er nicht nennen – es ist nicht gut für eine Firma, wenn sie einen "89er" beschäftigt.
Wuer ist sich sicher, dass die Proteste vom Tiananmen-Platz zu großen Veränderungen führen werden. "Die chinesischen Menschen haben realisiert, wie wunderbar es ist, zu sagen, was man denkt. Wenn man einmal die Macht der Freiheit gekostet hat, wird man sie nie wieder aufgeben wollen."
Der Arbeiter
Als der 25-jährige Eisenbahner Han Dongfang der Masse aus Arbeitern gegenübersteht, fühlt er sich unsicher. Die Studenten und die Intellektuellen haben so schöne Beschreibungen über das, was Demokratie bedeutet, geliefert. Der Eisenbahner, der gerade Chinas erste unabhängige Gewerkschaft gegründet hat, benutzt andere Worte: Mehr Lohn, Bonus und bessere Arbeitsbedingungen.
Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz entscheidet sich Han Dongfang, mit dem Fahrrad durch das Land zu fahren und mehr über das bäuerliche Leben zu lernen. Dort entdeckt der Eisenbahnarbeiter plötzlich, dass ihn sein Gesicht von Laternenpfosten aus anstarrt. Er wird gesucht.
Obwohl er davon ausgehen muss, dass er exekutiert werden würde, stellt er sich.
Han Dongfang, der heute 44 Jahre alt ist, erzählt seine Geschichte auf dem Nachhauseweg auf der Fähre von Hongkong zu der kleinen Insel Lamma, auf der er im Exil mit seinen drei Kindern lebt.
"Ich habe den Arbeitern gesagt, dass wir nichts falsch gemacht hätten und deshalb nicht weglaufen müssten. Ich hatte die Wahl, dieses Versprechen zu brechen, oder mein Leben aufzugeben", sagt Han Dongfang. Er kommt mit 22 Monaten Gefängnis davon. Als er schwer an Tuberkulose erkrankt, wird er entlassen und reist in die USA, um sich behandeln zu lassen.
China ließ ihn nie wieder ins Land zurück. Von Hongkong aus leitet er nun das "China Arbeitsbulletin" – eine Organisation, die sich für die Rechte chinesischer Arbeiter einsetzt.
Han Dongfang denkt, dass das Wirtschaftswunder des vergangenen Jahrzehnts, Deng Xiaopings Pakt mit der Bevölkerung, eine gewaltige Ungleichheit in der Gesellschaft geschaffen hat, die in einer sozialen Explosion enden könnte.
"Die meisten Menschen haben sicherlich von der wirtschaftlichen Entwicklung profitiert. Sie haben Farbfernseher und mehr Essen auf dem Tisch. Aber die sozialen Unruhen entstehen nicht aus Armut. Sie entstehen aus Unzufriedenheit, die durch Ungleichheit erzeugt wird", sagt Han Dongfang.
Nach Angaben der Asiatischen Entwicklungsbank wird China bei der sozialen Ungleichheit auf dem Kontinent nur noch von Nepal übertroffen. Die Städte haben viel mehr von der Industrialisierung profitiert als die ländlichen Gegenden. Aber die Lücke ist nicht nur geografischer Natur, auch die Arbeiter in den Städten sind betroffen. Die Ungleichheit spüren auch 150 Millionen Wanderarbeiter, die oft ausgebeutet und unterbezahlt werden.
Es wurden jedoch auch Verbesserungen erreicht. Die alte Landwirtschaftssteuer wurde abgeschafft, während das neue Arbeitergesetz es den Unternehmern schwerer macht, Personal zu entlassen. Außerdem erlaubt das Gesetz Tarifverhandlungen und dehnt die Sicherheitsbestimmungen nun auch auf Wanderarbeiter aus. Han Dongfang kennt jedoch zu viele skrupellose Arbeitgeber, um an Wuer Kaixis Argument, dass der private Sektor als Katalysator für eine demokratische Entwicklung dienen könnte, zu glauben.
"Wenn einem Arbeiter seine Finger an einer Maschine abgetrennt werden, wirft ihm der Geschäftsführer anschließend vor, die Produktion verzögert zu haben. Der Arbeiter kann dankbar sein, wenn er nur gefeuert wird und nicht noch Entschädigung an die Firma zahlen muss."
Nach Meinung des früheren Eisenbahners sollten die Arbeiter endlich unabhängige Gewerkschaften gründen und Verstöße gegen das Arbeitsrecht vor Gericht bringen. Jedes Jahr bietet das "China Arbeitsbulletin" Hunderten von Arbeitern juristische Hilfe an und gewinnt in vielen Fällen.
Han Dongfang sieht noch immer aus wie der junge Anstifter vom Tiananmen-Platz. Groß, fit, mit langem gelockten Haar und durchdringendem Blick. Während manche der Aktivisten von ’89 glauben mögen, dass sie ihren Part getan haben, sieht er wie jemand aus, der gerade erst begonnen hat.
Han Dongfang kommt zu dem Moment, der für ihn maßgebend war: Als die Volksbefreiungsarmee 1989 ihre eigenen Landsleute tötete, verloren die Chinesen dem Glauben in die Kommunistische Partei. Während sie nun auf den Systemkollaps warten, stopfen sich die lokalen Parteiführer ihre Taschen voll und stellen sicher, dass sie und ihre Kinder im Wohlstand leben.
"Wenn die Arbeiter diesen Raub realisieren, werden sie ihre Wut gegen die Regierung richten", sagt Han Dongfang. "Die kommunistischen Führer hassen die korrupten Beamten, weil sie ihrem Image und ihrer Macht schaden, aber gleichzeitig sind die Führer von ihnen abhängig, weil sie dem Volk genauso wenig trauen."
