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Tschad 2023
© Amnesty International
Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023
Die Familien von Menschen, die bei Demonstrationen im Oktober 2022 mutmaßlich durch Sicherheitskräfte rechtswidrig getötet wurden, warteten noch immer auf Gerechtigkeit. Die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit waren weiterhin eingeschränkt. Bei bewaffneten Zusammenstößen kamen im Süden des Landes mehr als 100 Dorfbewohner*innen ums Leben. Das Recht auf Nahrung war durch die Inflation, die geringen Niederschläge, die humanitäre Krise aufgrund des Zustroms von Flüchtlingen aus dem Sudan und den Mangel an humanitärer Hilfe bedroht. Frühverheiratungen und geschlechtsspezifische Gewalt waren nach wie vor weit verbreitet.
Hintergrund
Im März 2023 begnadigte der Präsident der Übergangsregierung 380 mutmaßliche Angehörige der Rebellengruppe Front pour l’alternance et la concorde au Tchad, die 2022 zu Freiheitsstrafen unterschiedlicher Länge verurteilt worden waren. Am 17. Dezember 2023 fand im Vorfeld der für 2024 angekündigten Präsidentschaftswahlen ein Referendum über einen neuen Verfassungsentwurf statt. Die Weltbank hatte einen Anstieg der Inflation von 5,8 Prozent im Jahr 2022 auf 13,2 Prozent im Jahr 2023 prognostiziert, wobei die zu erwartende Inflation bei Nahrungsmitteln auf 13,9 Prozent geschätzt wurde.
Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung
Bei der Untersuchung, die der Justizminister am Tag nach den Demonstrationen vom 20. Oktober 2022 angekündigt hatte, waren bis Ende 2023 noch keine konkreten Fortschritte zu verzeichnen. Nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission waren bei den Demonstrationen mindestens 128 Menschen getötet worden. Die Familien der Opfer warteten noch immer auf Antworten und sagten, dass sie Angst hätten, die Behörden um eine Erklärung für die ausbleibenden Fortschritte zu bitten. Am 20. Oktober 2023 kritisierten mehrere tschadische Menschenrechtsorganisationen, dass noch keine Angehörigen der Streit- und Sicherheitskräfte wegen mutmaßlicher rechtswidriger Tötungen strafrechtlich verfolgt worden seien.
Recht auf friedliche Versammlung
Im April 2023 wurden 259 Personen begnadigt, die wegen ihrer Teilnahme an den verbotenen Demonstrationen im Oktober 2022 festgenommen und hinter verschlossenen Türen in der Ortschaft Koro Toro verurteilt worden waren. Im Juli wurden 119 weitere Begnadigungen ausgesprochen.
Im Juli 2023 verbot das Ministerium für öffentliche Sicherheit zwei Demonstrationen der Oppositionsparteien Rassemblement Populaire pour la Justice et l’Égalité au Tchad und Parti des Démocrates pour le Renouveau, die am selben Tag hätten stattfinden sollen. Das Ministerium gab an, dass diese beiden politischen Parteien rechtlich nicht existierten und daher nicht die Voraussetzungen für eine Genehmigung der Demonstrationen erfüllten. Die Vorsitzenden der beiden Parteien wiesen diese Ansicht zurück. Im August 2023 wurde eine von der oppositionellen Plattform Mouvement révolutionnaire pour la démocratie et la paix geplante Demonstration mit der Begründung verboten, die Veranstaltung würde wahrscheinlich die öffentliche Ordnung stören.
Am 1. August 2023 erklärten die Behörden, dass Organisator*innen verbotener Demonstrationen mit Haftstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bestraft werden könnten, was gegen internationale Menschenrechtsstandards verstößt.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Am 25. August 2023 nahm die Oberste Medienbehörde das beliebte Nachrichtenportal Alwihda Info wegen der Veröffentlichung von zwei Artikeln für acht Tage vom Netz. Der erste Artikel, in dem es um die Entlassung eines Obersts ging, soll den "Zusammenhalt und die Disziplin" in der Armee untergraben und der zweite Artikel "beleidigende Bemerkungen" über den Präsidenten enthalten haben. Am 26. August wurde ein Redakteur von Alwihda Info Berichten zufolge von Angehörigen des Geheimdiensts Agence nationale de sécurité (ANS) in Autos verfolgt, sodass er sich gezwungen sah, für mehrere Stunden Zuflucht bei ihm unbekannten Personen zu suchen. Ein weiterer Journalist des Nachrichtenportals wurde am selben Tag daran gehindert, über eine Veranstaltung des Verkehrsministeriums im Norden des Landes zu berichten.
