Amnesty Report Ukraine 11. Mai 2011

Ukraine 2011

 

Amtliche Bezeichnung: Ukraine Staatsoberhaupt: Wiktor Janukowytsch (löste im Februar Wiktor Juschtschenko im Amt ab) Regierungschef: Mykola Asarow (löste im März Juljia Tymoschenko im Amt ab) Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 45,4 Mio. Lebenserwartung: 68,6 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 18/13 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 99,7%

Es gab 2010 Meldungen über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und in Polizeigewahrsam. Häftlinge und Tatverdächtige erhielten keine ausreichende medizinische Versorgung. Menschenrechtsverteidiger wurden angegriffen und von Beamten mit Polizeibefugnissen drangsaliert. Flüchtlinge und Asylsuchende waren von Zwangsrückführungen und anderen Menschenrechtsverletzungen bedroht. Die Polizei diskriminierte ethnische Minderheiten. Friedliche Demonstrierende wurden Opfer von Festnahmen und Gewalt.

Folter und andere Misshandlungen

Im Berichtsjahr gab es erneut Meldungen über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam. Im März wurde die Abteilung für Menschenrechte des Innenministeriums, die für die Überwachung der Polizeihaft zuständig war, geschlossen und durch eine kleinere Abteilung ohne Kontrollauftrag ersetzt.

Am 1. Juli 2010 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Urteil, dass einige Häftlinge Opfer von Folter und anderen Misshandlungen geworden seien. Die Häftlinge waren im Gefängnis Zamkova in der Region Khmelnitskiy bei zwei Vorfällen in den Jahren 2001 und 2002 geschlagen worden. Die Schläge wurden während einer Fortbildung für die schnelle Eingreiftruppe erteilt, eine Spezialeinheit von Gefängniswärtern, die bei Unruhen in Haftanstalten zum Einsatz kommt.

  • Am 1. Juli 2010 wurden Häftlinge im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 von Winnyzja dem Vernehmen nach von Angehörigen der schnellen Eingreiftruppe misshandelt, weil sie gegen die Misshandlung einer Gruppe von Gefangenen am Vortag protestiert hatten. Angehörige der Häftlinge erstatteten über die Vorfälle an diesen beiden Tagen Bericht. Demnach sollte am 30. Juni eine Gruppe von 15 Gefangenen vor Gericht erscheinen. Die Polizeibeamten, die sie dorthin brachten, wiesen einen der Häftlinge an, sich nackt auszuziehen. Als dieser sich weigerte, seine Unterhose auszuziehen, wurde er geschlagen und mit Handschellen an die Wand gefesselt. Andere Gefangene wurden ebenfalls geschlagen. Als der Polizeikonvoi am nächsten Tag eintraf, um die Gefangenen zum Gericht zu bringen, weigerten sich diese, ihre Zellen zu verlassen, aus Protest gegen die Ereignisse am Vortag. Die Gefängnisaufsicht rief daraufhin die schnelle Eingreiftruppe zu Hilfe, die wahllos auf Gefangene eingeschlagen haben soll.

Tod in Gewahrsam

Im Januar 2010 erklärte der stellvertretende Leiter der Strafvollzugsbehörde, dass die medizinische Versorgung in den Gefängnissen unzureichend sei. Häftlingen war es nicht erlaubt, das Gefängnis zu verlassen, um sich außerhalb der Haftanstalt medizinisch behandeln zu lassen.

