Amnesty Report Italien 28. März 2023

Italien 2022

In Decken gehüllte Menschen auf einem Boot

Geflüchtete im italienischen Porto delle Grazie am 15. Oktober 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Fälle von Folterungen gaben weiterhin Anlass zur Sorge. Die Polizei ging mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstrierende vor. Restriktive Maßnahmen gegen nicht genehmigte musikalische Veranstaltungen drohten das Recht auf Versammlungsfreiheit zu untergraben. Nach wie vor war ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen zu verzeichnen. Auf See gerettete Menschen mussten tagelang auf Schiffen ausharren, bevor sie an Land gehen durften. Die Regierung beschloss neue Regeln zur Einschränkung von Einsätzen durch Rettungsschiffe von NGOs. Die Zusammenarbeit mit Libyen im Bereich der Migration wurde ungeachtet aller Missstände ausgeweitet. In einigen Landesteilen war der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht gewährleistet. Die Armut nahm zu, wovon auch Kinder und ausländische Staatsangehörige stark betroffen waren. Das Parlament unternahm nichts, um LGBTI+, Frauen und Menschen mit Behinderungen besser vor Hassverbrechen zu schützen. Whistleblower*innen wurden nicht angemessen durch das Gesetz geschützt. Für medizinisches Personal in Krankenhäusern und Pflegeheimen endete die Impfpflicht gegen Covid-19.

Italien

Im Juli 2022 trat Mario Draghi als Ministerpräsident zurück. Die Parlamentswahlen im September brachten eine starke Mehrheit für eine rechtsextreme Koalition mit Beteiligung der Fratelli d’Italia unter der Führung von Giorgia Meloni, die im Oktober neue Ministerpräsidentin wurde. Während des Wahlkampfs und in ihrer ersten Rede vor dem Parlament verurteilte Giorgia Meloni Rassismus und Antisemitismus. Ihre Partei griff jedoch weiterhin auf Rhetorik und Symbole zurück, die an das faschistische Regime von Benito Mussolini erinnerten.

Folter und andere Misshandlungen

Im November 2022 begann der Prozess gegen 105 Gefängnisangestellte und andere Staatsbedienstete wegen verschiedener Straftaten, darunter Folter, im Zusammenhang mit der gewaltsamen Niederschlagung einer Protestveranstaltung in der Haftanstalt von Santa Maria Capua Vetere im April 2020.

Im Dezember wurde ein Polizist unter Hausarrest gestellt, dem Folter an Hasib Omerovic vorgeworfen wurde. Der Rom, der mit Behinderungen lebt, war während einer nicht offiziell genehmigten polizeilichen Durchsuchung seiner Wohnung außerhalb der Hauptstadt Rom im Juli 2022 aus dem Fenster gestürzt. Die Umstände des Sturzes waren nach wie vor unklar. Vier weitere Polizist*innen wurden unter dem Vorwurf der Falschaussage vom Dienst suspendiert.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Die Polizei ging wiederholt mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstrierende vor. Im Januar 2022 setzte die Bereitschaftspolizei in Turin Schlagstöcke gegen Studierende ein, die wegen des Todes eines 18-jährigen Praktikanten auf die Straße gegangen waren. Etwa 20 Personen wurden verletzt, eine davon schwer.

Im Dezember 2022 bewilligte die Regierung die Einführung eines neuen Straftatbestands, der das unerlaubte Betreten von Gelände oder Gebäuden zum Zweck einer Musik- oder Unterhaltungsversammlung, die als gefährlich für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit betrachtet wird, unter Strafe stellt. Den Organisator*innen solcher Veranstaltung drohten nun bis zu sechs Jahre Haft und eine Geldstrafe von bis zu 10.000 Euro. Es wurde befürchtet, dass diese neue Rechtsvorschrift gegen die Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit verstoßen könnte.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Im Jahr 2022 kamen 100 Frauen durch häusliche Gewalt ums Leben, 59 von ihnen wurden von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet. Dies stellte einen leichten Rückgang im Vergleich zum Vorjahr dar.

