Aktuell Irak 02. September 2014

Erschütternde Beweise für ethnische Säuberungen im Nordirak durch IS

Menschen auf der Flucht: Eine Welle der ethnischen Säuberung gegen Minderheiten

Menschen auf der Flucht an der Grenze zwischen Irak und Syrien: Eine Welle der ethnischen Säuberung gegen Minderheiten.

2. September 2014 - Die Gruppe "Islamischer Staat" (IS) macht im Nordirak systematisch Jagd auf Andersgläubige und Minderheiten. Die Krisenbeauftragte von Amnesty International, Donatella Rovera, hat vor Ort mit vielen Überlebenden der Massaker und Vertreibungen gesprochen und erschütternde neue Beweise dafür gesammelt, dass eine Welle der ethnischen Säuberung gegen Minderheiten über den Norden des Irak rollt.

In den neuen Bericht "Ethnic cleansing on historic scale: the Islamic State’s systematic targeting of minorities in northern Iraq" dokumentiert Amnesty International eine Reihe haarsträubender Schilderungen von Überlebenden der Massaker. Sie beschreiben, wie dutzende Männer und Jungen in der Sindschar-Region im Nordirak von IS-Kämpfern zunächst umzingelt, in Kleintransporter verladen und an den Ortsrand verbracht wurden, um dort in Gruppen oder einzeln getötet zu werden. Hunderte, möglicherweise sogar Tausende, Frauen und Kinder und zahlreiche Männer der jesidischen Minderheit wurden seit dem Einmarsch der IS-Truppen in dem Gebiet entführt.

"Die Massaker und Entführungen durch die IS-Kämpfer bieten erschütternde neue Beweise dafür, dass der Nordirak von einer Welle ethnischer Säuberungen gegen Minderheiten überflutet wird", sagte Donatella Rovera, Krisenbeauftragte von Amnesty International, die sich derzeit im Nordirak befindet. "In ihrer brutalen Kampagne zur Auslöschung aller Spuren von Nicht-Arabern und nicht-sunnitischen Muslimen begehen die IS-Truppen abscheuliche Verbrechen und verwandeln die ländlichen Regionen von Sindschar in blutgetränkte Schlachtfelder."

Massentötungen in Sindschar

Amnesty International liegen Beweise vor, wonach in Sindschar zahlreiche Massentötungen im August stattgefunden haben. Zwei der Vorfälle mit den meisten Toten ereigneten sich am 3. August in Qiniyeh und am 15. August in Kocho, als die IS-Kämpfer in diese Dörfer einfielen. Hunderte Männer und Jungen wurden allein in diesen Dörfern getötet. Gruppen von Männern und Jungen, einige erst 12 Jahre alt, wurden in beiden Dörfern durch IS-Kämpfer aufgegriffen, abtransportiert und erschossen.

"Es gab keinerlei System, sie [die IS-Kämpfer] haben die Menschen wahllos in die Fahrzeuge geladen", erzählte ein Überlebender des Massakers in Kocho Amnesty International.

Said, der mit seinem Bruder Khaled knapp dem Tod entkam, wurde fünf Mal angeschossen, drei Mal in sein linkes Knie, je ein Mal in die Hüfte und die Schulter. Sieben seiner Brüder wurden Opfer des Massakers. Ein weiterer Überlebender, Salem, der sich zwölf Tage lang nahe am Ort des Massakers versteckt hielt und nur durch die Hilfe eines muslimischen Nachbarn überlebte, beschrieb Amnesty International das Entsetzen, mit dem er die Schmerzensschreie von Verletzten mitanhören musste.

"Einige konnten sich nicht bewegen und sich deshalb nicht retten; sie lagen dort mit starken Schmerzen und warteten auf den Tod. Sie starben einen qualvollen Tod. Ich schaffte es, mich fortzuschleppen und wurde von einem muslimischen Nachbarn gerettet, der dabei sein eigenes Leben riskierte. Er bedeutet mir mehr als ein Bruder. Zwölf Tage lang brachte er mir jede Nacht Nahrung und Wasser. Ich konnte nicht gehen und hatte keine Hoffnung, jemals von dort weg zu kommen. Es wurde für ihn daher immer gefährlicher, mich an diesem Ort zu behalten", sagte Salem. Später konnte Salem auf einem Esel fliehen und in die Bergregion gelangen. Von dort aus schaffte er es weiter in die von der kurdischen Regionalregierung (KRG) kontrollierten Gebiete.

Die Massentötungen und Entführungen haben die gesamte Bevölkerung im Nordirak in Angst und Schrecken versetzt und Tausende dazu veranlasst, aus Angst um ihr Leben zu fliehen.

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Entführungen und Gefangenschaft

Das Schicksal der meisten durch die IS-Truppen entführten und gefangen gehaltenen Jesiden, deren Zahl in die Hunderte reicht, bleibt unbekannt. Vielen von ihnen wurden Vergewaltigung oder sexuelle Gewalt angedroht oder sie wurden unter Druck gesetzt, zum Islam zu konvertieren. In einigen Fällen wurden ganze Familien entführt.

Ein Mann, der Amnesty International eine Liste mit Namen von 45 vermissten Verwandten, alle Frauen und Kinder, überreichte, sagte: "Von einigen erhalten wir Nachrichten, andere wiederum sind verschwunden und wir wissen nicht, ob sie tot oder lebendig sind oder was ihnen zugestoßen ist."

"Bislang verschlimmert die irakische Regierung nur die Kämpfe, indem sie entweder die Augen vor konfessionellen Milizen verschließt oder die schiitischen Milizen gegen die IS-Kämpfer bewaffnet. Stattdessen sollte sich die irakische Zentralregierung auf den Schutz aller Zivilpersonen ohne Unterscheidung nach Volkszugehörigkeit oder Religion besinnen", forderte Donatella Rovera.

"Die Menschen im Nordirak haben das Recht, frei von Verfolgung zu leben, ohne bei jedem Schritt Angst um ihr Leben haben zu müssen. Diejenigen, die Kriegsverbrechen befehlen, ausführen oder unterstützen, müssen dafür zur Rechenschaft gezogen werden."

Seit ihrem Einmarsch in Mosul am 10. Juni haben IS-Kämpfer auch Gotteshäuser von nicht-sunnitischen Muslimen, darunter auch schiitische Moscheen und Heiligtümer, systematisch zerstört.

Hintergrund

Zu den ethnischen und religiösen Minderheiten, die im Nordirak von den Kämpfen bedroht sind, gehören: assyrische Christen, turkmenische Schiiten, schiitische Shabak, Angehörige des jesidischen Glaubens, Kaka’i sowie Mandäer. Das Ziel offensichtlicher Vergeltungsangriffe sind auch viele Araber und sunnitische Muslime, denen vorgeworfen wird, Gegner des IS zu sein.

Lesen Sie hier den Amnesty-Bericht "Ethnic cleansing on historic scale: the Islamic State’s systematic targeting of minorities in northern Iraq"

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