Russland: Folteropfer weiter vermisst

Fast ein Jahr nach seiner Entführung sind das Schicksal und der Verbleib von Salman Tepsurkaev weiterhin unbekannt. Der Administrator des kritischen Telegrammkanals 1ADAT wurde am 6. September 2020 entführt. Die Ermittlungen zu diesem Fall wurden in Gelendschik erst im November 2020 aufgenommen und dann im Mai 2021 an Tschetschenien übergeben. Bisher sind die Ermittlungen kaum vorangekommen.

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Dein Appell

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Sehr geehrter Herr Volkov,

der damals 19-jährige Salman Tepsurkaev "verschwand" am 6. September 2020 in Gelendschik, in der russischen Region Krasnodar. Er war Administrator des Telegram-Kanals 1ADAT, der für seine Kritik an den tschetschenischen Behörden und die Verbreitung von Informationen über die in Tschetschenien begangenen Menschenrechtsverletzungen bekannt ist. Am 7. September konnten seine Familienangehörigen sein Mobiltelefon in Grosny lokalisieren, auf dem Gelände des nach Achmat Kadyrow benannten Polizeiregiments. Am selben Tag erschien in den sozialen Medien ein Video, in dem Salman Tepsurkaev zu sehen ist, wie er zur "Strafe" für seine Zusammenarbeit mit der 1ADAT sexuell missbraucht wird. Seit der Veröffentlichung dieses und mehrerer anderer Videos einige Tage später sind das Schicksal und der Verbleib von Salman Tepsurkaev unbekannt.

Russische Menschenrechtsaktivist_innen haben Beweise gesammelt, die darauf hindeuten, dass Salman Tepsurkaev von Angehörigen der tschetschenischen Sicherheitskräfte entführt und nach Tschetschenien gebracht wurde. Die Beweise wurden umgehend an die zuständigen Ermittlungsbehöride in Gelendschik weitergeleitet. Strafrechtliche Ermittlungen wurden jedoch erst am 27. November 2020 eingeleitet. Am 28. Mai 2021 wurde der Fall an Tschetschenien übergeben. In all diesen Monaten haben die Ermittlungen keinen Aufschluss über das Schicksal und den Verbleib von Salman Tepsurkaev gegeben. Er ist weiterhin der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen, einschließlich weiterer Folter oder anderer Misshandlungen, ausgesetzt, und sein Leben ist in Gefahr.

Ich bitte Sie darum, umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um das Schicksal und den Verbleib von Salman Tepsurkaev festzustellen. Sorgen Sie zudem für seine umgehende und bedingungslose Freilassung und stellen Sie sicher, dass er Zugang zur Justiz und wirksamen Rechtsbehelfen hat. Leiten Sie bitte eine umfassende, zielführende, unabhängige und unparteiische Untersuchung der Entführung von Salman Tepsurkaev ein und sorgen Sie dafür, dass alle Vorwürfe über sexuelle Nötigung, Folter und andere Misshandlungen untersucht und die mutmaßlich Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden.

Freundliche Grüße,

Dear Head of the Investigative Directorate,

I am deeply dismayed by the lack of progress of the investigation into the reported enforced disappearance and torture, including with sexual violence, in 2020 of Salman Tepsurkaev, then 19-year-old. He was a moderator of the 1ADAT Telegram channel known for its criticism of the Chechen authorities and dissemination of information on human rights violations committed in Chechnya. As you will be well aware, Salman Tepsurkaev went missing on 6 September 2020 in Gelendzhik, Krasnodar region. On 7 September, his family members established his mobile phone’s geolocation in Grozny, at the premises of the Police Patrol Regiment named after Akhmat Kadyrov. On the same day a video appeared on social media in which Salman Tepsurkaev was seen being sexually violated, "in punishment" for cooperating with 1ADAT. Since the publication of this and several other videos a few days later, Salman Tepsurkaev’s fate and whereabouts have been unknown.

Russian human rights defenders have collected the evidence which suggest that Salman Tepsurkaev was abducted by members of Chechen security forces and taken to Chechnya. The evidence was promptly passed on to the Investigative Committee. Yet, the criminal investigation was initiated in Gelendzhik only on 27 November 2020. On 28 May 2021, the case was passed on to your Directorate. All these months later, the investigation has shed no light on Salman Tepsurkaev’s fate and whereabouts. He continues to be at risk of human rights violations, including further torture or other ill-treatment, and his life is at risk.

In the light of the above I urge you to take swift action to establish Salman Tepsurkaev’s fate and whereabouts, ensure his immediate and unconditional release, and that he has access to justice and effective remedies. Please conduct a full, effective, independent and impartial investigation into the circumstances of Salman Tepsurkaev’s enforced disappearance, and into all allegations of sexual assault, torture and other ill-treatment, and ensure that all those suspected of responsibility are identified and brought to justice in fair trial proceedings.

