Amnesty Report Libanon 28. März 2023

Libanon 2022

Eine Menschenmenge, viele haben die Hände erhoben

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Den Behörden gelang es nicht, die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu gewährleisten, die durch die Wirtschaftskrise des Landes beeinträchtigt waren. Dadurch hatten viele Menschen keinen angemessenen Zugang zu medizinischer Versorgung und sauberem Trinkwasser. Personen, die für Folter und andere Verbrechen verantwortlich waren, mussten weiterhin keine Strafverfolgung befürchten. Die Behörden griffen auf Verleumdungsgesetze zurück, um strafrechtlich gegen Kritiker*innen vorzugehen. Arbeitsmigrant*innen, insbesondere weibliche Hausangestellte, waren im Rahmen des diskriminierenden Sponsorensystems Kafala weiterhin Menschenrechtsverstößen ausgesetzt. Frauen wurden nach wie vor durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert. Die Behörden verstärkten die Abschiebung syrischer Flüchtlinge in ihr Herkunftsland, obwohl ihnen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Öffentliche LGBTI-Veranstaltungen während des Pride-Monats wurden verboten.

Hintergrund

Aufgrund der politischen Pattsituation gelang es den Behörden nicht, die Wirtschaftskrise zu bewältigen. Im November 2022 erreichte die Preisinflation bei Lebensmitteln nach Angaben des Statistischen Zentralamts 171,2 Prozent, womit der Libanon nach Angaben der Weltbank weltweit das Land mit dem zweithöchsten Grad an Ernährungsunsicherheit war. Die Energieknappheit führte dazu, dass pro Tag nur ein bis zwei Stunden Strom zur Verfügung standen.

Am 7. April 2022 gab der Internationale Währungsfonds bekannt, dass er dem Libanon einen Kredit in Höhe von rund 3 Mrd. US-Dollar (2,75 Mrd. Euro) gewähren werde, der an die Umsetzung von acht Reformen durch die Regierung gebunden sei. Bis zum Jahresende konnte nur eine der Reformen umgesetzt werden, nämlich die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2022, das am 15. November in Kraft trat.

Nach den Parlamentswahlen am 15. Mai 2022, bei denen unabhängige Kandidat*innen, die die Proteste von 2019 unterstützt hatten, 13 von 128 Sitzen gewannen, ernannte das neue Parlament Najib Mikati zum Premierminister. Es gelang ihm bis Ende des Jahres jedoch nicht, eine Regierung zu bilden.

Am 31. Oktober 2022 endete die Amtszeit von Michel Aoun als Präsident. Trotz zehn Wahlsitzungen im Parlament im November und Dezember konnte bis Ende 2022 kein*e Nachfolger*in bestimmt werden.

Recht auf Gesundheit

Medikamente, z. B. gegen Krebs und andere chronische Krankheiten, waren auch im Jahr 2022 für den Großteil der Bevölkerung weder verfügbar noch erschwinglich, da die Regierung keinen angemessenen Notfallplan zur sozialen Absicherung als Ersatz für die im November 2021 gestrichenen Subventionen aufgestellt hatte. Die Zahl der Patient*innen, die kostenlose oder kostengünstige Medikamente und Behandlungen in öffentlichen Gesundheitszentren in Anspruch genommen haben, ist seit Beginn der Wirtschaftskrise 2019 um 62 Prozent gestiegen. Die Behörden stellten 2022 jedoch keine zusätzlichen finanziellen Mittel bereit, um diesen Bedarf zu decken.

Die Beschäftigten des Gesundheitswesens protestierten das ganze Jahr über gegen niedrige Löhne und unzureichende Mittel für die Finanzierung von Krankenhäusern, und Krebspatient*innen protestierten gegen den Mangel an Medikamenten.

Die Behörden verweigerten Gefängnisinsass*innen eine angemessene medizinische Versorgung und verlangten von den Familien der Häftlinge, alle Kosten für deren medizinische Behandlungen und Krankenhausaufenthalte zu übernehmen. Zwischen August und September 2022 starben mindestens drei Gefangene, weil sie nicht rechtzeitig in Krankenhäuser verlegt worden waren. Die Behörden kündigten eine Untersuchung von zwei der Todesfälle an.

Recht auf sauberes Trinkwasser

Den Behörden gelang es nicht, ausreichenden Zugang zu sauberem, öffentlich verfügbarem Wasser zu gewährleisten. Während des gesamten Jahres war die Wasserversorgung aufgrund von Stromausfällen immer wieder unterbrochen. Dadurch waren die Menschen gezwungen, Trinkwasser von privaten Anbietern zu kaufen, die keiner Aufsicht unterstanden, zu Preisen, die sechsmal höher lagen als 2019 und somit für den Großteil der Bevölkerung unerschwinglich waren.

Die mangelnde Instandhaltung der öffentlichen Wasserinfrastruktur durch die Behörden führte dazu, dass das Trinkwasser in einigen Gebieten mit Abwasser verunreinigt war. Im Juni 2022 wurden Hunderte neuer Fälle von Hepatitis A gemeldet, und im Oktober führte kontaminiertes Wasser zu mindestens 913 Cholerafällen.