Der 2021 eingebrachte Gesetzentwurf zur Stärkung von Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen wurde auch 2022 nicht vom Parlament verabschiedet.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Mehr als 160.000 Geflüchtete aus der Ukraine bemühten sich 2022 gemäß der EU-Richtlinie 2001/55/EG (Massenzustromrichtlinie) um vorübergehenden Schutz in Italien. Die Behörden räumten ihnen einen vorrangigen Zugang zu Aufenthaltsgenehmigungen ein und gewährten ihnen Unterhaltsbeihilfen.

1.373 Menschen galten als vermisst, die auf dem Seeweg versucht hatten, nach Italien zu gelangen. Viele von ihnen waren von Libyen aus aufgebrochen. 105.140 Menschen reisten im Jahr 2022 ohne offizielle Erlaubnis auf dem Seeweg nach Italien ein (gegenüber 67.477 im Jahr 2021), von denen viele aus Seenot gerettet werden mussten. Bei mehr als 12.000 der über den Seeweg eingereisten Personen handelte es sich um unbegleitete Minderjährige. Im Juni vereinbarten 21 europäische Länder einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus für die Umverteilung von bis zu 10.000 Asylsuchenden aus Italien und anderen Mittelmeeranrainerstaaten.

Die Regierung stellte keinen sicheren Ort für die Ausschiffung Hunderter geretteter Menschen an Bord von NGO-Rettungsschiffen bereit und versuchte, ein Auswahlverfahren für die Ausschiffung einzuführen. Die französische Regierung erlaubte einer von Italien abgelehnten Gruppe von Menschen, in Frankreich von Bord zu gehen, im Gegenzug setzte sie allerdings die Überführung Geflüchteter von Italien nach Frankreich im Rahmen des Umverteilungsmechanismus aus. Im Dezember nahm die Regierung mit sofortiger Wirkung ein Gesetz an, das darauf abzielte, den Einsatz von NGO-Rettungsschiffen einzuschränken. Demnach muss die Besatzung dieser Schiffe einen Ausschiffungshafen beantragen und hat diesen nach jedem Rettungseinsatz anzusteuern. Dadurch können pro Einsatz weniger Menschen gerettet werden. Darüber hinaus muss die Besatzung noch auf See in Erfahrung bringen, ob die geretteten Menschen beabsichtigen, Asyl zu beantragen. Verstöße gegen diese Regelungen ziehen Verwaltungsstrafen nach sich, z. B. in Form von Geldstrafen oder der vorübergehenden bzw. permanenten Beschlagnahmung der Schiffe.

Im Dezember 2022 befand ein Gericht in Rom (Tribunale Ordinario di Roma) einen Angehörigen der italienischen Marine und einen Angehörigen der Küstenwache der Unterlassung eines Rettungseinsatzes für schuldig. In dem Verfahren ging es um einen Fall vom Oktober 2013, bei dem ein Boot mit Geflüchteten Schiffbruch erlitten hatte, und da keine Rettung angestrengt wurde, kamen dabei 268 Personen ums Leben, darunter zahlreiche Kinder. Aufgrund der Verjährungsfrist konnte jedoch keine Strafe gegen die beiden Männer verhängt werden.

Es gab weiterhin Berichte über die Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen, wobei die Betroffenen u. a. im landwirtschaftlichen Sektor zumeist unterbezahlt waren und in minderwertigen Unterkünften, zum Teil unter gefährlichen Umständen, leben mussten. Im November wurden in der Nähe von Foggia (Apulien) fünf Personen wegen der Ausbeutung von Arbeiter*innen bei der Tomatenernte festgenommen.

Zusammenarbeit mit Libyen

Italien unterstützte die libyschen Behörden nach wie vor dabei, Flüchtlinge und Migrant*innen in Libyen festzuhalten, obwohl es immer wieder zu schwerwiegenden Menschenrechtsverstößen durch libysche Behörden und Milizen kam. Im Laufe des Jahres 2022 fingen die libyschen Behörden mit logistischer und materieller Unterstützung Italiens mehr als 24.000 Menschen auf See ab und brachten sie nach Libyen zurück.

