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Starke Frauen, starke Gesellschaft
Maria Anton holt wichtige Fragen und Probleme auf die Bühne (Chișinău, Frühjahr 2023).
© Tigran Petrosyan
In der Republik Moldau sind Frauen und LGBTI+ Gewalt ausgesetzt. Doch wird über dieses Problem nur wenig gesprochen. Drei Aktivistinnen sind dabei, das zu ändern.
Aus Chișinău Tigran Petrosyan (Text und Fotos)
Sie steht stellvertretend für unzählige schweigende Mädchen und Frauen auf der Bühne: für Minderjährige, die zum ersten Mal ihre Menstruation bekommen und sich schämen; für Frauen, die geschlagen und vergewaltigt werden und die Schuld bei sich suchen; für Mädchen und Frauen, die unter autoritärer Erziehung und patriarchalen Beziehungen leiden.
Maria Anton ist Schauspielerin. "Mama" heißt das Theaterstück, in dem sie die Hauptrolle spielt. Sie erzählt das Trauma eines Mädchens, das seine Mutter verlor und immer wieder den Dialog mit ihr suchte. Es ist eine Geschichte über Beziehungen und Konflikte zwischen den Generationen und über Frauen, die auf der Suche nach dem Glück sind. Seit 2022 schmücken die Plakate mit dem Gesicht von Maria Anton das Gebäude des Theaters Luceafărul (Der Abendstern) in Chișinău, der Hauptstadt der Republik Moldau.
Zwischen Theater und Alltag ist Maria Anton auf der Suche nach Antworten: Wie kann man die Vergangenheit loslassen und anfangen, in der Gegenwart zu leben? Und wie können Frauen ihre Ängste überwinden, mit Frustration besser umgehen und Vorurteile ignorieren? Vor allem Frauen sehen "Mama" gern. "Es ist eine Einladung zur Selbstreflexion", sagt die 27-jährige Schauspielerin und geht den langen Korridor des Theaters entlang, bis sie eine Tür erreicht, die in den Keller führt. Sie bleibt kurz stehen und sagt: "Aber die Frauen kommen mit ihrem Ehemann, den Söhnen oder dem Vater. Vielleicht wollen sie ihren Begleitern mit dieser Aufführung etwas andeuten?"
Veronica Cernat bietet einen Ort des Neuanfangs an (Chișinău, Frühjahr 2023).
© Tigran Petrosyan
Es gehe nicht nur um körperliche und sexuelle Gewalt. "Psychische Gewalt ist die häufigste Form der Misshandlung in vielen Familien", sagt sie und geht eine Treppe hinunter. Von fern ist eine Frauenstimme zu hören, die ihr zuruft, wohin sie kommen soll. "Schau mal Liebling, das kleine Loch habe ich verschwinden lassen", sagt die Schneiderin. In der Hand hält sie ein schwarzes Kleid, Antons Bühnenkostüm. Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. Sie geht aus dem Keller in den Innenhof, in der Sonne glänzen ihre langen roten Locken.
Spät am Abend beginnen die Proben. Das gesamte Jahr über wird sie die Grausamkeiten und Misshandlungen, die täglich geschehen, auf die Bühne tragen. "Dass das Publikum applaudiert und weint, ist für mich ein gutes Zeichen dafür, dass sich in unserer Gesellschaft etwas zu verändern beginnt."
Nur elf Frauenhäuser im Land
In dem Land mit seinen 2,6 Millionen Einwohner*innen steigt die Zahl häuslicher Gewalttaten jedes Jahr. Nach Angaben des Innenministeriums wurden 2012 rund 6.500 Fälle gemeldet, im Jahr 2020 waren es doppelt so viele. Jährlich werden etwa 34 Frauen von ihren Partnern getötet. 73 Prozent der Frauen haben mindestens einmal psychische oder physische Gewalt in der Partnerschaft erlebt, wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) angibt.
Veronica Cernat erschrecken diese Zahlen nicht. Im Gegenteil: "Heute trauen sich immer mehr misshandelte Frauen, die Hotline anzurufen. Sie sind besser über ihre Rechte informiert als je zuvor und wissen, welche Strafen den Täter erwarten." Cernat leitet das Casa Mărioarei in Chișinău, eines von elf Frauenhäusern im Land. Der zweigeschossige Betonbau hat vergitterte Fenster und einen eingezäunten Garten. In der Sowjetzeit war das Gebäude ein Kindergarten. Zu Beginn der Unabhängigkeit in den frühen 1990er Jahren war es ein Treffpunkt für Obdachlose und Drogenabhängige, erzählt Cernat, bis Antonina Lucinschi, die Ehefrau des zweiten Präsidenten der Republik Moldau, Petru Lucinschi, daraus ein Frauenhaus machte. Ihr Porträt hängt deshalb gleich am Empfang. Darunter sitzt eine resolute Pförtnerin, die mit ernstem Blick den Eingang bewacht und ihren Platz nicht einmal für einen Buchweizenbrei zum Mittagessen verlässt. Jederzeit ist sie bereit, den Alarmknopf zu drücken.