Straflosigkeit

Angehörige der Behörden sowie der Sicherheits- und Streitkräfte wurden für Menschenrechtsverletzungen nach wie vor nicht zur Rechenschaft gezogen.

Die Ermittlungen im Zusammenhang mit der Explosion im Beiruter Hafen im Jahr 2020 lagen seit Dezember 2021 auf Eis, weil Parlamentsabgeordnete, die der Untersuchungsrichter zur Vernehmung vorgeladen hatte, Beschwerden gegen den Richter eingereicht hatten. Zwei von ihnen, Ghazi Zeaiter und Ali Hassan Khalil, wurden im Juni 2022 in den Parlamentsausschuss für Verwaltung und Justiz gewählt.

Am 23. April 2022 sank vor der Küste der libanesischen Hafenstadt Tripoli ein Boot mit rund 80 libanesischen, syrischen und palästinensischen Migrant*innen, als diese versuchten, nach Zypern überzusetzen. Die Behörden beschuldigten Menschenschmuggler, das Boot absichtlich überladen zu haben, doch Überlebende sagten aus, dass Angehörige der libanesischen Seestreitkräfte den Untergang durch Rammen des Bootes verursacht hätten. Überlebende und Familienangehörige erstatteten bei der Staatsanwaltschaft Anzeige wegen vorsätzlicher Tötung gegen einen Offizier und zwölf Angehörige der Marine. Die Staatsanwaltschaft übergab den Fall an die Militärjustiz, die ihn bis Ende des Jahres noch nicht bearbeitet hatte. Der militärische Geheimdienst gab im April 2022 bekannt, dass eine interne Untersuchung eingeleitet worden sei und kein Fehlverhalten von Marineangehörigen habe festgestellt werden können.

Folter und andere Misshandlungen

Laut Angaben der Anwaltskammer von Tripoli gingen die Justizbehörden im Jahr 2022 mindestens 21 Anzeigen, die unter Berufung auf das Antifoltergesetz von 2017 gegen mehrere Angehörige der Sicherheits- und Streitkräfte erstattet worden waren, nicht nach.

Im Mai 2022 besuchte der UN-Unterausschuss zur Verhütung von Folter den Libanon und stellte fest, dass seit seinem ersten Besuch im Jahr 2010 kaum Fortschritte bei der Verhütung von Folter erzielt worden waren.

Am 30. August 2022 nahmen Sicherheitskräfte den syrischen Flüchtling Bashar Abed Al-Saud in seiner Wohnung in der Hauptstadt Beirut fest. Vier Tage später wurde seine Familie telefonisch aufgefordert, seine Leiche beim Staatssicherheitsdienst im Südlibanon abzuholen. Kurz darauf veröffentlichte eine Zeitung Bilder und Videos, die blaue Flecken und Wunden an Bashar Abed Al-Sauds Körper zeigten, und löste damit öffentliche Empörung aus. Der Staatssicherheitsdienst gab eine Erklärung ab, in der es hieß, Bashar Abdel-Saud habe vor seinem Tod "gestanden", Mitglied der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat zu sein. Im September 2022 leitete die Militärgerichtsbarkeit eine Untersuchung ein und ordnete die Inhaftierung von fünf Angehörigen der Staatssicherheit an, verweigerte jedoch dem Rechtsbeistand der Familie die Akteneinsicht. Die erste gerichtliche Anhörung fand im Dezember statt.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Verleumdungsgesetze wurden von den Sicherheits- und Militärapparaten weiterhin dazu benutzt, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Im Jahr 2022 wurden auf dieser Grundlage mindestens drei Personen vorgeladen bzw. mit Ermittlungsverfahren überzogen.

Am 24. Juni 2022 verurteilte ein Militärgericht die Komikerin Shaden Fakih wegen "Beleidigung" und "Schädigung des Ansehens" der Inneren Sicherheitskräfte zu einer Geldstrafe von 1.858.000 Libanesischen Pfund (etwa 1.200 Euro). Mitarbeiter*innen des Amts für Cyberkriminalität hatte sie erstmals im Mai 2021 verhört, nachdem sich Angehörige der Inneren Sicherheitskräfte über einen satirischen Anruf beschwert hatten. Shaden Fakih hatte während des Corona-Lockdowns die Hotline der Sicherheitskräfte angerufen und darum gebeten, ihr Damenbinden nach Hause zu liefern.

Frauenrechte

Frauen wurden weiterhin vor dem Gesetz und im täglichen Leben diskriminiert, u. a. in Bezug auf das gleichberechtigte Sorgerecht für Kinder. Am 4. August 2022 konnte Liliane Cheaito, die bei der Explosion im Hafen von Beirut verletzt worden war und seitdem im Krankenhaus lag, zum ersten Mal seit 2020 ihren zweijährigen Sohn wiedersehen. Dies hatte das schiitische Religionsgericht nach einem zweijährigen Anhörungsprozess entschieden. Zuvor hatte ihr Ehemann Besuche des gemeinsamen Sohnes untersagt, da er nicht wollte, dass dieser seine verletzte Mutter im Krankenhaus sieht. Dagegen hatte die Familie vor Gericht Klage eingereicht.

