Amnesty Journal Europa und Zentralasien 26. März 2019

Ein Europäer nur auf dem Papier

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Das Kosovo ist der einzige potenzielle EU-Beitrittskandidat, dessen Bewohner für Reisen in den Schengen-Raum Visa benötigen. Das gilt auch für Theatermacher Jeton Neziraj.

Von Dirk Auer, Pristina

Kosovos "Europäer des Jahres 2018" ist Anfang vierzig, trägt eine schwarze Brille und ist Gründer von Qendra Multimedia, der wohl wichtigsten Adresse für zeitgenössische Theaterproduktionen des Landes. "Ich habe mich durch die Auszeichnung wirklich geehrt gefühlt", sagt Jeton Neziraj.

Zwar lösen seine politisch provokanten Stücke schon seit Jahren immer wieder heftige Debatten aus, sodass manche Aufführung nur mit Polizeipräsenz stattfinden konnte. Doch nun hatte ihm die EU-Vertretung in Pristina schwarz auf weiß bestätigt, dass seine Arbeit in besonderer Weise die europäische Idee und deren Werte fördere.

Was danach folgte, zeigt allerdings, dass jene vielbeschworenen Werte tatsächlich nur auf dem Papier stehen. Denn just zum Zeitpunkt der Auszeichnung im Mai 2018 befand sich die Theatergruppe von Qendra Multimedia auf einer Odyssee von Botschaft zu Botschaft, um ein Schengen-Visum zu bekommen und an einem Theaterfestival in Rumänien teilzunehmen. Dies erwies sich jedoch als so kompliziert, dass die Reise abgesagt werden musste – der "Europäer des Jahres" blieb zu Hause. 

Eine paradoxe Situation

Das sei schon eine ziemlich paradoxe Situation gewesen, sagt Neziraj: "Einerseits bescheinigen sie dir, dass du ein guter Europäer bist. Auf der anderen Seite wird uns die grundlegends­te aller europäischen Errungenschaften verweigert: die Reisefreiheit." Zumal fast alle Projekte von Qendra Multimedia mit EU-Mitteln gefördert werden. 

Der Frust über das EU-Visumsregime sitzt nicht nur bei Neziraj tief. Kaum ein Gespräch, in dem nicht schon nach kurzer Zeit die Frage gestellt wird, warum eigentlich nur noch Kosovaren ein Visum brauchen, um in die Staaten des Schengen-Raums einzureisen. Für Serbien, Montenegro und Mazedonien fiel die Visumsschranke bereits 2009, für Albanien und Bosnien-Herze­gowina ein Jahr später. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass unter den zwei Millionen Einwohnern des Landes eine gewisse Verbitterung herrscht.

Zumal die Europäische Union in keinem der EU-Beitrittskandidaten des Westbalkans so beliebt ist wie im Kosovo. 84 Prozent halten den EU-Beitritt für eine "gute Sache". In Bosnien-Herze­gowina sind es nur 45 Prozent, in Serbien 29. Als das Kosovo 2008 mit Unterstützung der USA und wichtiger EU-Länder seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte, erinnerte die neue Staatsflagge nicht zufällig an die der EU. Und eine staatliche Kampagne, die unmittelbar danach begann, trug den Titel: "Kosovo – The Young Europeans". 

Mehr als ein Jahrzehnt später haben die meisten jungen Kosovaren von diesem Europa allerdings noch nie etwas gesehen. Denn die Hürden, um an ein Visum zu kommen, sind so hoch, dass die meisten es gar nicht erst versuchen. "Das ganze bürokratische Verfahren ist demütigend", sagt Neziraj.

Eine entwürdigende Prozedur 

Obwohl seine Werke in zwanzig Sprachen übersetzt sind und auf zahlreichen europäischen Theaterfestivals gezeigt werden, muss er jedes Mal dieselbe entwürdigende Prozedur durchlaufen. Zunächst gilt es monatelang zu warten, bis man einen Termin bei der ­entsprechenden Botschaft erhält, was kurzfristige Planungen praktisch unmöglich macht.

Zu den verlangten Unterlagen zählen unter anderem Steuerbescheinigung, Arbeitsvertrag, Kontoauszüge der vergangenen sechs Monate sowie Hotelbuchungen. Hat man die Unterlagen zusammen, muss man sich in die langen Schlangen vor den Botschaften einreihen und erneut warten. Die Kosten für einen Antrag summieren sich schnell auf etwa 100 Euro – was einem Drittel des durchschnittlichen ­kosovarischen Monatsgehalts entspricht. 