Ein Journalist des Fernsehsenders Toumaï, der festgenommen worden war, weil er über seine Erlebnisse während der Demonstrationen im Oktober 2022 berichtet hatte, wurde im Mai 2023 freigelassen. Nach seiner Freilassung äußerte er Medien gegenüber, dass er während seiner Festnahme und Inhaftierung im Gefängnis von Koro Toro misshandelt worden sei, woraufhin er telefonische Drohungen erhielt, sodass er das Land aus Sicherheitsgründen verlassen musste.
Recht auf Leben und Sicherheit der Person
Laut dem UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden zwischen Januar und Juni 2023 bei bewaffneten Zusammenstößen in den südlichen Departements an der Grenze zur Zentralafrikanischen Republik mindestens 135 Menschen getötet, 359 verletzt und mehr als 26.000 vertrieben. Überlebende berichteten, dass es sich bei den Angreifern teils um Angehörige bewaffneter Gruppen aus der Zentralafrikanischen Republik und teils um Hirtengruppen handelte, die um den Zugang zu Weideland kämpften. Die Überlebenden gaben an, dass die Sicherheitskräfte, wenn sie alarmiert würden, nicht rechtzeitig genug eintreffen, um die Bevölkerung zu schützen, und dass die Justiz nicht genug unternehme, wenn Tatverdächtige identifiziert worden seien.
Recht auf Nahrung
Die Ernährungsunsicherheit wurde durch Faktoren wie die Ölpreisinflation und die humanitäre Krise im Osten des Landes verschärft. Dort hatte der Tschad mehr als 400.000 Flüchtlinge aufgenommen, die vor dem Konflikt im Sudan geflohen waren.
OCHA berichtete im Oktober 2023, dass im Tschad etwa 5,7 Mio. Menschen unter Ernährungsunsicherheit und Unterernährung litten, von denen sich 2,1 Mio. in einer kritischen Lage befanden.
Nach Einschätzung des Frühwarnsystems für Hungersnöte der US-Behörde für internationale Entwicklung (Famine Early Warning Systems Network – FEWS NET) drohte sich die Ernährungslage im Tschad durch die geringen Niederschläge und den anhaltenden Konflikt weiter zu verschlechtern. Die Krisenreaktionsmechanismen erwiesen sich 2023 als unzureichend. FEWS NET meldete einen Rückgang bei der Bereitstellung von Nahrungs- und Finanzmitteln. Laut OCHA waren lediglich 31,8 Prozent der benötigten internationalen humanitären Hilfsgelder zusammengekommen. Bis September 2023 hatte die internationale Gemeinschaft für die Ernährungssicherheit im Tschad etwa 89 Mio. Euro (96,9 Mio. US-Dollar) zur Verfügung gestellt, obwohl der ermittelte Bedarf bei etwa 207 Mio. Euro (225 Mio. US-Dollar) lag.
Rechte von Frauen und Mädchen
Laut einem Bericht der französischen Denkfabrik Groupe Urgence Réhabilitation Développement vom März 2023 hatten junge Leute im Tschad kaum Zugang zu reproduktiven Gesundheitsleistungen. Außerdem spielten bei dem Thema zahlreiche wirtschaftliche, soziale, familiäre und politische Zwänge ein Rolle.
In dem Bericht hieß es, dass 24,2 Prozent der Frauen zwischen 20 und 24 Jahren vor ihrem 15. Lebensjahr verheiratet wurden. In ländlichen Gebieten waren es 25 Prozent und in den Städten 21 Prozent.
Geschlechtsspezifische Gewalt
Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt hatten aus sozialen Gründen und wegen der mangelnden Unterstützung durch die Strafverfolgungsbehörden und die traditionellen Autoritäten weiterhin Angst, Übergriffe zu melden.
Nach Angaben des von den Vereinten Nationen betriebenen Informationsmanagementsystems für die Dokumentation von Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt wurden zwischen Januar und Juni 2023 1.879 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt gemeldet. In 34 Prozent der Fälle handelte es sich um tätliche Übergriffe, in 27 Prozent um psychische Gewalt und in 24 Prozent ging es um das Nichtgewähren von Chancen, Ressourcen und/oder Leistungen; Beispiele hierfür waren, dass einer Frau das Erbe vorenthalten wurde und dass ein junges Mädchen die Schule nicht besuchen durfte.