Die Wut und die Gefahr für die Partei werden sichtbar in den jährlich über 100.000 lokalen Protesten gegen Korruption, Umweltverschmutzung und Zwangsumsiedlung. "Die Wut war 1989 sehr viel schwächer als heute. Es gibt eine Grenze, bis zu welcher Menschen es ertragen können, ungerecht behandelt zu werden."
Der Intellektuelle
Liu Xiaobo kam extra von der Columbia Universität in New York zurück, um an den Protesten auf dem Tiananmen-Platz teilzunehmen. "Wenn wir uns nicht den Studenten auf dem Platz anschließen und der Gefahr ins Auge blicken, haben wir kein Recht zu sprechen", argumentierte Liu Xiaobo damals.
Der Lektor hoffte, dass die Intellektuellen ihre Feigheit überwinden würden. Anfangs glaubten die Studenten nicht, dass die Soldaten tatsächlich scharfe Munition benutzen würden. Dann sahen sie, dass ihre Freunde bluteten. "Wessen Armee seid ihr?", schrieen sie die Soldaten an.
Liu Xiaobo ist heute 52 Jahre alt und hat einen milden Gesichtsausdruck. Er ist inzwischen der Vorsitzende der chinesischen Sektion des Autorenverbandes PEN und kämpft für die Meinungsfreiheit von Autoren, Journalisten und Redakteuren.
Nach den Ereignissen vom Tiananmen-Platz wurde Liu Xiaobo mehrmals wegen seiner Kritik an der Kommunistischen Partei inhaftiert. 1996 wurde er zu drei Jahren in einem Arbeitslager verurteilt, und nur wenige Monate nach diesem Interview wurde er wieder eingesperrt – dieses Mal wegen seiner Rolle bei der Charta 08: Das Dokument wurde von 300 chinesischen Intellektuellen unterzeichnet, die demokratische Reformen forderten. Vor seiner Inhaftierung berichtete der PEN-Vorsitzende, dass der Druck auf politische Dissidenten und die Presse in den vergangenen Jahren weiter zugenommen hatte – trotz aller gegenteiligen Versprechungen.
Mittlerweile gehören auch die Olympischen Spiele 2008 zu den Ereignissen in der jüngeren chinesischen Geschichte, die von der Regierung als "unantastbar" erachtet werden. Ebenso wie die Kulturrevolution und das Massaker vom 4. Juni 1989. Wer diese Tabus in Frage stellt, muss mit harten Sanktionen rechnen. Wie zum Beispiel der Journalist Shi Tao. Im Vorfeld zum 15. Gedenktag des Massakers wurde ihm schriftlich mitgeteilt, dass er kein Wort darüber schreiben dürfe. Er spielte diese Nachricht den ausländischen Medien zu und wurde deswegen zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
Aber es ist auch nicht klar, was "antastbar" ist. "Die Gesetze sind sehr schwammig. Niemand weiß genau, wann er die rote Linie übertritt. Daher können die Behörden auch jederzeit Maßnahmen ergreifen", erklärt Liu Xiaobo, der nach einem Hungerstreik von der Universität entlassen wurde und seitdem nicht mehr unterrichten darf.
Trotzdem versuchen Journalisten konsequent, die Grenzen der Redefreiheit auszudehnen, sagt Liu. Auch wenn das Regime Tausende von Homepages und Blogs blockiere, könne es das Internet unmöglich komplett kontrollieren.
Aber es geschehen noch weitere interessante Dinge, meint Liu. Paradoxerweise haben von der Regierung kontrollierte Zeitungen damit begonnen, über die Demokratie zu debattieren. Die "Beijing Daily" publizierte 2006 einen Aufsatz des hochrangigen Parteimitglieds Yu Keping mit der Überschrift: "Demokratie ist eine gute Sache". Ein Jahr später schrieb Xie Tao, ein 85-jähriger kommunistischer Veteran und Leiter der Volksuniversität in Peking, dass nur der demokratische Sozialismus, wie im skandinavischen Modell, China retten könne. Dies seien Zeichen für einen progressiven Flügel innerhalb der Partei.
Aber wer unterstützt diesen Flügel? Liu hat bemerkt, dass es einen großen Unterschied zwischen den Studenten von ’89 und der Jugend von heute gibt.
"Die Studenten der achtziger Jahre kannten noch das harte Leben unter Mao Zedongs Herrschaft. Sie hatten etwas, für das sie kämpften. Heute sind die Studenten Einzelkinder, die vom Fortschritt profitiert haben." Sie seien vor allem mit ihren Karrieren beschäftigt und könnten es sich als Alleinversorger ihrer Familien nicht leisten, auf die schiefe Bahn zu geraten.
Aber der Fakt, dass sich die Jugend nicht mit Tiananmen befasse, bedeute nicht, dass sie keine demokratischen Ideale hätte, sagt Liu. Er glaubt, dass sich die Kommunistische Partei öffnen muss. Sobald der wirtschaftliche Aufschwung schwächer wird, werden die Forderungen nach politischen Reformen lauter werden. Es kann mit kleinen Schritten beginnen: Indem man mehr Pressefreiheit und unabhängige Kandidaten für den Kongress zulässt oder die politische Kontrolle über die Justiz beendet. Lui Xiaobo hat die Hoffnung nicht verloren. "Demokratische Wahlen werden der letzte Schritt sein", sagt er zum Abschied.
Von Thomas Aue Sobol.
Der Autor ist Journalist und lebt in Kopenhagen.