Amnesty Journal Indien 05. Juli 2021

Der Kampf um Indien

Indische Frauen sitzen im Rahmen einer Sitzblockade auf einer Straße, sie tragen Kopftücher, eine von ihnen hält ein Pappschild hoch mit der Aufschrift "NO NPR, NRC, CAA"

Muslimische Frauen gegen Gesetze der Hindu-Nationalist_innen: Protest in Neu-Delhi im März 2020.

Politiker, die dem Hindu-Nationalismus verbunden sind, hetzen, ordnen Repression an und erlassen diskriminierende Gesetze. Der Druck auf Muslim_innen wird immer größer.

Von Neha Dixit, aus dem Englischen übersetzt von Julia Lauter

Zwei Frauen mit Hijab stellen sich mutig vor ihren Freund, der am Boden liegt, und schützen ihn vor den Schlägen und Tritten einer Gruppe von Polizisten – das Video dieser Szene fand am 15. Dezember 2019 in den sozialen Medien weite Verbreitung.

Ladeeda Sakhaloon und Aysha Renna, die beiden 22-jährigen muslimischen Studentinnen aus Neu-Delhi, wurden damit über Nacht zu den prominentesten Gesichtern der Bürgerrechtsproteste in Indien. Gemeinsam mit vielen anderen Studierenden demonstrierten sie an diesem Tag friedlich auf dem Campus ­ihrer Universität, bis die Polizei die Ausgänge verbarrikadierte und mit Tränengas und Schlagstöcken angriff.

Auslöser für ihren Protest war das Staatsbürgerschaftsgesetz, das am 11. Dezember 2019 vom indischen Parlament ver­abschiedet worden war. Es ermöglicht Angehörigen religiöser Minderheiten aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan, die indische Staatsbürgerschaft anzunehmen – aber nur, wenn sie Hindus, Sikhs, Buddhist_innen, Jains, Parsis oder Christ_innen sind und vor Ende 2014 nach Indien kamen.

Muslim_innen aus diesen Ländern wird dieses Recht nicht gewährt. Damit wurde in Indien zum ersten Mal ein Gesetz verabschiedet, das die Religionszugehörigkeit unverhohlen zum Kriterium für die Staatsbürgerschaft macht. Die Proteste dagegen breiteten sich schnell im ganzen Land aus und wurden meist von muslimischen Frauen angeführt.

Die BJP- und RSS-Ideologie

Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima, das vom Hindu-­Nationalismus geprägt ist, fühlen sich Muslim_innen in Indien bedroht und dämonisiert, obwohl sie mit 14 Prozent Bevölkerungsanteil die größte Minderheit im Land bilden. Sie werden Opfer von ­Polizeigewalt und Hassverbrechen. Muslimische Personen, die eine Gebetsmütze, einen Bart oder eine Burka tragen, müssen fürchten, auf der Straße angegriffen zu werden. Die Regierungspartei Bhartiya Janta Party (BJP) unterstützt eine Kultur der Straffreiheit für die Täter_innen und befeuert die strukturelle Diskriminierung der Muslim_innen im Land.

Indische Frauen mit Kopftüchern schauen durch ein Fenster ins Innere eines ausgebrannten Raumes.

Frauen schauen ins Innere einer Moschee, die nach antimuslimischen Ausschreitungen ausgebrannt ist: Neu-Delhi im Februar 2020.

Um zu verstehen, wie es im pluralistischen Indien, der größten Demokratie der Welt, zu dieser Situation kommen konnte, muss man einen Blick zurückwerfen: Im Jahr 2014 kam die von Narendra Modi geführte BJP in Indien an die Macht. Modi war zuvor 17 Jahre lang Ministerpräsident von Gujarat. Unter seiner Führung erlebte der westindische Bundesstaat ein groß angelegtes antimuslimisches Pogrom, bei dem mehr als 2.000 Menschen, die meisten davon Muslim_innen, von Mitgliedern der BJP und ihr nahestehender Gruppen getötet wurden.