Im Juli 2022 billigte das italienische Parlament die Verlängerung der Militärmissionen zur Unterstützung der libyschen Behörden beim Abfangen von Flüchtlingen und Migrant*innen auf See und deren Rückführung nach Libyen um ein weiteres Jahr. Im November verlängerte sich die Vereinbarung zwischen Italien und Libyen zu Migration und Grenzkontrollen stillschweigend um weitere drei Jahre.

Kriminalisierung von Solidarität

Gerichtsverfahren wegen "Beihilfe zur irregulären Einreise" wurden fortgesetzt, wenngleich die zuständigen Gerichte in einigen Fällen entschieden, dass Handlungen der Solidarität keine Straftat darstellen können. Im Mai 2022 hob das Kassationsgericht die Verurteilung von vier eritreischen Staatsbürgern auf, die 18 Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten. Die Vier waren in einem Fall, der 2014 begonnen hatte, wegen "Beihilfe zur irregulären Einreise" beschuldigt worden, weil sie andere eritreische Staatsangehörige bei sich aufgenommen hatten.

Im sizilianischen Trapani wurde das Gerichtsverfahren gegen die Besatzungen der Iuventa und anderer NGO-Rettungsschiffe wegen mutmaßlicher "Beihilfe zur irregulären Einreise" im Zusammenhang mit Rettungsaktionen in den Jahren 2016 und 2017 fortgesetzt. Im Dezember 2022 trat die italienische Regierung dem Verfahren als Kläger bei.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen wurde in vielen Regionen des Landes weiterhin dadurch erschwert, dass sich eine große Zahl von Ärzt*innen und anderen Gesundheitsdienstleister*innen weigerte, diese durchzuführen. In einigen Regionen lag die Verweigerungsquote bei 100 Prozent.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Im Oktober 2022 äußerte sich der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) besorgt über die zunehmende Armut, auch unter Kindern, und den unverhältnismäßig hohen Anteil an ausländischen Staatsangehörigen, die in absoluter Armut lebten. Der Ausschuss wies außerdem auf die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der informellen Wirtschaft hin.

Diskriminierung

Das Parlament verabschiedete auch im Jahr 2022 keine Rechtsvorschriften, die LGBTI+, Frauen und Menschen mit Behinderungen denselben Schutz gewährten, der Opfern von Hassreden und Hassverbrechen aus rassistischen, religiösen, ethnischen und nationalistischen Motiven bereits zustand.

Auch ein jahrzehntealter Gesetzentwurf, der in Italien geborenen und/oder aufgewachsenen Kindern ausländischer Staatsangehöriger einen effektiven Zugang zur italienischen Staatsbürgerschaft gewährleisten sollte, wurde nicht verabschiedet. Dadurch waren mehr als 1,5 Millionen Kinder weiterhin Diskriminierung ausgesetzt und mit Hindernissen beim Zugang zu ihren Rechten konfrontiert.

Arbeitnehmer*innenrechte

Das Parlament hielt die am 31. Dezember 2021 abgelaufene Frist für die Umsetzung der EU-Richtlinie 1937/2019 zum Schutz von Whistleblower*innen nicht ein. Dieser Mangel an Schutzmaßnahmen hatte negative Konsequenzen für Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegebereich, die Bedenken hinsichtlich der Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen während der Coronapandemie äußerten.

Recht auf Gesundheit

Die unverhältnismäßigen Einschränkungen in Bezug auf Besuche bei älteren Heimbewohner*innen zur Eindämmung von Covid-19 verletzten weiterhin das Recht der Heimbewohner*innen auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

Klimakrise

Im Juli 2022 kamen elf Menschen ums Leben, als in den Alpen ein Teil des Marmolata-Gletschers abbrach. Expert*innen führten den Gletschersturz auf die steigenden globalen Temperaturen zurück.

Im Oktober äußerte sich der CESCR besorgt darüber, dass die bisher von Italien ergriffenen Maßnahmen zur Emissionssenkung womöglich nicht ausreichten, um den Verpflichtungen des Landes zur Bekämpfung des Klimawandels nachzukommen.

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