Amnesty Report Großbritannien und Nordirland 22. Mai 2013

Großbritannien 2013

 

Amtliche Bezeichnung: Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II. Regierungschef: David Cameron

Die Behörden gaben bekannt, in zwei Fällen mutmaßlicher außerordentlicher Überstellungen strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten. Diese Ermittlungen führten dazu, dass eine Untersuchungskommission zur Beteiligung britischer Staatsangehöriger an der Misshandlung von Gefangenen im Ausland (Detainee Inquiry) ihre Arbeit vorzeitig beendete. Die Regierung veröffentlichte einen Gesetzentwurf, der vorsieht, dass sich die Zivilgerichtsbarkeit in Fällen, die die nationale Sicherheit betreffen, auf Geheimdokumente stützen kann. Das Moratorium bei der Überstellung von Gefangenen an die afghanischen Behörden wurde beibehalten.

Folter und andere Misshandlungen

Am 12. Januar 2012 erklärten Vertreter der Polizei (Metropolitan Police Service – MPS) und der Generalstaatsanwaltschaft, die Ermittlungen zu zwei mutmaßlichen Fällen der Misshandlung von Gefangenen im Ausland durch britische Geheimdienstmitarbeiter hätten keine ausreichende Grundlage für eine Anklageerhebung ergeben. Der erste Fall bezog sich auf den Vorwurf der Folter und Misshandlung von Binyam Mohamed. Der zweite Fall betraf eine namentlich nicht genannte Person, die sich im Januar 2002 im Gewahrsam der US-Behörden auf dem Luftwaffenstützpunkt Baghram in Afghanistan befand. Der MPS erklärte jedoch, es lägen noch weitere Vorwürfe vor und man erwäge weitere strafrechtliche Ermittlungen.

Bezüglich der Beteiligung Großbritanniens an der mutmaßlichen außerordentlichen Überstellung von Sami al-Saadi und Abdel Hakim Belhaj nach Libyen im Jahr 2004 wurden strafrechtliche Ermittlungen angekündigt. Die beiden Männer waren nach ihrer Überstellung Berichten zufolge in Libyen gefoltert und misshandelt worden. Im Dezember 2012 akzeptierten Sami al-Saadi und seine Familie ein finanzielles Angebot der britischen Regierung, um die Angelegenheit außergerichtlich beizulegen. Im Fall von Abdel Hakim Belhaj war Ende 2012 noch eine Entschädigungsklage gegen die britischen Behörden anhängig.

Am 18. Januar 2012 gab die Regierung bekannt, dass die 2010 eingerichtete Untersuchungskommission ihre Arbeit angesichts der neuen strafrechtlichen Ermittlungen bezüglich der mutmaßlichen Überstellungen nach Libyen vorzeitig beenden werde. Das Gremium sollte überprüfen, ob Großbritannien an Menschenrechtsverletzungen beteiligt war, die im Zuge von Antiterrormaßnahmen an Gefangenen im Ausland verübt wurden. Die Vorgehensweise der Kommission erfüllte jedoch nicht die internationalen Menschenrechtsstandards für wirksame, unabhängige und gründliche Untersuchungen. Am 27. Juni legte die Untersuchungskommission der Regierung einen Bericht vor, der jedoch Ende 2012 noch nicht veröffentlicht worden war.

Im September 2012 forderte das Europäische Parlament Großbritannien und andere Länder dazu auf, sämtliche notwendigen Informationen über alle verdächtigen Flüge zugänglich zu machen, die mit dem CIA-Programm für außerordentliche Überstellungen in Zusammenhang standen und ihr Staatsgebiet betrafen.

Der High Court of Justice wies Versuche der Regierung ab, eine Klage von drei kenianischen Staatsbürgern zu verhindern, die von Vertretern der britischen Kolonialbehörde in den 1950er Jahren gefoltert worden waren. Das Gericht entschied, trotz der seither vergangenen Zeit seien die Beweise so umfangreich, dass ein faires Verfahren möglich sei.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Personen, die mutmaßlich eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellten, wurden weiterhin auf Grundlage unzuverlässiger und nicht einklagbarer "diplomatischer Zusicherungen" in Länder abgeschoben, in denen ihnen Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.

