Aktuell Irak 18. August 2015

Bewaffneter Konflikt

Türkische Luftangriffe in den Kandil-Bergen müssen untersucht werden

Die Region Kurdistan im Norden des Iraks

11. August 2015 - Amnesty International hat bei einer Ermittlungsmission Beweise zusammengetragen, die darauf hindeuten, dass bei mehreren Luftangriffen türkischer Streitkräfte auf das in der Autonomen Region Kurdistan im Irak liegende Dorf Zergele in den Kandil-Bergen acht Einwohnerinnen und Einwohner des Dorfes getötet sowie mindestens weitere acht Personen – darunter ein Kind – verletzt wurden.

Die Luftangriffe vom 1. August waren Teil einer Militäraktion der Türkei gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Doch nach Amnesty International vorliegenden Informationen hatten die Einwohnerinnen und Einwohner keinerlei Verbindungen zur PKK. Amnesty appelliert an die türkische Regierung, eine unabhängige, unparteiische und effiziente Untersuchung der Luftangriffe einzuleiten und die Ergebnisse dieser Untersuchungen öffentlich zugänglich zu machen.

"Bei den jüngsten Angriffen in Kandil wurden Einwohnerinnen und Einwohner verstümmelt, getötet oder vertrieben, Häuser zerstört und die lokale Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt, obwohl sich dort offenbar keine militärischen Ziele befanden," sagt Lama Fakih, Krisenexpertin bei Amnesty International, die die Region besucht hat.

Tötung von Zivilpersonen ist rechtswidrig

Unabhängig davon, ob der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt ist oder nicht, ist in jedem Falle sowohl nach dem Kriegsrecht, als auch nach internationalen Menschenrechtsstandards die Tötung von Zivilisten rechtswidrig.

Die türkischen Behörden gaben zunächst an, dass die Angriffe PKK-Mitglieder in einem "Terroristencamp" zum Ziel hatten. Inzwischen haben sie jedoch angekündigt, eine gemeinsame Untersuchung der Angriffe mit der regionalen Regierung der irakischen Region Kurdistan (KRG) durchführen zu wollen.

Opfer standen nicht mit PKK in Verbindung

Die Beweise, die Amnesty International drei Tage nach den Luftangriffen in dem Dorf Zergele gesammelt hat, belegen, dass keine der getöteten und verletzten Personen mit der PKK in Verbindung stand. Alle Zeuginnen und Zeugen, die während des Angriffs zugegen waren, gaben an, dass die Opfer Zivilkleidung trugen und keine Waffen bei sich hatten.

Dr. Medya, Ärztin und Mitglied der PKK, betreibt eine Krankenstation für Einwohnerinnen und Einwohner in einem nahegelegenen Dorf. Am Morgen des 1. August fuhr sie in das Dorf, um den Verwundeten zu helfen. Was sie sah, als sie dort ankam, beschreibt sie wie folgt:

"Ich sah viele Menschen, die ihre Verwandten beweinten. Ich sah einen Mann … man konnte seine Eingeweide sehen … er starb. Er hatte zu viel Blut verloren. […] Ein anderer war vollständig verbrannt. Ein paar Menschen standen unter Schock und weinten… viele Häuser waren komplett zerstört… bei einer Klinik, die 400 Meter entfernt war, konnte man Geschosshülsen sehen, die Fenster waren zerstört, ebenso bei der Moschee."

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Laut Zeugenberichten kamen viele Verwandte und Ersthelferinnen und -helfer, um den Opfern des ersten Luftangriffes zu helfen. Bei späteren Luftangriffen wurden einige von ihnen selber getötet oder verletzt.

Amnesty hat keine Kontrollposten, Polizeistationen oder Militärstützpunkte im Dorf Zergele gefunden. Dies bekräftigt die Aussage von Zeuginnen und Zeugen, dass keine PKK-Kämpfer in dem Dorf stationiert waren oder dort wohnten.

Peschmerga-Kämpferinnen und -Kämpfer unter den Opfern

Anwohnerinnen und Anwohner geben an, dass einige der Getöteten Peschmerga-Kämpferinnen und -kämpfer waren. Diese Kämpferinnen und Kämpfer haben mit dem Konflikt zwischen der PKK und der türkischer Regierung nichts zu tun. Vielmehr kämpfen sie gegen die bewaffnete Gruppe "Islamischer Staat" (IS) in anderen Teilen des Landes und gelten nach dem humanitären Völkerrechte als Zivilpersonen in Bezug auf den Konflikt zwischen der Türkei und der PKK.

"Da es im Umkreis der Luftangriffe offenbar keine militärischen Ziele gab, waren die Angriffe rechtswidrig – unabhängig davon, ob ein bewaffneter Konflikt zwischen den türkischen Behörden und der PKK besteht oder nicht. Die türkische Regierung hat damit eine empörende Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der lokalen Bevölkerung an den Tag gelegt und ihre Pflicht missachtet, den Schaden für Zivilisten möglichst gering zu halten sowie zwischen Zivilpersonen und PKK-Kämpferinnen und -kämpfer zu unterscheiden," sagt Lama Fakih.

Hintergrund

Die türkischen Luftangriffe gegen die PKK in den Kandil-Bergen begannen am 24. Juli nach einem Anschlag in der Türkei, der der PKK zugeschrieben wird. Die Angriffe gegen die PKK in den Kandil-Bergen und die Angriffe der PKK auf türkisches Militär und die Polizei in der Türkei stellen den schwerwiegendsten Rückschlag für den im März 2013 begonnenen und ohnehin fragilen Friedensprozess zwischen PKK und türkischer Regierung dar.

Die Luftangriffe folgten auf langanhaltende Spannungen, die am 20. Juli eskalierten. Einem vermutlich vom IS verübten Selbstmordanschlag in der Stadt Suruç in der Provinz Sanlıurfa der Türkei fielen an diesem Tag 32 Menschen zum Opfer, weitere 80 Personen wurden verletzt. Zwei Tage später wurden zwei Polizisten bei einem Anschlag in der Region getötet, für den die PKK verantwortlich gemacht wird. Als Reaktion auf die Luftangriffe in Kandil hat die PKK weitere Angriffe gegen das Militär und die Polizei in der Türkei verübt.

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