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“Das System vergibt nicht” – Krim-Aktivisten vor russisches Militärgericht gezerrt
Oleg Sentsov (links), ein bekannter ukrainischer Regisseur, und Ökologe Aleksandr Kolchenko.
© Anton Naumlyuk
Sie haben bereits mehr als ein Jahr im Gefängnis verbracht und müssen dort möglicherweise noch weitaus länger bleiben: Regisseur Oleg Sentsov und Ökologe Aleksandr Kolchenko sind von einem russischen Militärgericht für "terroristische Aktivitäten" angeklagt, die sie womöglich nicht begangen haben. Bogdan Ovcharuk berichtet über einen Prozess, der auf konstruierten Vorwürfen zu beruhen scheint und kein faires Verfahren vermuten lässt.
Bogdan Ovcharuk ist Medien- und Kommunikationsverantwortlicher von Amnesty International in der Ukraine
Zwei hohe Zäune umschließen das Militärgericht in der Stadt Rostow am Don im Süden Russlands. Vor kurzem drängte sich hier eine Gruppe von Journalisten, Diplomaten und Menschenrechtsverteidigern bei 40 Grad zusammen, um in das Gebäude zu gelangen.
Auch ich befand mich unter ihnen. Ich war aus der benachbarten Ukraine angereist, um einen entscheidenden Teil des Verfahrens gegen den bekannten ukrainischen Regisseur Oleg Sentsov und den Ökologen Aleksandr Kolchenko zu beobachten: die Befragung der Zeugen.
Beide Männer sind Bewohner der Krim und wurden von Angehörigen des russischen Geheimdiensts (FSB) festgenommen, kurz nachdem Russland die Halbinsel im Schwarzen Meer im März 2014 besetzt hatte. Seitdem befinden sie sich hinter Gittern.
Die Vorwürfe der Militärstaatsanwaltschaft scheinen den Fantasievorstellungen eines Geheimdienstmitarbeiters zu entsprechen – ausgedacht, um die Propagandaschlacht Russlands gegen die Ukraine zu unterstützen.
Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko haben den Fehler begangen, öffentlich ihre Ablehnung der Besetzung auszudrücken. Dies zog eine erbitterte Reaktion seitens der russischen Behörden nach sich. Sentsov wird beschuldigt, eine "terroristische" Organisation – den lokalen Ableger der ukrainischen rechtsorientierten Organisation Rechter Sektor – anzuführen. Außerdem werden ihm und Kolchenko Brandanschläge auf die Büros pro-russischer Gruppen in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, vorgeworfen. Diese Brandanschläge bezeichnen die Behörden als "terroristische Aktivitäten". Beide Männer weisen die Terrorismus-Vorwürfe zurück und bestreiten jegliche Verbindung zur Organisation Rechter Sektor.
Sie haben bereits mehr als ein Jahr im Gefängnis verbracht und müssen dort möglicherweise noch weitaus länger bleiben – Sentsov droht eine lebenslange und Kolchenko eine 20-jährige Haftstrafe.
Schauprozess
Abgesehen davon, dass man die beiden Männer von der Krim weggebracht hat und gemäß russischem Gesetz vor Gericht stellt, ist auch der Austragungsort dieses Verfahrens grundlegend falsch. Zivilpersonen dürfen nicht wegen Straftaten vor Militärgerichte gestellt werden, die in den Zuständigkeitsbereich von zivilen Gerichten fallen.
Obwohl es eine öffentliche Anhörung sein sollte, saßen die Angeklagten vergangene Woche eingesperrt in einen Eisenkäfig in einem winzigen Raum des Militärgerichts. Sie waren sehr zurückhaltend und antworteten kurz und knapp auf die Fragen des Militärrichters.
"Ich plädiere auf nicht schuldig (…) Ich bin der Ansicht, dass diese Vorwürfe politisch motiviert und konstruiert sind", erklärte Sentsov zu Beginn des Verfahrens.
Zusätzlich zu den deutlichen Anzeichen dafür, dass die Vorwürfe gegen Sentsov und Kolchenko politisch motiviert sind, herrschen ernsthafte Zweifel daran, dass sie ein faires Verfahren erhalten. Man hat sie nicht nur nach Russland verfrachtet, um sie weit entfernt von ihrer Heimat vor Gericht zu stellen, Sentsov hat zudem angegeben, dass er von Angehörigen des russischen Geheimdiensts gefoltert wurde – Vorwürfe, die nicht wirklich untersucht worden sind – und beide Angeklagte durften ihre Anwälte erst vier Tage nachdem man sie von der Krim weggebracht hatte, sehen.
Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft stützen sich auf drei Hauptzeugen und es gibt gute Gründe anzunehmen, dass mindestens zwei von ihnen ebenfalls gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Beide waren zusammen mit Sentsov und Kolchenko beschuldigt worden und sind in demselben Fall bereits verurteilt und inhaftiert worden.