  • Im Januar 2012 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Urteil im Fall des jordanischen Staatsbürgers Omar Othman (auch bekannt als Abu Qatada), den die britische Regierung aus Sicherheitsgründen abschieben wollte. Nach Ansicht des EGMR boten die diplomatischen Zusicherungen Jordaniens zwar einen ausreichenden Schutz gegen Folter und Misshandlungen, die Omar Othman bei seiner Rückkehr möglicherweise drohten, es bestehe jedoch die Gefahr, dass sein Recht auf einen fairen Prozess verletzt werden könnte, da in Jordanien auch unter Folter erzwungene Zeugenaussagen zulässig seien. Im November entschied die Berufungskommission für Einwanderungsfragen, die Abschiebung dürfe nicht weiter betrieben werden, da trotz der Bemühungen der britischen Regierung um weitere Zusicherungen nach wie vor die Gefahr bestehe, dass unter Folter erzwungene Aussagen verwendet würden. Ende 2012 legte die Regierung Rechtsmittel gegen das Urteil ein.

  • Im April 2012 entschied der EGMR, dass fünf mutmaßlichen Terrorverdächtigen bei einer Auslieferung an die USA auch dann keine Gefahr der Folter und Misshandlung drohe, wenn sie verurteilt würden und ihre Haftstrafe im Hochsicherheitsgefängnis in Florence, Colorado, verbüßen müssten. Die fünf Männer wurden am 5. Oktober an die USA ausgeliefert.

Ab Januar 2012 wurde das im Dezember 2011 verabschiedete Instrument der "Überwachungsverfügungen" durch eine Reihe neuer Antiterrormaßnahmen (Terrorism Prevention and Investigation Measures – TPIMs) angewandt. Zwar sind die neuen Beschränkungen nicht ganz so weitreichend wie die Überwachungsverfügungen, doch erlauben sie Einschränkungen der Freiheit, der Bewegungsfreiheit und der Aktivitäten terrorismusverdächtiger Personen auf Grundlage geheimer Unterlagen. Ende November waren gegen zehn Personen TPIMs in Kraft.

Rechtliche und politische Entwicklungen

Im Mai 2012 veröffentlichte die Regierung einen Gesetzentwurf (Justice and Security Bill), der die Geheimhaltung von Unterlagen auch auf Zivilprozesse ausdehnt, die nach Ansicht der Regierung die nationale Sicherheit berühren. Demnach kann die Regierung dem Gericht hinter verschlossenen Türen geheimes Beweismaterial vorlegen, das weder dem Angeklagten noch seinem Rechtsbeistand oder der Öffentlichkeit zugänglich ist. Außerdem sieht der Gesetzentwurf vor, dass Gerichte künftig keine Offenlegung von "sensiblen" Informationen mehr anordnen können, z.B. von Informationen über mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen, die Personen in Verfahren gegen Dritte helfen könnten. NGOs, Rechtsanwälte und Medien äußerten schwerwiegende Bedenken, weil der Gesetzentwurf den Grundsätzen der Fairness und der offenen Justiz zuwiderlaufe. Zudem würden die Bemühungen der Opfer von Menschenrechtsverletzungen zunichte gemacht, vor Gericht eine Offenlegung geheimer Dokumente bezüglich dieser Straftaten zu erwirken. Der Gesetzesvorschlag enthielt auch Bestimmungen, die vorsahen, die Aufsicht der Geheimdienste in begrenztem Umfang zu verstärken.

Vertreter der Zivilgesellschaft und NGOs zeigten sich besorgt über die Auswirkungen eines Gesetzes zur Rechtshilfe und zur Verurteilung und Bestrafung von Straftätern (Legal Aid, Sentencing and Punishment of Offenders Act), das im Mai in Kraft trat. Sie befürchteten, dass dadurch der Zugang zur Justiz erschwert werden könnte, dies galt insbesondere für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen, die Unternehmen mit Sitz in Großbritannien im Ausland verübten.

Eine Kommission, die prüfen sollte, ob an die Stelle der bisherigen Menschenrechtsgesetzgebung eine neue Grundrechtecharta für das Vereinigte Königreich (UK Bill of Rights) treten solle, kam in ihrem im Dezember 2012 veröffentlichten Bericht zu keinem eindeutigen Ergebnis.

