Was macht einen Film zum Menschenrechtsfilm?

Großaufnahme der Urkunde des Amnesty International Film Award, von Händen gehalten

Menschenrechtsfilme sind Filme, die gegenwärtige Menschenrechtsverletzungen reflektieren oder Visionen und Bestrebungen zeigen, Leidtragende zu unterstützen. Das können etwa Dokumentarfilme, Spielfilme, Videoproduktionen oder Experimente mit "neuen Medien" sein. 

Menschenrechtsfilme können bedingungslos realistisch sein oder höchst utopisch. Sie können grausame Bilder zeigen oder die Effekte eines friedlichen Lebens. Sie können eine emotionale Botschaft kundtun, eine solche verurteilen oder vermitteln. Sie können mit Nachdruck die Ansichten nur einer Gruppe oder Einzelperson präsentieren oder versuchen die Meinungen vieler Beteiligter zu vermitteln. Sie können eine höchst akkurate Darstellung von Fakten sein oder reine Fiktion.

Eine maßgebliche Bedingung sollte der Menschenrechtsfilm – ob dokumentarisch oder fiktional – erfüllen, damit er sich von anderen Filmen unterscheidet: Er sollte wahrhaftig sein.

Wahrhaftigkeit eines Films

Wahrhaftig bedeutet mehr als "eine wahre Geschichte" zu erzählen oder ein Dokumentarfilm zu sein, der "sich an die Wahrheit hält". Für Jürgen Habermas muss jedwede Kommunikation, deren Ziel die Vermittlung von Wahrheit ist, zunächst mit den Tatsachen übereinstimmen. Zweitens sollte sie einem Normensystem entsprechen, innerhalb dessen sowohl die, die ein Statement abgeben, als auch jene, die es erhalten, in der Lage sind, selbst zu urteilen. Und drittens der interessanteste und am schwierigsten zu definierende Aspekt: Ein wahres Statement sollte aufrichtig und ehrlich sein, das heißt "wahrhaftig".

Ein Junge mit verschlissenem T-Shirt läuft über einen Feldweg am Waldrand

Szene aus "Just the Wind" ("Csak a szél") von Bence Fliegauf, Gewinner des Amnesty-Filmpreises 2012 

Nehmen wir das Behandlungszimmer eines Arztes als Beispiel: Wenn ich zum Arzt gehe, möchte ich Fakten hören. Ich möchte sie in einer mir verständlichen Form hören. Ich möchte sie auf eine Art und Weise hören, die mich auf ihre Wahrhaftigkeit vertrauen lässt, und ich möchte sie von einer integren Person hören.

Auch eine komplett fiktive Geschichte kann "wahrhaftig" sein. Wir können ihre Echtheit einfordern. Sie sollte Fiktion nicht als Fakt darstellen und umgekehrt. Sie sollte die Ansichten oder Worte der in ihr porträtierten Personen nicht manipulieren oder verdrehen. Sie sollte eine gewisse Ausgewogenheit besitzen, um keinen Hass gegen bestimmte Gruppen oder Personen zu schüren, nicht zu diskriminieren und nicht lediglich politischen oder kommerziellen Interessen dienen.

Position und Perspektive

Jahrzehntelang gab es eine intensive Debatte über einen wichtigen Aspekt der Vermittlung von Menschenrechten – auch durch den Film: Sollte diese eine bestimmte Wirkung auf das Publikum haben? Sollte sie Solidarität hervorrufen, das Publikum in Sachen Menschenwürde unterweisen, Menschen dazu bringen, sich an politischen und ethischen Diskussionen zu beteiligen? Sollten Menschenrechtsfilme mit anderen Worten als Werkzeuge für etwas dienen, das mehr ist als nur die Präsentation einer gut erzählten Geschichte oder Realität?

Einerseits könnte die Antwort sehr gut "ja" lauten. Als der britische Regisseur und Drehbuchautor Ken Loach 2003 in Locarno mit einem Ehrenleoparden für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, bemerkte er:

Porträtfoto eines Mannes mit weißen Haaren und schwarzer Brille in blauem Hemd

Wenn ich gefragt werde, ob ich Stellung beziehe, kann ich nur antworten, dass es mir unmöglich ist, einen Film zu machen, ohne Stellung bezogen zu haben. Ansonsten würde mir die Perspektive fehlen.

Ken
Loach
britischer Regisseur und Drehbuchautor

Wenn Filmschaffende zu den Filmen, die sie produzieren, nicht Position beziehen, welche Seele können solche Filme dann  haben? Welche Wirkung hat ein solcher Film, abgesehen von vielleicht neunzig Minuten Unterhaltung oder Horror oder einer etwas makabren Kombination beider?