Yours sincerely,

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Appell an

Leiter der Ermittlungsbehörde in Tschetschenien

Lt.-Gen. Vitaly Gheorgievich Volkov


Ul. Altaiskaya, d.3, Grozny,

Chechen Republic

364000 RUSSISCHE FÖDERATION

Sende eine Kopie an

Botschaft der Russischen Föderation

S. E. Herrn Sergei J. Netschajew


Unter den Linden 63-65

10117 Berlin

Fax: 030 – 2299 397

E-Mail: info@russische-botschaft.de

Amnesty fordert:

  • Ergreifen Sie umgehend Maßnahmen, um das Schicksal und den Verbleib von Salman Tepsurkaev festzustellen.
  • Sorgen Sie zudem für seine umgehende und bedingungslose Freilassung und stellen Sie sicher, dass er Zugang zur Justiz und wirksamen Rechtsbehelfen hat.
  • Leiten Sie bitte eine umfassende, zielführende, unabhängige und unparteiische Untersuchung der Entführung von Salman Tepsurkaev ein und sorgen Sie dafür, dass alle Vorwürfe über sexuelle Nötigung, Folter und andere Misshandlungen untersucht und die mutmaßlich Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden.

Sachlage

Der damals 19-jährige Salman Tepsurkaev "verschwand" am 6. September 2020 in Gelendschik, in der russischen Region Krasnodar. Er ist Administrator des Telegram-Kanals 1ADAT. Der Kanal ist für seine Kritik an den tschetschenischen Behörden und die Verbreitung von Informationen über die in Tschetschenien begangenen Menschenrechtsverletzungen bekannt. Am 7. September konnten seine Familienangehörigen sein Mobiltelefon in Grosny lokalisieren, auf dem Gelände eines Polizeiregiments. Am selben Tag erschien in den sozialen Medien ein Video, in dem Salman Tepsurkaev zu sehen ist, wie er zur "Strafe" für seine Zusammenarbeit mit der 1ADAT sexuell missbraucht wird. Seit der Veröffentlichung dieses und mehrerer anderer Videos einige Tage später sind das Schicksal und der Verbleib von Salman Tepsurkaev unbekannt.

Russische Menschenrechtsaktivist_innen haben Beweise gesammelt, die darauf hindeuten, dass Salman Tepsurkaev von Angehörigen der tschetschenischen Sicherheitskräfte entführt und nach Tschetschenien gebracht wurde. Die Beweise wurden umgehend an die zuständige Ermittlungsbehörde in Gelendschik weitergeleitet. Strafrechtliche Ermittlungen wurden jedoch erst am 27. November 2020 aufgenommen. Am 28. Mai 2021 wurde der Fall an die Behörden in Tschetschenien übergeben. In all diesen Monaten haben die Ermittlungen keinen Aufschluss über das Schicksal und den Verbleib von Salman Tepsurkaev gegeben. Er ist weiterhin der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen, einschließlich weiterer Folter oder anderer Misshandlungen, ausgesetzt, und sein Leben ist in Gefahr.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Der Telegram-Kanal 1ADAT besteht seit Anfang März 2020 und hat mittlerweile über 18.000 Nutzer_innen. Der Kanal veröffentlicht Informationen über Menschenrechtsverletzungen wie z.B. Entführungen und rechtswidrige Inhaftierungen in Tschetschenien und postet auch satirische Skizzen über tschetschenischen Beamt_innen. Er wird von mehreren Administrator_innen verwaltet, die anonym bleiben und sich selbst als "Volksbewegung" und "Kämpfer_innen gegen das Regime von Ramsan Kadyrow" bezeichnen.

Laut der unabhängigen russischen Zeitung Novaya Gazeta versuchen die tschetschenischen Behörden seit Mai 2020, die Gründer_innen, Administrator_innen und Mitwirkenden von 1ADAT ausfindig zu machen, von denen sich die meisten offenbar in Tschetschenien befinden. Dank der von den Administrator_innen ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen blieben diese Versuche bisher allerdings erfolglos. Salman Tepsurkaev gefährdete jedoch seine Anonymität, indem er persönliche Informationen an eine Person weitergab, bei der es sich wahrscheinlich um einen Undercover-Polizisten handelte. Am 6. September wurde er aus Gelendschik, einer Stadt in der Region Krasnodar im Süden Russlands, entführt. Die russische Nichtregierungsorganisation Committee Against Torture (CAT), nahm sich dieses Falles an und befragten Augenzeug_innen. Gemäß deren Aussagen haben sich die Entführer_innen als Mitarbeitende des Innenministeriums ausgewiesen. Am 7. September 2020 konnten die Familienangehörigen von Salman Tepsurkayev über Geolokalisierung den Standort seines Mobiltelefons ermitteln. Es war in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny eingeschaltet, an dem Ort, an dem das nach Achmat Kadyrow benannte Polizeiregiment stationiert ist. Dem Regiment wurde mehrfach vorgeworfen, an Menschenrechtsverletzungen beteiligt zu sein, darunter Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen. Insbesondere veröffentlichte die unabhängige russische Zeitung Novaya Gazeta im Zeitraum von 2017 bis 2021 Untersuchungen über die Beteiligung des Regiments an der außergerichtlichen Massenhinrichtung von 27 tschetschenischen Männern im Januar 2017.