Streitkräfte

Im Juli 2012 wurde 169 irakischen Staatsbürgern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Beschwerden gerichtlich überprüfen zu lassen. Ihrer Auffassung nach besaß das Gremium, das Vorwürfe der Folter und Misshandlung von irakischen Staatsbürgern durch britische Soldaten untersuchen sollte (Iraq Historical Allegations Team), noch immer nicht die notwendige Unabhängigkeit – obwohl die britische Regierung strukturelle Veränderungen vorgenommen hatte. Die Rechtsanwälte der Betroffenen setzten sich für eine öffentliche Untersuchung ein, um den Vorwürfen, britische Soldaten hätten im Irak Menschenrechtsverletzungen begangen, gründlich nachzugehen.

Am 29. November erklärte das Verteidigungsministerium, man werde bis auf Weiteres keine Gefangenen an die afghanischen Behörden überstellen, da neue Informationen bestätigt hätten, dass ihnen in Afghanistan "schwere Misshandlung" drohe. Das Ministerium gab diese Erklärung in einem Verfahren vor dem High Court ab, das sich mit dem Fall des afghanischen Staatsbürgers Serdar Mohammed befasste. Er war 2010 von britischen Soldaten festgenommen und anschließend an den afghanischen Geheimdienst übergeben worden. Serdar Mohammed gab an, nach seiner Überstellung in afghanischem Gewahrsam gefoltert und in einem äußerst unfairen Gerichtsverfahren verurteilt worden zu sein.

  • Im Oktober 2012 gab das Oberste Berufungsgericht (Supreme Court) der Klage von Yunus Rahmatullah auf Haftprüfung statt. Er war im Februar 2004 von den britischen Streitkräften im Irak gefangen genommen und an die US-Streitkräfte übergeben worden. Diese brachten ihn nach Afghanistan und hielten ihn dort ohne Anklageerhebung fest. Das Gericht erklärte, die Inhaftierung von Yunus Rahmatullah stelle eine Verletzung der Genfer Konventionen dar, und Großbritannien müsse seine Rücküberstellung fordern. Gleichzeitig stellte das Gericht jedoch fest, die Weigerung der USA, Yunus Rahmatullah wieder in britischen Gewahrsam zu überstellen, mache ausreichend deutlich, dass Großbritannien nicht für seine Freilassung sorgen könne.

Polizei und Sicherheitskräfte

Im Januar 2012 wurden zwei Männer wegen des rassistisch motivierten Mordes an Stephen Lawrence im Jahr 1993 schuldig gesprochen. Bereits 1999 hatte eine Untersuchung des Falls ergeben, dass die polizeilichen Ermittlungen aufgrund "einer Kombination aus fachlicher Inkompetenz, institutionalisiertem Rassismus und einer Führungsschwäche der leitenden Beamten" fehlerhaft waren. Im Fall von Ian Tomlinson, der im April 2009 bei Demonstrationen gegen den G20-Gipfel in London getötet worden war, wurde im Juli ein Polizist vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. 2011 hatte eine Untersuchung festgestellt, es habe sich um eine widerrechtliche Tötung gehandelt, da Ian Tomlinson an inneren Blutungen gestorben war, nachdem ihn ein Polizist mit einem Schlagstock angegriffen und zu Boden gestoßen hatte. Im September befand eine Disziplinarkommission des MPS, der betreffende Polizist habe sich groben Fehlverhaltens schuldig gemacht.

Nordirland

In Nordirland verübten paramilitärische Gruppen weiterhin Gewalttaten. Am 1. November 2012 wurde der Vollzugsbeamte David Black erschossen; zu dem Anschlag bekannte sich eine republikanische Splittergruppe. Eine Reihe von Volksvertretern und Journalisten erhielten Drohungen loyalistischer paramilitärischer Gruppen und anonyme Drohungen. Bei Unruhen wurden im Laufe des Jahres mehrere Polizeibeamte und andere Personen verletzt. Im Oktober 2012 nahm eine von der nordirischen Regierung eingesetzte Untersuchungskommission ihre Tätigkeit zum Missbrauch von Heimkindern in den Jahren 1922–95 auf.