In der parlamentarischen Generalversammlung wurden am 27. Juli 2022 drei unabhängige weibliche Abgeordnete, die neu ins Parlament gewählt worden waren und den Behörden kritisch gegenüberstanden, von einer Reihe von Abgeordneten, einschließlich des Parlamentspräsidenten, verbal schikaniert. Eine der drei Frauen, die Abgeordnete Cynthia Zarazir, erklärte, das Parlament habe auf ihre formelle Beschwerde wegen Schikane nicht reagiert.

Rechte von Arbeitsmigrant*innen

Anders als in den vergangenen Jahren beteiligte sich der Arbeitsminister im Jahr 2022 nicht an Diskussionen über eine Reform des Kafala-Systems, das die Gefahr der Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen erhöht und Frauen kaum Aussicht auf Abhilfe bietet.

Am 4. August 2022 versuchten die Behörden, eine kenianische Hausangestellte nach Kenia abzuschieben, ohne ihren Rechtsbeistand zu informieren, obwohl sie beim UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) den Flüchtlingsstatus beantragt hatte. Der Allgemeine Sicherheitsdienst (General Security Office – GSO) hatte sie am 4. April festgenommen. Die Ermittlungen gegen sie waren am 21. April eingestellt worden, dennoch wurde sie weiter in Haft gehalten. Eine lokale NGO zur Bekämpfung von Rassismus intervenierte am Flughafen, um die Abschiebung zu stoppen, woraufhin die Frau wieder in die Haftanstalt zurückgebracht wurde. Nachdem sie sechs Monate in willkürlicher Haft verbracht hatte, ließ der GSO sie am 7. Oktober nach entsprechenden Forderungen lokaler und internationaler Organisationen frei.

Rechte von Flüchtlingen

Mit schätzungsweise 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen beherbergte der Libanon gemessen an seiner Bevölkerungszahl nach wie vor die meisten Geflüchteten weltweit. Wie der UNHCR im April 2022 mitteilte, lebten 88 Prozent der syrischen Flüchtlinge im Libanon infolge der Wirtschaftskrise und der Coronapandemie in extremer Armut.

Im September 2022 beauftragte der Premierminister den Direktor des GSO, den Plan für die "freiwillige" Rückkehr syrischer Flüchtlinge nach Syrien wieder aufzunehmen und alle Regionen in Syrien für sicher zu erklären, obwohl dort für zurückgekehrte Personen nachweislich die Gefahr schwerer Verfolgung bestand. Am 26. Oktober 2022 organisierte der GSO den ersten Rücktransport des Jahres 2022. Er bestand aus 551 Flüchtlingen, die sich auf Listen des GSO für eine Rückkehr eingetragen hatten und von der syrischen Regierung akzeptiert worden waren. Es bestand die Sorge, dass es sich bei diesem Vorgehen um "konstruktives Refoulement" handelte, da sich die Flüchtlinge vorgeblich freiwillig registrieren ließen, sie de facto jedoch möglicherweise durch verschiedene Faktoren zur Einwilligung gedrängt worden waren.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Die Behörden schränkten öffentliche Veranstaltungen von LGBTI+ sowie Organisationen, die sich für deren Rechte einsetzen, weiterhin ein.

Am 24. Juni 2022 verbot der Innenminister alle Versammlungen während des Pride-Monats, die seiner Ansicht nach auf die Förderung "sexueller Perversion" abzielten. Zwei Tage später riefen LGBTI-Organisationen und Einzelpersonen zu einer Protestkundgebung auf, woraufhin zahlreiche religiöse Gruppen eine Gegenaktion ankündigten und mit Gewalt drohten. Die Sicherheitskräfte stellten keinen Schutz für die Teilnehmenden der friedlichen Märsche in Aussicht und gingen auch nicht gegen Personen vor, die zu Gewalt aufriefen, weshalb die LGBTI-Gruppen ihre Protestaktion absagten. Im August fochten die lokalen Organisationen Legal Agenda und Helem das Versammlungsverbot des Innenministers vor dem Schura-Rat, dem obersten Verwaltungsgericht des Landes, mit der Begründung an, dass es zu Gewalt und Hass gegen Randgruppen aufrufe und gegen die verfassungsmäßigen Rechte von LGBTI+ auf Gleichheit, freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit verstoße. Am 1. November 2022 gab der Schura-Rat dem Rechtsmittel statt und setzte die Entscheidung des Ministers außer Kraft.

Klimakrise

Obgleich sich die Regierung im März 2021 zu einem bedingten Emissionsminderungsziel von 31 Prozent bis 2030 verpflichtet und ihr vorbehaltloses Emissionsminderungsziel auf 20 Prozent erhöht hatte, kündigte sie für 2022 keine neuen nationalen Klimabeiträge (Nationally Determined Contributions – NDC) an.

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