Eine dieser Gruppen ist Rashtriya Swayam­sevak Sangh (RSS), der auch Premierminister Modi angehört. Die 1925 gegründete Organisation wurde von Adolf Hitlers Ideologie der "Rassenreinheit" inspiriert und gibt der BJP die ideologische Richtung vor. Ihr erklärtes Ziel ist die ­Errichtung einer Hindu-Nation (Hindu Rashtra), eines Landes ausschließlich für Hindus. Die Organisation folgt der Ideologie des politischen Hinduismus (Hindutva), eines ihrer früheren Mitglieder war Nathuram Godse, der Mörder ­Mahatma Gandhis.

Vinayak Damodar Savarkar, der Stammvater der Hindutva-Ideologie, sagte 1944 in einem Interview mit dem US-Journalisten Tom Treanor, Muslime würden "die Position von N*** in Ihrem Land" einnehmen. Savarkars Porträt hängt heute im indischen Parlament.

Indien ist ein Land mit einer großen Vielfalt an Religionen, Kulturen und Sprachen, die nebeneinander existieren. Im letzten Jahrhundert verfolgte der RSS hartnäckig sein Ziel, die nationale Identität mit der religiösen Identität zu verschmelzen und Indien zu homogenisieren. Die einflussreiche Gruppe strebt ­danach, in Indien (Hindustan) eine Sprache (Hindi) und eine ­Religion (Hinduismus) festzulegen. Narendra Modi treibt diese Agenda mithilfe seines Vertrauten Amit Shah voran, der mittlerweile Innenminister ist.

Muslim_innen in Internierungslagern

Der 22-jährige Abdul arbeitet als Bauarbeiter in einer Hafteinrichtung für "illegale Einwanderer" im Bezirk Goalpara im nordindischen Bundesstaat Assam. Das Internierungslager befindet sich in einer abgelegenen Gegend und erstreckt sich über 2,8 Hektar. Abdul wurde zum "illegalen muslimischen Einwanderer" erklärt und dort interniert, weil er keine Dokumente vorlegen konnte, die seine indische Staatsbürgerschaft ­bestätigt hätten. Dabei sind er und seine Eltern in Indien geboren und haben stets dort gelebt. Um sich in der ineffizienten Bürokratie offizielle Dokumente zu besorgen, fehlt es den sozioökonomisch Schlechtergestellten an Zeit und Geld. Abduls Eltern waren landlose Arbeiter_innen und starben bei ­einem Unfall, als er neun Jahre alt war. Er hat keine Hoffnung auf eine Entlassung, sein Cousin Ali hat sich vor zwei Monaten in einem anderen Internierungslager im Bezirk Tezpur in Assam das Leben genommen.

Polizisten mit Uniform und Schlagstöcken auf einer belebten Straßenkreuzung in Neu-Delhi.

Mit Stöcken für Ruhe sorgen: Polizeieinsatz auf einer Kreuzung in Neu-Delhi, Februar 2020.

Die Hafteinrichtungen gehen auf eine Idee von Amit Shah zurück: Während des Wahlkampfs für die Parlamentswahlen 2019 rief er zur Vertreibung der "Termiten" auf und versprach, die BJP werde "eine landesweite Kampagne durchführen, um die Eindringlinge zurückzuschicken". Gemeint waren muslimische Migrant_innen aus Bangladesch, die sich ohne gültige ­Papiere in Indien aufhielten.

Kurz nach der Wahl teilte das Innenministerium am 31. Juli 2019 mit, man werde das Bevölkerungsregister (NRC) aktualisieren. Dafür musste jede Person schriftlich nachweisen, dass sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern vor dem 24. März 1971 in Indien wohnten. Fehlt dieser Nachweis, werden die Betroffenen zu illegalen Einwander_innen erklärt.

Fünf Monate später, im Dezember 2019, wurde zudem das eingangs erwähnte Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet. Ein Effekt dieses Gesetzes ist, dass die Angehörigen der sechs größten Religionsgemeinschaften die Staatsbürgerschaft einfach neu beantragen können, falls sie wegen des neuen Bevölkerungsregisters für illegal erklärt worden waren ­– mit Ausnahme der Muslim_innen.