Andererseits ist man womöglich nicht gut beraten, Filmschaffenden eine bestimmte "erzieherische" Botschaft zuzuschreiben. In ihrem Essay "Das Leiden anderer betrachten" (2003) bemerkt Susan Sontag, die Wirkung "schockierender" Bilder sei sehr schwer vorauszusehen und variiere entsprechend der persönlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Umstände.

 

Laotische Verhältnisse. Szene aus "The Rocket"

Szene aus "The Rocket", Gewinner des Amnesty-Filmpreises 2013

Inspiration und Verständnis

Filme werden meist von einem anonymen Publikum angeschaut, das unerreichbar ist für die Filmschaffenden. Sie mögen einige Menschen dazu inspirieren, nach Hause zu gehen und sofort einen Brief an Amnesty International zu verfassen, andere wiederum gehen danach vielleicht lieber noch was trinken, um einen netten Abend ausklingen zu lassen. Die Welt des Films ist nicht die des Klassenzimmers. Zwar kann der Film im schulischen Rahmen eingesetzt werden, aber das ist ein anderes Thema.

Den "Effekt", den wir von einem guten Menschenrechtsfilm erwarten können, ist, dass er bei den Konsumentinnen und Konsumenten das Verständnis für Menschenrechtsthemen erweitert und zwar sowohl im intellektuellen, wie im emotionalen Sinne. Verständnis – mehr nicht. Es gibt viele Möglichkeiten, Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren, und diese können recht verschieden sein, je nachdem ob sich Politikerinnen und Politiker, professionelle humanitäre Hilfskräfte, Lehrende, Juristinnen und Juristen, Studierende, Unternehmensberaterinnen und -berater, Installateurinnen und Installateure oder Hausfrauen und Hausmänner damit beschäftigen.

Es obliegt den Menschenrechtsorganisationen, sich das durch die Massenmedien – Filme eingeschlossen – wachgerufene Bewusstsein und Verständnis zunutze zu machen.

Doch genauso, wie wir eine Zeitung nicht lesen, um uns in irgendeine politische Richtung "erziehen" zu lassen, oder Romane nicht lesen, um uns die "richtige" Art zu leben und zu lieben aufdrängen zu lassen, sollten wir auch von einem "Menschenrechtsfilm" nicht verlangen, dass er uns zeigt, wie man eine Kampagne richtig aufzieht.

Szene aus dem Film "La libertad del diablo" von Everardo González, 2017

Szene aus dem Film "La libertad del diablo" von Everardo González, 2017, Preisträger beim Amnesty-Filmpreis 2017

Ideen und Identifikationsmöglichkeiten

Natürlich werden Filme gemacht, die einem eindeutigen Aktionszweck dienen, unter anderem von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen. Nach der Definition dieses Textes kann man diese aber nicht als "Menschenrechtsfilme" bezeichnen. Es handelt sich dabei ganz klar um gute oder schlechte Propaganda, um Werbe- oder Erziehungsmittel, die auf ähnliche Weise eingesetzt werden wie PR-Material von politischen Parteien, Unternehmen oder Interessengruppen. Amnesty International hält Ausschau nach Dokumentar- und Spielfilmen, die das Publikum ansprechen, die spannend sind und die Raum lassen für eigene Ideen und Identifikationsmöglichkeiten mit ihren Protagonistinnen und Protagonisten und Themen. Besondere Aufmerksamkeit gilt Filmen mit

  • (emotionaler) Ausdruckskraft
  • Aktualität und Dringlichkeit
  • neuen, relativ unbekannten Perspektiven
  • einer Verpflichtung der Filmschaffenden gegenüber ihrem Sujet (möglicherweise eine gewisse Unerschrockenheit, die sie beim Drehen des Films an den Tag gelegt haben)
  • Aufrichtigkeit, Vermeidung von Einseitigkeit, Stereotypisierung und Manipulation
  • Originalität und Innovation
  • cinematografischer Qualität und Schönheit sowie kommunikativen Qualitäten

Im Hinblick auf den Ernst des Themas Menschenrechte, bei dem Zynismus und Hoffnungslosigkeit eher unerwünscht sind, gilt unsere Aufmerksamkeit jenen Filmen, die Menschlichkeit, Perspektiven, Chancen oder gar Humor zeigen, sowie Filmen, die "gute Beispiele" anführen.

Quelle: Movies that Matter, Amnesty Filmfestival Niederlande

Weitere Informationen zum Amnesty-International-Filmpreis findest du hier.

Mehr Informationen zum Thema Menschenrechte und Kultur findest du auf www.amnesty.de/kultur

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