Daran etwas zu ändern, hat die EU zwar immer wieder versprochen – Taten folgten jedoch nicht. So läuft etwa der sogenannte Visa-Dialog zwischen Pristina und Brüssel bereits seit 2012. Im Sommer vergangenen Jahres bestätigte die EU-Kommission schließlich, dass das Kosovo alle Bedingungen erfüllt habe; auch das EU-Parlament schloss sich dieser Einschätzung an und empfahl die Aufhebung der Visumpflicht. 

Die visumsfreie Reise: zunächst ein Traum

Doch im Dezember verkündete Erweiterungskommissar Johannes Hahn, dass einzelne EU-Staaten weitere rechtsstaatliche Reformen im Kosovo angemahnt hätten. Zudem fürchteten sie eine neue Welle von Asylbewerbern wie 2015, als innerhalb von wenigen Wochen Zehntausende Menschen das Land verließen, um vor Armut, Korruption und fehlenden Perspektiven zu fliehen.

Deshalb, so Hahn, sei es unwahrscheinlich, dass der kosovarische Traum vom visumfreien Reisen vor 2020 realisiert werden könne. 

Damit war für viele Kosovaren der Punkt erreicht, an dem Enttäuschung in Wut umschlug. So zum Beispiel bei Blendon Arifi. Der Student, der noch nie zuvor in seinem Leben politisch aktiv gewesen war, nahm an Heiligabend ein Megaphon in die Hand und zog gemeinsam mit Hunderten anderen Studierenden durch das Zentrum von Pristina. Auf einem ihrer Transparente stand: "Ist Isolation ein Wert der Europäischen Union?" 

"Wir wollen einfach nur dieselben Rechte haben wie alle anderen"

Die Demonstranten hatten ein Geschenk dabei, das sie vor das Tor der EU-Vertretung legten: ein Paket gefüllt mit ihren Reisepässen. Adressiert war es an die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. "Unsere Pässe sind ja sowieso wertlos", erzählt Blendon in der Universität von Pristina. Außer den Nachbarstaaten Mazedonien und Albanien hat der junge Politikstudent noch kein fremdes Land besucht. Er weiß, dass er kaum eine der Bedingungen für den Visumantrag erfüllen kann. Doch die Studenten wollen nicht locker lassen und planen schon die nächs­ten Aktionen: "Wir wollen einfach nur dieselben Rechte haben wie alle anderen", sagt er. 

"Das Problem ist, dass die EU-Bürokraten einfach nicht anders können, als in jedem Kosovaren einen potenziellen Asylbewerber zu sehen", klagt Jeton Neziraj. Dabei wollten die meisten jungen Menschen gar nicht flüchten, sondern lediglich andere Länder kennenlernen, sich vielleicht auch um eine Arbeit be­mühen – oder einfach nur ihre Verwandten besuchen, die in Deutschland oder anderen EU-Ländern leben. 

Auch er lässt nicht locker: Über Facebook machte er vergangenes Jahr publik, dass er, der "Europäer des Jahres", an den ­europäischen Visumregeln gescheitert war. Damit hatte er einen Nerv getroffen, die Geschichte schlug in der kosovarischen Öffentlichkeit hohe Wellen. Schließlich teilte ihm ein Vertreter einer westlichen Botschaft mit, er könne ihm persönlich helfen, wenn es wieder einmal Probleme geben sollte. Und da war es an ihm, dem Westler zu erklären, dass es nicht reiche, die Probleme balkantypisch durch persönliche Beziehungen zu klären: "Das Problem muss prinzipiell und für alle gelöst werden."

Nur ein einziges Mal, erzählt Neziraj augenzwinkernd, habe er sich eine Sonderbehandlung herausgenommen. Das war vor drei Jahren, als er eine Einladung zu einer europäischen Schriftstellerkonferenz in Deutschland erhielt, die vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier unterzeichnet war. ­Wieder sollte er seine ganzen Dokumente zusammentragen, doch dieses Mal erschien er mit leeren Händen in der Botschaft. "Wenn Sie Fragen haben", sagte Neziraj, "rufen Sie das Ministerium an". Für einen Moment lag Spannung in der Luft, erinnert er sich. Dann wurde dem Antrag stattgegeben.

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