Das Zusammenspiel dieser beiden Vorgänge zielt auf die Gruppe der Muslim_innen und sorgt dafür, dass viele von ihnen zu ­illegalen Einwander_innen erklärt werden werden können. So wie Abdul. Wer die Anforderungen zur Aktualisierung des ­Bevölkerungsregisters nicht erfüllt, wird abgeschoben oder interniert.

Das Innenministerium gab bekannt, dass weitere Internierungslager in Assam im Bau sind. Häftlinge wie Abdul werden dafür als Arbeitskräfte eingesetzt. "Niemand kehrt jemals aus den Haftanstalten zurück", sagt Abdul. "Ich werde hier sterben."

Wenn Ministerpräsidenten hetzen

Der 30-jährige Aslam war Fastfood-Straßenverkäufer im Dorf Bunta im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh und verdiente damit weniger als 100 Euro im Monat. Am 9. Dezember 2017 wurde er in Dadri, Noida, von der Polizei erschossen. Nach Angaben der Polizei hatte er "ein großes Verbrechen geplant" und starb bei einem "Schusswechsel". "Sein Schädel war gebrochen, seine Beine bluteten, als seine Leiche gefunden wurde", sagt Wareesa, seine Mutter, und gibt deutlich zu verstehen, dass es sich nicht um eine zufällige Schießerei, sondern um eine geplante Tötung durch die Polizei handelte.

Es ist zu vermuten, dass die Polizei mit dem muslimischen Mann "kurzen Prozess machen" wollte. Als Aslam 16 Jahre alt war, hatte er die Goldkette einer Nachbarin im Wert von 100 Euro gestohlen. Weil die Mühlen der indischen Justiz sehr langsam mahlen, wurde der Fall fast eineinhalb Jahrzehnte lang nicht verhandelt. "Wir wussten nicht, dass Aslam für eine Goldkette, die er als Teenager gestohlen hatte, mit seinem Leben bezahlen würde", klagt seine Mutter. Und sein Fall ist keine Seltenheit im Bundesstaat Uttar Pradesh.

Dessen derzeitiger Ministerpräsident ist ein Mönch namens Yogi Adityanath, ein Vertreter der BJP, der Muslim_innen als ­gefährliche Kriminelle bezeichnet, sie als Teil einer systematischen islamischen Verschwörung sieht und behauptet, sie befänden sich im Krieg gegen den indischen Staat und die Hindus. Bevor er im Februar 2017 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, war er als der Mann hinter Hindu Yuva Vahini bekannt – einer Jugend-organisation, die immer wieder beschuldigt wird, ­religiöse Gewalt zu provozieren und sich daran zu beteiligen.

Besorgniserregende Poilzeieinsätze

Adityanath, gegen den mehrere Strafverfahren anhängig sind, ist für antimuslimische Äußerungen bekannt. Er sagte einmal: "Wenn ein Hindu-Mädchen einen muslimischen Mann heiratet, dann werden wir im Gegenzug hundert muslimische Mädchen nehmen. (…) Wenn sie einen Hindu-Mann töten, dann werden wir hundert muslimische Männer töten." Kürzlich forderte er ein Einreiseverbot für Muslim_innen.

Doch Adityanath belässt es nicht bei der Hetze gegen Minderheiten. Zwischen 2000 und 2017 wurden in Indien 1.782 Fälle registriert, bei denen die Polizei auf angebliche Kriminelle schoss. Seit dem Amtsantritt von Adityanath 2017 gab es nach Recherchen von Medien und Nichtregierungsorganisationen ­allein in seinem Bundesstaat knapp 6.500 zweifelhafte Polizeieinsätze. Mindestens 125 hatten Todesopfer zur Folge. Die meisten Opfer waren Menschen mit laufenden Verfahren – wie ­Aslam. Muslim_innen sind überproportional häufig betroffen.