  • Tamaz Kardava starb am 7. April im Krankenhaus, weil man ihm zuvor die notwendige medizinische Versorgung verweigert hatte. Tamaz Kardava, ein georgischer Staatsangehöriger, der vor dem Konflikt in Abchasien geflüchtet war, litt bereits an Hepatitis C, als er im August 2008 in der Ukraine festgenommen wurde. Berichten zufolge wurde er auf der Polizeiwache des Kiewer Bezirks Shevchenkovskiy gefoltert, um ihn zu dem "Geständnis" zu zwingen, einen Einbruchdiebstahl begangen zu haben. Medizinische Gutachten bestätigten, dass er brutal geschlagen und mit einem Polizeiknüppel vergewaltigt worden war. In den letzten beiden Monaten seiner Untersuchungshaft hatte man ihm jegliche medizinische Behandlung für seine Krankheit verweigert, und sein Gesundheitszustand hatte sich dramatisch verschlechtert. Am 30. März lag er sechs Stunden lang auf einer Bahre auf dem Boden eines Gerichtssaals im Gericht von Shevchenkovskiy in Kiew. Der Antrag seines Anwalts, ihn sofort ins Krankenhaus bringen zu lassen, wurde vom Richter zurückgewiesen.

Menschenrechtsverteidiger

Die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern und NGOs wurde durch Gerichtsentscheidungen und tätliche Übergriffe behindert. Mindestens drei Menschenrechtsverteidiger waren wegen ihres rechtmäßigen Engagements für die Menschenrechte Angriffen ausgesetzt.

  • Im Mai 2010 wurde Andrei Fedosov, der Vorsitzende der Organisation Uzer, die sich für die Rechte geistig behinderter Menschen einsetzt, von unbekannten Männern angegriffen. Er war zuvor bereits telefonisch bedroht worden. Die Polizei weigerte sich jedoch, seine Anzeige aufzunehmen und wurde nicht tätig. Im Juli wurde er im Zusammenhang mit einer Straftat, die er zehn Jahre zuvor, im Alter von 15 Jahren begangen haben soll, einen Tag lang in Haft genommen. Am 20. September wurde die Klage gegen ihn fallengelassen, da sich nachweisen ließ, dass er zum fraglichen Zeitpunkt in einer geschlossenen Kinderklinik war und somit nicht als Täter in Frage kam.

  • Am 29. Oktober 2010 ordnete ein Gericht in Winnyzja an, dass sich der Gewerkschafter Andrei Bondarenko einer psychiatrischen Zwangsuntersuchung zu unterziehen habe. Ein Rechtsmittel gegen das Urteil wurde im November abgelehnt. Andrei Bondarenko hatte bisher nicht unter psychischen Erkrankungen gelitten und bereits drei psychiatrische Untersuchungen absolviert, die letzte davon im Oktober, um seine Gesundheit nachzuweisen. Die Staatsanwaltschaft begründete eine erneute Untersuchung u.a. mit einem "übermäßigen Bewusstsein für seine eigenen Rechte und die Rechte anderer und seiner unkontrollierbaren Bereitschaft, diese Rechte auf unrealistische Weise zu verteidigen". Andrei Bondarenko hatte sich für die Rechte der Saisonarbeiter in den Zuckerrübenfabriken im Bezirk Winnyzja eingesetzt und dabei Korruption in den Führungsetagen aufgedeckt.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten

Asylsuchende wurden in der Ukraine weiterhin Opfer von willkürlichen Inhaftierungen, Rassismus und Erpressung durch die Polizei. Sie liefen außerdem Gefahr, in Länder zurückgeführt zu werden, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Da es kein angemessenes Asylverfahren gab, genossen sie keinen ausreichenden Schutz.

Im Januar 2010 trat das Rückübernahmeabkommen für Angehörige von Drittstaaten zwischen der EU und der Ukraine in Kraft. Nach diesem Abkommen können EU-Staaten Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus in die Ukraine zurückführen, sofern sie über die Ukraine in die EU eingereist sind. Der Internationalen Organisation für Migration zufolge wurden zwischen Januar und Juli 590 Personen im Rahmen des Rückübernahmeabkommens zurückgeführt. Es lagen Berichte vor, dass Migranten in der Abschiebehaft geschlagen oder anderweitig misshandelt wurden. Zudem sollen sich unter den zurückgeführten Personen auch Asylsuchende befunden haben, obwohl das Rückübernahmeabkommen nur für "Personen mit rechtswidrigem Aufenthalt" gilt.

