Aktuell Mexiko 12. Januar 2016

Mexiko: Tausende Menschen "verschwunden"

Mexiko: Tausende Menschen "verschwunden"

Protestaktion in Mexiko-Stadt für die 43 "verschwundenen" Stundeten von Ayotzinapa im September 2015

14. Januar 2016 – Durch die systematische Inkompetenz und den fehlenden Willen der mexikanischen Behörden, das "Verschwinden" Tausender Menschen aufzuklären, weitet sich eine schwerwiegende Menschenrechtskrise aus. Dies dokumentiert Amnesty International in einem neuen Bericht.

Der Bericht "'Treated with indolence’: The state’s response to disappearances in Mexico" zeigt auf, dass das tiefgreifende Versagen bei den Untersuchungen des Falls der 43 Studenten von Ayotzinapa kein Einzelfall ist. Die Studenten waren im September 2014 im südlichen Bundesstaat Guerrero "verschwunden". Doch auch im nördlichen Bundesstaat Chihuahua und im gesamten Land kam und kommt es immer wieder zu solchen Fällen.

Laut amtlichen Zahlen ist derzeit der Verbleib von mehr als 27.000 Menschen in Mexiko unbekannt. Viele von ihnen sind Opfer des Verschwindenlassens geworden.

"Die unablässige Welle von Fällen, in denen Menschen 'verschwinden', die Chihuahua überrollt, und das vollkommen fahrlässige Vorgehen bei der Untersuchung des Verschwindenlassens der 43 Studenten von Ayotzinapa zeugen von der vollkommenen Missachtung der Menschenrechte und der Menschenwürde durch die mexikanische Regierung", erklärt Erika Guevara-Rosas, Expertin für die Region Amerikas bei Amnesty International.

"Tragischerweise 'verschwinden' in ganz Mexiko so viele Menschen, dass dies fast schon als Teil des Alltags betrachtet wird. In den wenigen Fällen, in denen tatsächlich Untersuchungen durchgeführt werden, handelt es sich meist um eine reine Formsache, mit der man den Schein wahren will, dass etwas getan wird", sagt Erika Guevara-Rosas weiter.

Inkompetenz

Häufig wurden die als vermisst gemeldeten Personen zuletzt gesehen, als Polizisten sie festnahmen oder Militärangehörige sie inhaftierten. In Mexiko gibt es jedoch kein detailliertes Verzeichnis über Festnahmen, sodass die Behörden jede Verantwortung und die Beteiligung am Verschwindenlassen von Personen zurückweisen können.

Wenn Menschen bei der Polizei das "Verschwinden" eines Angehörigen melden, unterstellen die Behörden häufig, dass die Opfer einem Drogenkartell angehören. Ihr "Verschwinden" schieben die Beamten dann meist auf Revierkämpfe zwischen rivalisierenden Banden. Wird überhaupt eine Suche nach den vermissten Personen durchgeführt, findet diese oftmals nur mit Verzögerung statt. In den wenigen Fällen, in denen Untersuchungen eingeleitet werden, weisen diese meist so gravierende Unregelmäßigkeiten auf, dass sie nur selten zu Ergebnissen führen.

Im Fall der 43 Studenten aus Ayotzinapa ist das Versagen der Regierung bei der Durchführung einer umfassenden und unparteiischen Untersuchung umfassend dokumentiert worden. Die mexikanischen Behörden gingen während der gesamten Zeit nur von einem einzig möglichen Szenario aus: Die Studenten sollen von der städtischen Polizei festgenommen, einer kriminellen Bande übergeben und ihre Leichen auf einer Müllhalde verbrannt worden sein. Eine von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beauftragte internationale Expertengruppe lehnte die Theorie von der Verbrennung der Leichen unter den von den mexikanischen Behörden beschriebenen Umständen als unhaltbar und unbewiesen ab.

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Die bisher durchgeführten Untersuchungen haben keinerlei Erkenntnisse hinsichtlich der Befehlsverantwortung ergeben. Die Tatorte wurden weder abgesperrt noch umfassend durch Fotos oder Videos dokumentiert. Ballistische Beweise wurden zwar gesammelt, jedoch nicht auf Blutspuren oder Fingerabdrücke untersucht. Wichtige Beweisstücke wurden unsachgemäß bearbeitet.

Amnesty International hat ähnliche Beispiele für die Inkompetenz der Behörden bei Untersuchungen von Vermisstenmeldungen und mindestens einen Fall von Vertuschung durch die Behörden im nördlich gelegenen Bundesstaat Chihuahua dokumentiert. Seit 2007 sind in Chihuahua fast 1.700 Menschen "verschwunden".

In den meisten dieser Fälle haben die Behörden entscheidende Schritte während der Untersuchungen nicht eingeleitet. So haben sie oftmals die Telefon-, Bank- und Finanzdaten der Opfer und der Tatverdächtigen nicht überprüft, Standortinformationen von Handys nicht ermittelt und Aufzeichnungen von Überwachungskameras in der Umgebung des mutmaßlichen Tatorts nicht ausgewertet.

In der Folge sind die Angehörigen oftmals gezwungen, selbst nach den "Verschwundenen" zu suchen. Einige reisen dazu durch das ganze Land, andere beauftragen Privatdetektive und tragen selbst Beweise zusammen.