Die Regionalregierung und die BJP feiern diese Polizeiaktionen als Erfolge. Die beteiligten Poli­zist_in­nen erhalten zur Belohnung Geld oder werden befördert. Die Rechtmäßigkeit des Vorgehens wird in aller Regel nicht untersucht.

Die Nationale Menschenrechtskommission spricht davon, dass die Polizei in Uttar Pradesh "ihre Macht missbraucht". Sie hat die Regierung aufgefordert, das Vorgehen zu untersuchen. Im Januar 2019 äußerte auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte "extreme Besorgnis" über diese Polizeieinsätze. Die Regierung von Uttar Pradesh tat dies als "böswillig" ab. Bei seinen Anhänger_innen gilt ­Adityanath als ideologischer Nachfolger Modis.

Landesweit wächst der Widerstand

Während die indischen Mainstream-Medien Adityanath ein gutes Zeugnis ausstellen, sorgte die hohe Zahl der Corona-Todesfälle zuletzt für große Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Das schlechte Krisenmanagement und die unzureichende staatliche Gesundheitsvorsorge könnten sich auf die Wahl 2022 in Uttar Pradesh auswirken.

Unmittelbar nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie versuchten Hindu-Nationalist_innen und regierungstreue Medien eine muslimische Versammlung mit rund 9.000 Teilnehmer_innen für die Verbreitung des Virus verantwortlich zu machen. Wenig später tauchten aber Bilder mehrerer nicht-muslimischer Massenveranstaltungen ohne jeden Infektionsschutz auf – darunter Modis große "Namaste Trump"-Show, mit der er den damaligen US-Präsidenten empfing, und das für Hindus heilige Mahakumbh-Fest, das mit Millionen von Teilnehmer_innen Anfang 2021 zum größten "Superspreader-Event" des Subkontinents wurde.

Seit Narendra Modi 2014 an die Macht kam, sind die Proteste gegen die indische Regierung ein Staffellauf, bei dem eine Gruppe von Demonstrierenden den Stab an die nächste weiterreicht. Als Lynchmorde und Hassverbrechen gegen Muslim_innen zunahmen, gaben zudem mehrere Künstler_innen und Intellektuelle ihre staatlichen Auszeichnungen aus Protest zurück.

Die landesweite Sitzblockade gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz endete zwar coronabedingt im März 2020, doch schon im Oktober gingen Bäuer_innen gegen die neuen Landwirtschaftsgesetze der Regierung Modi auf die Straße. Die Proteste gehen ineinander über, verschwinden nie ganz, vereinen die Kritiker_innen und machen den Widerstand mit jedem Schritt größer und mächtiger.

Eines der prominentesten Gesichter dieses Widerstandes ist die 82-jährige Bilkis, die von Dezember 2019 an vier Monate lang in Shaheen Bagh kampierte, einem wichtigen Protestort in Neu-Delhi. "Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich an einer politischen Bewegung beteiligt habe. Davor war ich Hausfrau und habe das Haus nie verlassen. Aber wie kann ich jetzt zu Hause sitzen, wenn ich weiß, dass meine Kinder vielleicht aus diesem Land, das ihre Heimat ist, hinausgeworfen werden und ins Gefängnis müssen? Ich werde diesen Ort erst verlassen, wenn das Leben meiner Kinder sicher ist, wenn die Pluralität Indiens sicher ist. Wir sind mächtig, und es ist an der Zeit, Modi das Fürchten zu lehren."

Neha Dixit ist freie Journalistin und Autorin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Neha Dixit

ist eine indische Journalistin und Autorin. Sie ist bekannt für ihre investigativen Recherchen, hat über systematischen Menschenhandel und sexuelle Gewalt geschrieben und berichtete als eine der ersten über die illegalen Polizeiaktionen in Uttar Pradesh. Für ihre Arbeit wurde Dixit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet – hat aber auch staatliche Repression erfahren. Aktuell arbeitet sie an einem Buch über Arbeitsmigrantinnen in Indien.

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