  • Ende 2010 warteten vier Asylsuchende aus Usbekistan – Umid Khamroev, Kosim Dadakhanov, Utkir Akramov und Zikrillo Kholikov – in Haft auf ihre Auslieferung nach Usbekistan. Den vier Männern wurde dort u.a. Zugehörigkeit zu einer illegalen religiösen oder extremistischen Organisation, Verbreitung von Materialien, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden, sowie versuchter Angriff auf die Verfassungsordnung zur Last gelegt. Sie waren bei einer Rückkehr dem Risiko von Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt. Im Juli forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Regierung offiziell auf, die Asylsuchenden nicht nach Usbekistan abzuschieben, bis ihr Fall genau untersucht worden sei. Er zog diese Forderung jedoch nach Zusagen zurück, dass die Männer erst dann abgeschoben würden, wenn alle Mittel des Asylverfahrens ausgeschöpft seien.

Rassismus

Die Polizei nahm weiterhin Menschen wegen ihrer Hautfarbe fest und inhaftierte sie.

  • Am 29. Januar 2010 forderten drei Polizeibeamte in Zivil die beiden Somalier Ismail Abdi Ahmed und Ibrahim Muhammad Abdi vor ihrem Wohngebäude auf, ihre Papiere zu zeigen. Die Polizeibeamten sollen sich dann mit Gewalt Zugriff zu ihrer Wohnung verschafft, diese ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht und einen der Bewohner mit der Faust geschlagen haben. Dann entnahmen sie der Tasche einer Jeanshose, die Ibrahim Muhammad Abdi gehörte, 250 US-Dollar. Während des gesamten Vorfalls wurden die Somalier von den Polizisten als "Piraten" bezeichnet. Am 13. Februar erschienen zwei der Polizeibeamten erneut vor der Wohnung und forderten die somalischen Bewohner auf, ihre öffentliche Aussage zu der Durchsuchung zurückzuziehen und sich dabei filmen zu lassen. Die Somalier weigerten sich jedoch, die Tür zu öffnen, und die Beamten zogen nach einigen Stunden wieder ab.

Recht auf Versammlungsfreiheit

  • Im Mai und Juni 2010 wurden friedlich Demonstrierende, die gegen das illegale Fällen von Bäumen in der Stadt Charkiw protestierten, von Angehörigen der sogenannten Stadtwache (privaten Sicherheitskräften im Dienst der Stadtverwaltung) geschlagen. Einigen wurde später die medizinische Versorgung verweigert, so auch Liubov Melnik, die nach Schlägen der "Stadtwächter" ins Krankenhaus gebracht werden musste. Dem Vernehmen nach hatten Angehörige der Stadtwache sie aufgefordert, sie solle verschweigen, dass sie geschlagen worden sei, und als Grund für ihre Verletzungen angeben, sie sei gestürzt. Als sie dies ablehnte, wurde sie vom Krankenhaus darüber informiert, dass man keine freien Betten habe und sie entlassen müsse. Anschließend weigerten sich drei weitere Krankenhäuser in Charkiw, sie zu behandeln. Am 2. Juni wurden Demonstrierende, die sich auf den Bäumen befanden, verletzt, als Holzfäller damit begannen, die Bäume abzusägen.

Nach Berichten von Demonstrierenden standen Polizisten untätig daneben, als die "Stadtwächter" Protestierende und Journalisten verprügelten. Am 28. Mai wurden zwischen zehn und zwölf Personen für etwa acht Stunden von der Polizei inhaftiert, bevor sie dem Haftrichter vorgeführt wurden. Andrei Yevarnitsky und Denis Chernega wurden am 9. Juni wegen "böswilliger Weigerung, einem Polizeibeamten Folge zu leisten" zu 15 Tagen Haft verurteilt. Aus Videomaterial zu den Ereignissen ging jedoch hervor, dass die beiden Demonstranten den Beamten friedlich gefolgt waren.

Amnesty International: Missionen und Bericht

Delegierte von Amnesty International besuchten die Ukraine im Januar, April und November.

"Put deeds before words": Deliver human rights for Ukraine (EUR 50//004/2010)

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