Casa Mărioarei heißt übersetzt Haus der Maria. "Das hat nichts mit der Gottesmutter zu tun. Maria ist ein häufiger Frauenname in Moldau", sagt Cernat. Sie ist 39, hat Kommunikationswissenschaften studiert und fast 20 Jahre lang Erfahrung in Frauenorganisationen gesammelt. Auch wenn sie über ernste Vorgänge spricht, lächelt sie, "weil dieses Haus ein Ort des Neuanfangs ist".
700 Betroffene von häuslicher Gewalt pro Jahr
22 Frauen mit ihren Kindern leben in zehn Zimmern, die mit Hochbetten, Tischen und Kleiderschränken aus Spanplatten möbliert sind. Das ganze Haus ist sauber und ordentlich. Auf der Treppe grüßen fröhlich zwei Kinder. Noch ist es ruhig im Gebäude, doch bald wird es lebendiger werden, wenn die Kinder aus der Schule zurückkommen. Pro Jahr nennen bis zu 100 Frauen und Kinder das Haus der Maria zumindest zeitweise ihr Zuhause, rund 700 Betroffene von häuslicher Gewalt befinden sich pro Jahr in der Tagesbetreuung. Sie erhalten psychologische, rechtliche und soziale Hilfe, übernachten dort aber nicht.
Cernat ist stolz auf den Aufenthaltsraum. Als sie ihn betritt, geht sie sofort zum Fenster und zieht die grauen, blickdichten Vorhänge mit einem Ruck zur Seite, Licht und Hoffnung erfüllen das Zimmer. Ein großes Wandbild wird sichtbar: zwei Kinder schaukeln, ein Mädchen fährt Fahrrad, ein anderes fängt einen Schmetterling, ein Junge lässt einen Drachen steigen.
Auf dem Weg zu ihrem Büro im ersten Stock spricht Cernat klare Worte: "Es sind hauptsächlich Männer, die das Leben von Frauen und Kindern bedrohen. Doch heute lassen wir den Schlägern nicht mehr die Chance, die 45 zu umgehen". 45 ist eine Abkürzung für das Gesetz Nr. 45 zur Bekämpfung häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen. Das Parlament hat es im Jahr 2007 verabschiedet. "Es war schön formuliert, aber es hat anfangs nicht funktioniert", sagt sie.
Istanbul-Konvention ratifiziert
Auch Cernat hat sich dafür eingesetzt, dass dieses Gesetz in den vergangenen Jahren eine immer stärkere Wirkung entfalten konnte. 27 Nichtregierungsorganisationen, darunter auch Casa Mărioarei, schlossen sich zum Netzwerk Leben ohne Gewalt zusammen und sorgten dafür, dass das Gesetz Nr. 45 von Jahr zu Jahr ergänzt und verschärft wurde.
Während ein Kind früher im juristischen Sinn nur Zeuge von häuslicher Gewalt sein konnte, kann es jetzt auch als Opfer anerkannt werden. Während früher als Täter von häuslicher Gewalt nur der Ehemann angesehen wurde, umfasst der Tatbestand heute auch Gewalt durch den Ex-Ehemann, einen Liebhaber, einen Bruder, Eltern oder Kinder. Und im Jahr 2021 hat das Parlament endlich auch die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifiziert.
Auf ihrem Computer öffnet Cernat einen interaktiven Stadtplan und eine detaillierte Funktionsbeschreibung einer elektronischen Fußfessel. Auf richterliche Anordnung wird am Fußgelenk eines Täters ein kleiner rechteckiger Kasten befestigt und per GPS überwacht. Die Betroffene von Gewalt erhält ein weiteres Gerät, das piept, wenn sich der Täter nähert, und wird außerdem per SMS auf dem Handy benachrichtigt. Dasselbe Signal geht auch an die Polizei. Als Veronica Cernat diese Schutzmaßnahmen erläutert, lächelt sie und sagt bestimmt: "Mehr Kontrolle bedeutet mehr Sicherheit."
Macht die Polizei da auch mit? "Es wird immer einen menschlichen Faktor geben. Vor allem in Dörfern, wo sich alle kennen", meint Cernat. Es gebe Regionen im Süden, wo man von Frauenrechten nur träumen könne, wie in der selbstverwalteten Region Gagausien und in der selbsternannten Republik Transnistrien, die sich von Moldau abgespalten hat und in der Russland als Schutzmacht gilt. "Wenn der Täter dort zum Beispiel für den Bürgermeister arbeitet oder ein Cousin des Polizisten ist, dann bekommt die Frau noch mehr Ärger, wenn sie sich an die Polizei wendet, denn der Polizist wird sich zuerst bei ihrem Mann melden", sagt sie.
