Aktuell Blog 21. November 2018

Mahnwache der Samstagsmütter: Protest im Klima der Angst

Eine alte Frau wird auf einer Straße von Polizistinnen abgeführt, auch andere Frauen werden im Hintergrund festgenommen

Emine Ocak wird zusammen mit anderen Samstagsmüttern bei einer Kundgebung in Istanbul am 25. August 2018 von Polizeikräften festgenommen


Seit 1995 kommen die sogenannten Samstagsmütter Woche für Woche in Istanbul zusammen und fordern Gerechtigkeit für ihre verschwundenen Angehörigen. Am 25. August 2018 löste die Polizei den friedlichen Protest der Frauen mit Tränengas, Plastikgeschossen und Wasserwerfern auf. Seitdem verhindern die türkischen Behörden die Mahnwache.

Zum 700. Mal kamen die Samstagsmütter am Mittag des 25. August 2018 auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul zusammen, um mit einer friedlichen Mahnwache an ihre verschwundenen Angehörigen zu erinnern. 

Seit 1995 gehen die Demonstrierenden, mehrheitlich Frauen, Woche für Woche auf die Straße und fordern Gerechtigkeit für die Opfer des Verschwindenlassens während der 1980er und 1990er Jahren. 

Doch die 700. Mahnwache der Samstagsmütter verlief anders als erwartet: Schon als die Ersten am Samstagvormittag auf dem Galatasaray-Platz ankamen, war der Versammlungsort voller Polizeikräfte. 

Tränengas, Plastikgeschosse und Wasserwerfer gegen friedlichen Protest

Später löste die Polizei den friedlichen Protest gewaltsam auf: Mit Tränengas, Plastikgeschossen und Wasserwerfern ging die Polizei gegen die Frauen vor – einige von ihnen älter als 80 Jahre. Zahlreiche Teilnehmende wurden misshandelt. 47 Menschen wurden für mehrere Stunden in Polizeibussen festgehalten.

Seitdem wird die Mahnwache durch die türkischen Behörden blockiert und die Teilnehmenden werden jeden Samstag daran gehindert, sich auf dem Galatasaray-Platz zu versammeln. Die Samstagsmütter sind entschlossen, ihren Protest fortzusetzen. Dabei gehen sie Woche für Woche das Risiko ein, dass ihre friedliche Mahnwache gewaltsam durch die Polizei aufgelöst wird.

Auch die 82-jährige Emine Ocak wurde am 25. August kurzzeitig festgenommen. Ihr Sohn Hasan Ocak fiel 1995 dem Verschwindenlassen zum Opfer. Nach der gewaltsamen Auflösung der 700. Mahnwache erzählt sie: "Wir kommen und sitzen friedlich da. Mütter kommen, um über ihre Sehnsucht nach ihren Kindern zu sprechen. Brüder und Schwestern fordern ein Grab, an dem sie trauern können. … Die Behörden sollten die Frage beantworten: Warum haben sie uns das angetan?"

Hunderte ungeklärte Fälle des Verschwindenlassens

Emine Ocaks Sohn ist einer von Hunderten Fällen des Verschwindenlassens, über die in der Türkei in den 1980er und 1990er Jahren berichtet wurde. Auch heute kennen die meisten Familien die Umstände des Verschwindens ihrer Angehörigen nicht und wissen nicht einmal, ob sie noch leben. Die Verantwortlichen für diese schweren Menschenrechtsverletzungen wurden nie zur Rechenschaft gezogen. 

Inspiriert von den Müttern des Plaza de Mayo in Argentinien begannen die Angehörigen, insbesondere die Mütter, 1995 eine wöchentliche Mahnwache auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul abzuhalten. Ihre Forderung: Gerechtigkeit und Aufklärung des Verschwindenlassens ihrer Familienmitglieder. Aufgrund von Drohungen und Schikanen durch die Polizei mussten die Samstagsmütter ihren Protest 1999 für einige Jahre pausieren. Doch 2009 begannen sie wieder mit wöchentlichen Mahnwachen. 

2011 traf der türkische Präsident Erdoğan, damals noch Premierminister, zwölf Delegierte, die die Samstagsmütter vertraten. Bei diesem Treffen versprach er, die Regierung werde zu den Fällen des Verschwindenlassens tätig werden. 

Mit einer internationalen Aktion fordert Amnesty Präsident Erdoğan auf, sein Versprechen einzulösen, das Verbot der Mahnwache der Samstagsmütter aufzuheben sowie die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen zu unterzeichnen und zu verabschieden.

Systematischer Angriff auf die Zivilgesellschaft

Der Fall der Samstagsmütter zeigt, welches Ausmaß der systematische Angriff auf die türkische Zivilgesellschaft angenommen hat. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 geht die türkische Regierung mit noch mehr Härte als zuvor gegen kritische Stimmen vor. 

Lange nutzte die Regierung dafür ihre weitreichenden Befugnisse durch den Ausnahmezustand, der unmittelbar nach dem Putschversuch ausgerufen wurde. Am 18. Juli 2018 endete der Ausnahmezustand. Doch viele der verabschiedeten Maßnahmen haben weiter Bestand und wurden inzwischen in normales Recht überführt.

Weiterhin versucht die türkische Regierung, ein Klima der Angst zu schaffen und die unabhängige Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen. Auch nach Ende des Ausnahmezustands hat sich die Situation für kritische Stimmen in der Türkei nicht verbessert – das zeigt das Verbot der friedlichen Mahnwache der Samstagsmütter besonders deutlich.

Solidarität mit den Samstagsmüttern

Amnesty fordert, dass die Samstagsmütter in Zukunft friedlich protestieren können, ohne Angst vor Misshandlungen und Festnahmen. Außerdem müssen die Vorwürfe über unnötige und unverhältnismäßige Gewaltanwendung sowie Misshandlungen durch Polizeikräfte umgehend untersucht und die Verantwortlichen in fairen Gerichtsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden.

Mehr dazu