Polizisten führten den ersten Zeugen, Aleksei Chirniy, in Handschellen in den Gerichtssaal. Er wirkte niedergeschlagen und schaute seine Mit-Aktivisten während der gesamten Verhandlung nicht an. Er sitzt derzeit eine siebenjährige Haftstrafe ab, nachdem er sich im selben Fall der Brandstiftung für schuldig bekannt hatte. Sein Anwalt gibt jedoch an, dass er unter Folter gestanden habe.
"Ich bleibe bei meinen vorherigen Aussagen, werde aber nichts weiter sagen", sagte Chirniy und schaute dabei auf den Boden. Der Staatsanwalt verlas daraufhin das zuvor von Chirniy abgelegte "Geständnis", was mehr als den halben Tag in Anspruch nahm.
Am nächsten Tag rief der Staatsanwalt einen weiteren Zeugen auf, den Anwalt Gennadiy Afanasiev. Er war die andere Person, die in diesem Fall bereits verurteilt worden ist und leistet derzeit ebenfalls eine siebenjährige Haftstrafe ab. Zur Überraschung aller widerrief er seine Aussagen und gab an, diese unter Zwang gemacht zu haben. Nach diesem mutigen Schritt besteht Grund zur Sorge um seine Sicherheit.
"Das russische System vergibt so etwas nicht", sagte ein Beobachter der Verhandlung. Afanasiev hat gegenüber örtlichen Kontrollbehörden der Gefängnisse angegeben, dass Mitarbeiter des russischen Geheimdiensts ihn nach der Aussageverweigerung in seiner Gefängniszelle aufgesucht und bedroht haben.
Der letzte Zeuge war ein Geheimdienstmitarbeiter. Er hatte Chirniy im Rahmen eines Undercover-Einsatzes mit unechten Sprengkörpern ausgestattet, was zu der Festnahme des Aktivisten führte.
Während des Verfahrens wurde zudem Videomaterial gezeigt, mit dem die Absicht Chirniys, eine Lenin-Statue und die Gedenkstätte "Ewige Flamme" in Simferopol zu sprengen, bewiesen werden sollte. Das Material enthielt nicht einen einzigen Hinweis auf Oleg Sentsov, geschweige denn darauf, dass er der Anführer der mutmaßlichen "terroristischen Gruppe" ist.
Weitere Aspekte des Falls sind ganz einfach absurd. Nach Ansicht des Staatsanwalts gehören zu den eindeutigen "Beweisen" für das Anführen einer "terroristischen" Gruppe und der Planung von bewaffneten Konfrontationen mit der Polizei solch banale Dinge wie der Besitz von Medikamenten gegen Durchfall, Schmerztabletten oder Visitenkarten des ukrainischen Sportministers und des Bürgermeisters von Kiew.
In einer Entscheidung vom November 2014 hat der Oberste Gerichtshof von Russland drei ukrainische rechtsgerichtete Organisationen verboten, darunter auch Rechter Sektor. In dieser Entscheidung zitierte das Gericht die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko, um zu beweisen, dass die Organisation in Russland aktiv ist. Der Staatsanwalt scheint diese Verbindung nun unter allen Umständen aufrecht erhalten zu wollen.
Solidaritätsbekundungen von russischen Aktivisten
Nicht nur Menschen in der Ukraine, sondern auch russische Aktivisten haben auf das höchst politische Verfahren gegen Sentsov und Kolchenko reagiert.
Nach einer der Anhörungen ging ich in einen Park in Rostow, in dem lokale Aktivisten ihre Unterstützung von Sentsov und Kolchenko mit Mahnwachen, an denen nur jeweils eine Person teilnimmt, zum Ausdruck brachten. Dies ist die einzige Form des Protests, für die man in Russland keine Genehmigung der Behörden braucht.
"Ich finde, es ist unfair, dass die beiden wegen etwas vor Gericht gestellt werden, das sie nicht begangen haben. [Jemanden] wegen Terrorismus anklagen, weil er eine Tür in Brand gesetzt hat – selbst wenn er es getan hat – ergibt keinen Sinn", sagte einer der Aktivisten.
Kurz vor der Urteilsverkündung ist die Strategie des Staatsanwalts so gut wie in sich zusammengefallen, sodass einige Menschen in Russland nicht länger von der Schuld der beiden überzeugt sind und sich trauen, dies auch in der Öffentlichkeit zu sagen.
Amnesty International fordert die russischen Behörden weiter dazu auf, die absurden "Terrorismus"-Anklagen gegen Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko fallenzulassen und sicherzustellen, dass sowohl die Angeklagten als auch die Zeugen vor Folter und anderweitiger Misshandlung geschützt sind.
Eine Version dieses Textes ist ursprünglich in der Zeitung Newsweek erschienen.