Cernat, verheiratet und Mutter zweier Söhne, kennt Gewalt weder aus ihrer eigenen Familie noch von ihren Eltern. "In meinem Elternhaus wurden Mädchen immer unterstützt und gefördert."
Auch für LGBTI+ ist häusliche Gewalt ein großes Problem. "Meistens handelt es sich um Gewalt der Eltern gegen ihre Kinder. Wenn sie Teenager sind, können sie vor Gericht gehen, und wir unterstützen sie dabei. Aber diese Fälle kommen in der Regel nicht vor Gericht, weil die Kinder nicht gegen ihre Eltern vorgehen wollen", sagt Angelica Frolov von Gender Doc-M, der einzigen LGBTI-Menschenrechtsorganisation in Moldau.
Die 48-jährige Aktivistin wuchs in Moldau auf, als das Land noch zur Einflusssphäre der Sowjetunion gehörte. Sie heiratete, brachte einen Sohn auf die Welt. Warum die Beziehung zu ihrem Mann nicht funktionierte, verstand sie anfangs nicht. Im Alter von 30 Jahren begann sie, als lesbische Frau zu leben – zuerst heimlich und im Streit mit ihrem Mann, ihrer Mutter und ihren Schwiegereltern. Die Sozialpsychologin hielt die Konflikte aus, outete sich und beschloss, auch andere LGBTI-Personen zu unterstützen.
Wo die Regenbogenfahne weht
Vor fast 17 Jahren betrat sie zum ersten Mal das Haus von Gender Doc-M. Heute leitet sie dort Projekte für Lobbyarbeit und für Rechtshilfe. Auf dem dreistöckigen Haus mit seinen riesigen Metalltoren, das weit vom Zentrum Chișinăus entfernt liegt, weht die Regenbogenfahne. Jährlich melden sich hier rund 3.000 Menschen, um Rechtsberatung zu bekommen, mit einer Psychologin zu sprechen, feministische Literatur zu lesen, sich auf Geschlechtskrankheiten testen zu lassen oder um das HIV-Medikament Prep zu erhalten.
Mit ihrem blonden Kurzhaarschnitt und der schwarzen runden Brille ist Angelica Frolov im ganzen Land bekannt. Sie hat sich viele Mächtige in Politik und Wirtschaft zu Feinden gemacht. Ein Unternehmen entließ einen Mitarbeiter, als seine sexuelle Orientierung bekannt wurde. Abgeordnete hetzten gegen LGBTI. Der Bürgermeister von Chișinău wollte eine Pride-Parade verbieten. Der Metropolit, das Oberhaupt der orthodoxen Kirche, erklärte öffentlich, Schwule sollten nicht in der Gastronomie, im Gesundheitswesen und im Bildungswesen arbeiten. Frolov spricht von "Wölfen im Schafspelz": Vordergründig setzten sie sich für traditionelle Familienwerte ein, doch in der Realität seien sie politisch meist mit dem Kreml verbunden und machten prorussische Politik.
Angelica Frolov ist im ganzen Land als Aktivistin bekannt (Chișinău, Frühjahr 2023).
© Tigran Petrosyan
Trotz des Einsatzes von Frolov und Gender Doc-M verstummt die schwulen- und lesbenfeindliche Propaganda nicht. "Viele Menschen in Moldau wollen keine LGBTI als Nachbarn haben", sagt Frolov. Aber ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus dem Januar 2023 zur Diskriminierung von lesbischen und schwulen Paaren in Russland gibt Gender Doc-M Aufwind. Die Organisation interpretiert das Urteil so, dass der EGMR alle Mitgliedstaaten des Europarats und damit auch die Republik Moldau aufgefordert habe, gleichgeschlechtliche Paare rechtlich anzuerkennen. Im Anschluss beantragte Frolov mit ihrer non-binären Lebenspartner*in die Ehe. Und als das Standesamt die Eheschließung verweigerte, reichte Frolov Klage ein.
Mit einem Gerichtsverfahren will sie Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess im Parlament nehmen. Wenn das Gericht negativ entscheidet, wird sich Gender Doc-M an den EGMR wenden. "Der moldauische Staat wird bei einer Verurteilung jedem homosexuellen Paar, das einen Antrag gestellt hat und abgelehnt wird, eine Entschädigung zahlen müssen", sagt sie, während sie ein Magazin in den Zeitungsständer im Flur von Gender Doc-M steckt. Das Magazin hat die Schlagzeile "woman of power".
Starke Frauen – das sind Angelica Frolov, Veronica Cernat und Maria Anton. In ihrem Alltag treffen sie selten aufeinander, obwohl sie für das dasselbe Ziel kämpfen: gleiche Rechte und ein Leben ohne Gewalt. Und sie alle erzählen stolz von den vielen Briefen, die sie erhalten, und in denen es oft heißt: "Dank Ihnen fange ich nun ein neues Leben an."
Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.