Am Abend des 7. September verbreitete sich in den sozialen Medien ein Video, in dem zu sehen ist, wie Salman Tepsurkaev sexuell misshandelt wird. Gegen Ende der Aufzeichnung sagt Salman Tepsurkaev, dies sei seine Strafe für die Zusammenarbeit mit 1ADAT. In den folgenden Tagen wurden mindestens drei weitere Videos auf Instagram gepostet, in denen Salman Tepsurkaev vorkam. Seither gibt es keine weiteren Informationen über sein Schicksal und Verbleib. Am 14. September erstatteten Menschenrechtsverteidiger_innen von CAT bei den Ermittlungsbehörden der Region Krasnodar und der Republik Tschetschenien Anzeige wegen eines Verbrechens. Sie führten auch ihre eigenen Ermittlungen durch. Insbesondere fanden sie Videoaufzeichnungen mit eindeutigen Bildern der Entführer_innen von Salman Tepsurkaev, auf denen sie identifizierbar sind. Sie stellten anhand des Nummernschildes eines von den Entführer_innen benutzten Autos fest, dass dieses einem tschetschenischen Polizisten gehörte. Des Weiteren fanden sie heraus, dass kurz vor der Entführung ein Polizeibeamter der Polizeistation Nr. 1 in Grosny Salman Tepsurkaev angerufen hatte. Diese Information wurde an die Ermittelnden weitergegeben. Es erfolgten jedoch keine angemessenen Reaktionen und eine strafrechtliche Untersuchung der Entführung von Salman Tepsurkaev wurde erst am 27. November 2020 von der Ermittlungsabteilung in Gelendschik eingeleitet. Am 28. Mai 2021 wurde das Aktenmaterial zur weiteren Untersuchung an die tschetschenischen Behörden weitergeleitet, mit der Begründung, dass sich "die meisten Zeug_innen und Personen, die an diesem Verbrechen beteiligt gewesen sein könnten, auf dem Gebiet der Tschetschenischen Republik befinden".

Unter Ramsan Kadyrow sind Menschenrechtsverletzungen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien an der Tagesordnung, und die Verantwortlichen gehen beinahe immer straffrei aus. Die freie Meinungsäußerung wird seit Jahren brutal unterdrückt. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben zahlreiche Vorfälle dokumentiert, in denen Kritiker_innen der Behörden – darunter Menschenrechtsverteidiger_innen, Journalist_innen und Blogger_innen – entweder auf der Grundlage haltloser Anklagen strafrechtlich verfolgt und inhaftiert oder entführt und getötet wurden. Wer es wagt, Ramsan Kadyrow oder seine Verwandten und Verbündeten bzw. andere Regierungsangehörige zu kritisieren, wird in vielen Fällen gezwungen, sich vor laufender Kamera zu erniedrigen und öffentlich für die Aktivitäten zu "entschuldigen". Diese Aufnahmen werden aufgezeichnet und entweder im Fernsehen ausgestrahlt oder in die Sozialen Medien gestellt. Gleiches gilt für Personen, die auf Probleme in ihrer Gegend wie z. B. die Schließung eines Krankenhauses aufmerksam machen oder auf eine Weise um Unterstützung bitten, die Tschetschenien nach Auffassung der Behörden in einem schlechten Licht erscheinen lässt (zum Beispiel die Bitte um Unterstützung für den Unterhalt einer Großfamilie). Diese Praxis der öffentlichen Erniedrigung wird seit 2015 großflächig angewandt. Im Dezember 2015 wurde ein Mann gefilmt, der sich mit heruntergelassener Hose für die Kritik an Ramsan Kadyrow entschuldigte und seine Loyalität gegenüber den tschetschenischen Behörden beteuerte.

Kritiker_innen von Ramsan Kadyrow sind auch im Ausland nicht sicher – es gibt immer wieder Berichte über verdächtige Angriffe und Tötungen, die von Tschetschenien auszugehen scheinen. So wurde z. B. am 13. Januar 2009 Umar Israilov, ehemaliger Leibwächter und später öffentlicher Kritiker von Ramsan Kadyrow, in Wien erschossen. Umar Israilov hatte Aussagen gemacht, die Ramsan Kadyrow direkt mit Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen in Verbindung brachten. Am 1. Februar 2020 wurde der tschetschenische Blogger Imran Aliev (auch bekannt als "Mansur der Alte") tot im nordfranzösischen Lille aufgefunden. Am 4. Juli 2020 wurde der Blogger Mamikhan Umarov in einem Wiener Vorort erschossen. Beide Blogger waren heftige Kritiker von Ramsan Kadyrow. Am 26. Februar 2020 wurde ein weiterer Blogger und Kadyrow-Kritiker, Tumso Abdurakhmanov, in seiner Wohnung im europäischen Ausland von einem Unbekannten mit einem Hammer angegriffen. Er konnte den Angreifer überwältigen und üb