Im November begann die Polizei-Aufsichtsbehörde (Her Majesty’s Inspectorate of Constabulary – HMIC), die Arbeit des historischen Ermittlungsteams (Historical Enquiries Team – HET) zu überprüfen, das alle mutmaßlich mit dem Nordirland-Konflikt zusammenhängenden Todesfälle erneut untersuchen sollte. Die Überprüfung sollte vor allem klären, ob die Ermittlungen des HET in Fällen, die Angehörige der britischen Streitkräfte betrafen, Menschenrechtsstandards und Standards für die Polizeiarbeit entsprachen.

  • Im Dezember 2012 bestätigte die nordirische Polizeibehörde, dass die strafrechtlichen Ermittlungen zu den Vorfällen am 30. Januar 1972, der als Bloody Sunday in die Geschichte einging, im Jahr 2013 aufgenommen würden. Damals waren 13 Menschen von britischen Soldaten erschossen worden.

  • Im Dezember kassierte der High Court of Northern Ireland einen 2011 erstellten Bericht des Polizei-Ombudsmanns für Nordirland. Der Bericht betraf einen Anschlag paramilitärischer Gruppen auf einen Pub in Loughinisland, County Down, bei dem im Juni 1994 sechs Männer getötet worden waren. Im Juli nahm ein neuer Ombudsmann für die Polizei seine Tätigkeit auf. Er leitete Reformen ein, um bei Ermittlungen zu mutmaßlichem Fehlverhalten der Polizei in früheren Jahren bessere, gründlichere und unabhängigere Ergebnisse zu erzielen.

  • Im Dezember gelangte ein Bericht über die Tötung des Anwalts Patrick Finucane im Jahr 1989 zu dem Schluss, dass mehrere staatliche Stellen auf verschiedenen Ebenen in den Mord verwickelt waren. Eine "übergreifende staatliche Verschwörung" konnte jedoch nicht festgestellt werden. Der britische Premierminister bot der Familie des Opfers seine Entschuldigung an. Die Untersuchung war jedoch keineswegs so unabhängig, gründlich und effektiv, wie dies der Familie versprochen worden war.

Gewalt gegen Frauen

Im Mai 2012 stellte die Regierung eine neue Initiative in Aussicht, um sexuelle Gewalt in Kriegs- und Nachkriegssituationen zu bekämpfen. Sie kündigte an, dass sie dies auch zu einem Schwerpunktthema der britischen G8-Präsidentschaft im Jahr 2013 machen wolle.

Im Juni unterzeichnete Großbritannien das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

Um die Sicherheit der Bevölkerung zu erhöhen, wurden im November in England und Wales neue Gesetze eingeführt, die Stalking zur Straftat erklären.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Im Juli 2012 erklärte die Staatsanwaltschaft, es gebe keine hinreichenden Beweise für eine Anklageerhebung im Zusammenhang mit dem Tod des Angolaners Jimmy Mubenga. Er war 2010 während seiner Abschiebung nach Angola in einem Flugzeug zusammengebrochen und gestorben, nachdem Angestellte einer privaten Sicherheitsfirma gegen ihn vorgegangen waren. Laut Zeugenaussagen hatten die Mitarbeiter der Firma ihn auf gefährliche Weise fixiert. Es wurden Zweifel an der sachgerechten Schulung des privaten Sicherheitspersonals laut.

Im Oktober versuchten die Behörden entgegen einer Empfehlung des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR), einen Syrer zwangsweise in sein Heimatland zurückzuführen. Die Maßnahme wurde erst durch eine Anordnung des High Court gestoppt. Im Dezember veröffentlichte die Berufungsinstanz für Asyl- und Einwanderungsverfahren eine Richtlinienentscheidung, der zufolge Asylsuchende angesichts der aktuellen Gefährdungslage nicht nach Syrien zurückgeführt werden sollten.

Auch 2012 wurden Flüchtlinge aus Sri Lanka in ihr Heimatland abgeschoben, obwohl glaubhafte Beweise dafür vorlagen, dass ihnen dort Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.

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