In den meisten Fällen werden die so gesammelten Beweise in den Fallakten abgelegt und bleiben unbeachtet. Nur selten überprüfen die Behörden das Material sorgsam, um neuen Hinweisen zu folgen oder in alle Richtungen zu ermitteln.

Der Fall José Rosario Hernández

José Rosario Hernández wurde am Nachmittag des 23. Oktober 2011 Opfer des Verschwindenlassens. Eine Streife der städtischen Polizei nahm ihn in Cuauhtémoc im Bundesstaat Chihuahua fest, als er dort gerade im Auto mit zwei Freunden unterwegs war. Seitdem ist sein Verbleib unbekannt.

In den Tagen nach seinem "Verschwinden" weigerten sich die Behörden, seiner Familie irgendwelche Auskünfte zu geben. Beamte der Autobahnpolizei und der städtischen Polizei stritten sogar ab, dass man ihn inhaftiert hatte, obwohl sein Auto auf Anordnung der Behörden abgeschleppt worden war und es Zeugen für seine Festnahme gab.

Die Familie von José Rosario Hernández konnte den Beamten identifizieren, der ihn festgenommen hatte. Er weigerte sich jedoch, zu erklären, was passiert war. Auf Drängen und wiederholte Anträge der Familie von José Rosario Hernández und ihrer Rechtsbeistände hin wurde der Polizist dann festgenommen. Umfassende Ermittlungen gab es dennoch keine und der Verbleib von José Rosario Hernández bleibt weiterhin ungeklärt.

Der Fall Brenda Karina Ramíre

Die 22-jährige "verschwand" am 19. Juli 2011, nachdem bewaffnete Männer sie aus dem Haus von Verwandten in Cuauhtémoc abführten. Ihre Mutter hat die Suche nach ihr selbst in die Hand genommen, nachdem die Behörden keine angemessene Untersuchung des Vorfalls eingeleitet hatten.

Als sie endlich Zugang zu der offiziellen Fallakte erhielt, musste sie feststellen, dass diese nahezu leer war.

Sie berichtete Amnesty International: "In der Akte meiner Tochter befindet sich ausschließlich das, was ich selbst eingereicht habe."

Die Macht und der Einfluss der Drogenkartelle tragen ebenfalls maßgeblich zu der Verhinderung von Untersuchungen bei. Angehörige einer "verschwundenen" Person haben berichtet, dass Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft von Chihuahua sich geweigert haben sollen, in einem bestimmten Gebiet des Bundesstaates zu ermitteln. Sie sollen gesagt haben: "Wir haben Angst, wir können dort nicht hin."

Freunde und Verwandte der 43 "verschwundenen" Studenten aus Ayotzinapa bei einer Demonstration am 26. März 2015 in Mexiko-Stadt

Freunde und Verwandte der 43 "verschwundenen" Studenten aus Ayotzinapa bei einer Demonstration am 26. März 2015 in Mexiko-Stadt

Fehlende Ressourcen

Auch die Unterfinanzierung der zuständigen Staatsanwaltschaften führen zu tiefgreifenden Defiziten bei der Untersuchung von Fällen des Verschwindenlassens. Die dortigen Beamten sind mit einer nicht zu bewältigenden Anzahl von Fällen und einer hohen Personalfluktuation konfrontiert.

"Die Unfähigkeit der mexikanischen Behörden, angemessene Untersuchungen zu Fällen des Verschwindenlassen durchzuführen, bringt Tausende Menschen in große Gefahr", erklärt Erika Guevara-Rosas.

Sie führt weiter aus: "Um zu verhindern, dass noch mehr Menschen 'verschwinden', müssen die mexikanischen Behörden eine öffentliche Politik entwickeln, mit der derartige Tragödien verhindert werden. Sie müssen wirksame Ermittlungen zu den Fällen und effektive Suchen nach den 'Verschwundenen' durchführen, die Verantwortlichen vor Gericht stellen und dafür sorgen, dass die Opfer angemessen entschädigt werden."

Am 10. Dezember 2015 hat Präsident Enrique Peña Nieto dem Kongress ein Gesetz vorgelegt, mit dem gegen die hohe Zahl der Fälle des Verschwindenlassens vorgegangen werden soll. Wesentliche Punkte dieses Entwurfs sind jedoch nicht mit internationalen Standards vereinbar. Es sind daher grundlegende Verbesserungen durch den mexikanischen Kongress erforderlich, damit das Gesetz ein wirksames Werkzeug zur Sicherstellung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer darstellt und Fälle des Verschwindenlassens in Zukunft verhindert werden können.

Werden Sie aktiv! Beteiligen Sie sich an der Online-Petition von Amnesty International und forden Sie die mexikanischen Behörden auf, das Schicksal der "verschwundenen" Studenten von Ayotzinapa aufzuklären!

Jetzt mitmachen auf www.stopfolter.de

Hier können Sie den vollständigen englischsprachigen Bericht "'Treated with indolence': The state’s response to disappearances in Mexico" als PDF-Datei herunterladen

Weitere Informationen zum Thema finden Sie auch im Amnesty-Blog - hier klicken

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