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Russland: Aktivistin droht erneut Haft
Die russische Frauenrechte- und LGBTI-Aktivistin Yulia Tsvetkova (undatiertes Foto)
© privat
+++ Update 19.10.22: Die Anhörung wurde erneut, jetzt auf den 22. November verschoben. Setzt euch bitte weiter für Yulia ein! +++
+ Aktualisierung: Die Anhörung wurde auf den 22. Oktober verschoben. + Das Rechtsmittelverfahren gegen den Freispruch der Künstlerin und Aktivistin Yulia Tsvetkova ist für den 27. September angesetzt. 2019 war gegen Yulia Tsvetkova wegen ihrer Zeichnungen des weiblichen Körpers unter der unbegründeten Anschuldigung, "pornografisches Material hergestellt und verbreitet" zu haben, ein Strafverfahren eingeleitet worden. Sie wurde am 15. Juli freigesprochen, doch die Staatsanwaltschaft legte am 22. Juli ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein. Wird diesem stattgegeben, läuft Yulia Tsvetkova erneut Gefahr, inhaftiert zu werden, und das nur, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hat.
Appell an
Staatsanwalt
Nikolay Aleksandrovich Ryabov
Prosecutor of Khabarovsk Krai
RUSSISCHE FÖDERATION
Sende eine Kopie an
Botschaft der Russischen Föderation
S.E. Herrn Sergej J. Netschajew
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Fax: 030-2299 397
E-Mail: info@russische-botschaft.de
Amnesty fordert:
- Stellen Sie bitte unverzüglich alle Strafverfahren gegen Yuzlia Tsvetkova ein und unterstützen Sie ihre Freilassung, da sie keine Straftat begangen hat und lediglich wegen der Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung strafrechtlich verfolgt wird.
Sachlage
Das bevorstehende Rechtsmittelverfahren im Fall von Yulia Tsvetkova, einer Künstlerin aus Komsomolsk am Amur, gibt Anlass zur Sorge. Da die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel gegen ihren Freispruch eingelegt hat, könnte sie erneut mit der unbegründeten Anklage der "Herstellung und Verbreitung pornografischen Materials" konfrontiert werden. Ihr würde dann wegen ihrer Zeichnungen von Frauenkörpern eine Gefängnisstrafe drohen.
Der Freispruch von Yulia Tsvetkova am 15. Juli 2022 nach einem langwierigen Prozess war eine begrüßenswerte Entscheidung und ein Zeichen der Anerkennung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, das sowohl durch die russische Verfassung als auch durch die Verpflichtungen des Landes im Rahmen der internationalen Menschenrechtsnormen geschützt wird.
Hintergrundinformation
Die Künstlerin und Theaterregisseurin Yulia Tsvetkova aus Konsomolsk am Amur wurde am 20. November 2019 willkürlich festgenommen und von der Polizei verhört. Am 22. November wurde sie unter Hausarrest gestellt, weil sie gemäß Paragraf 242 (3b) des russischen Strafgesetzbuchs "pornografisches Material hergestellt und verbreitet" habe. Diese unbegründeten Anklagen beziehen sich auf ihre künstlerischen Zeichnungen des weiblichen Körpers, die sie im Rahmen ihrer Kampagne zur Stärkung der Rolle der Frau in den Sozialen Medien veröffentlichte.
Am Tag ihrer Festnahme wurde ihre Wohnung und der Jugendclub, in dem sie früher arbeitete, durchsucht. Die Polizei beschlagnahmte dabei ihre elektronischen Geräte, Dokumente und Broschüren zu Genderfragen. Yulia Tsvetkova erinnert sich daran, dass die Polizeibeamt*innen sie bei der Durchsuchung als eine "Lesbe, Sexualtrainerin und Propagandistin" bezeichneten. Die Behörden entschieden auch, ihre Onlinegruppe "Vagina-Monologe" zu sperren. Gegen diese Entscheidung ist Yulia Tsvetkova juristisch vorgegangen. Die Künstlerin ist seit März 2019 das Ziel einer offen homofeindlichen Kampagne. Damals musste sie ihre Arbeit mit der Jugend-Amateurtheatergruppe Merak aufgeben, nachdem die Polizei wegen ihres Anti-Mobbing- und Anti-Diskriminierungs-Stückes "Blau und Rosa" eine Untersuchung wegen angeblicher "Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen zwischen Minderjährigen" eingeleitet hatte. Auch die Theatergruppe, die sie 2018 gegründet hatte, war gezwungen, ihre Arbeit einzustellen.
Schon am 11. Dezember 2019 wurde eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rubel (etwa 730 Euro) gegen sie verhängt, weil sie die Administratorin zweier LGBTI-Online-Gruppen auf der beliebten russischen Social-Media-Plattform VKontakte ist. In der Begründung heißt es, dies sei "Werbung für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen zwischen Minderjährigen", ein Vergehen nach Paragraf 6.21 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten. Doch beide Online-Gruppen waren mit "18+" gekennzeichnet – selbst nach der diskriminierenden Gesetzgebung gegenüber LGBTI in Russland stellt dieser Paragraf nur ein Vergehen dar, wenn sich das "Propaganda"-Material an Personen unter 18 Jahre richtet.
Am 17. Januar 2020 informierte Yulia Tsvetkova die Medien darüber, dass gegen sie ein neues Verfahren nach demselben Paragrafen des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten eingeleitet worden sei, diesmal wegen der Social-Media-Veröffentlichung ihrer Zeichnung "Familie ist dort, wo Liebe ist. Unterstützt LGBT+-Familien". Auf der Zeichnung sind zwei gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern zu sehen. Sie hatte die Zeichnung zur Unterstützung eines gleichgeschlechtlichen Paares veröffentlicht, das mit seinen Adoptivkindern aus Russland fliehen musste, weil die Behörden gedroht hatten, dem Paar die Kinder wegzunehmen. Am 10. Juli 2020 wurde Yulia Tsvetkova schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 75.000 Rubel (etwa 1.100 Euro) verurteilt.
Im Jahr 2020 wurde das Strafverfahren gegen Yulia Tsvetkova fünfmal zwischen der Ermittlungsbehörde und der Staatsanwaltschaft hin- und hergeschoben. Ihr Strafverfahren begann schließlich im Januar 2021.
Am 15. Juli 2022 wurde das Verfahren mit dem Freispruch von Yulia Tsvetkova abgeschlossen. Leider legte die Staatsanwaltschaft am 22. Juli ein Rechtsmittel gegen den Freispruch ein. Wird das Rechtsmittel abgelehnt, bleibt der Freispruch bestehen. Wird dem Rechtsmittel stattgegeben, wird der Fall an die erste Instanz zurückverwiesen und das Verfahren neu aufgerollt. In der Zwischenzeit sperrten die Behörden wiederholt ihre Onlinegruppe "Vagina-Monologe", in der sie die Zeichnungen veröffentlicht hatte, die zu dem Strafverfahren wegen "Pornografie" gegen sie führten. Am 3. Juni erklärte das russische Justizministerium Yulia Tsvetkova zur "ausländischen Agentin". Diese Bezeichnung wurde per Gesetz eingeführt, um prominente zivilgesellschaftliche Organisationen und Einzelpersonen zu verleumden und sie dazu zu bringen, lästige und erniedrigende Auflagen zu erfüllen oder aber mit schweren Strafen, darunter auch Gefängnis, konfrontiert zu werden.