Aktivist wegen Gedenkaufruf zu Haftstrafe verurteilt

Menschenmenge auf einem Platz hält Banner und Fahnen hoch

Protest auf dem Tiananmen-Platz in Peking im Juni 1989

Chen Bing wurde zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt, nachdem er und drei weitere Aktivisten schuldig gesprochen worden waren, "Streit angefangen und Ärger provoziert zu haben". Sie hatten ihren eigenen Baijiu (ein beliebtes chinesisches alkoholisches Getränk) hergestellt und beworben, dessen Etikett an den 27. Jahrestag der Niederschlagung der Tiananmen-Proteste erinnerte.

Appell an

Präsident Xi Jinping

Zhongnanhai

Xichangan’jie

Xichengqu, Beijing Shi 100017

VOLKSREPUBLIK CHINA

Sende eine Kopie an

Botschaft der Volksrepublik China
S. E. Herr Ken Wu
Märkisches Ufer 54

10179 Berlin
Fax: 030-27 58 82 21
E-Mail: chinaemb_de@mfa.gov.cn oder
presse.botschaftchina@gmail.com

 

Amnesty fordert:

  • Lassen Sie Chen Bing umgehend und bedingungslos frei, da er ausschließlich von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hat, das sowohl durch internationale Abkommen – die China unterzeichnet hat – als auch die chinesische Verfassung geschützt ist.
  • Sorgen Sie bitte dafür, dass Chen Bing bis zu seiner Freilassung vor Folter und anderweitigen Misshandlungen geschützt ist und unverzüglich regelmäßigen und uneingeschränkten Zugang zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl und zu seinen Angehörigen erhält. Sorgen Sie dafür, dass er ohne Eingriffe kommunizieren kann, es sei denn solche Eingriffe entsprächen den internationalen Menschenrechtsnormen.

Sachlage

Am 4. April wurde der Aktivist Chen Bing aus der Provinz Sichuan zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Zuvor waren er und drei weitere Aktivisten – Fu Hailu, Zhang Junyong und Luo Fuyu – schuldig gesprochen worden, "Streit angefangen und Ärger provoziert zu haben". Fu Hailu, Zhang Junyong und Luo Fuyu waren zwischen dem 1. und 3. April zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Alle Vier befinden sich bereits seit fast drei Jahren in Haft. Zunächst lautete die Anklage "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt".

Laut der Anklageschrift nutzten die Aktivisten die Etiketten und den "Erinnerungs-Wein" (jinian-jiu), um "den Vorfall vom 4. Juni im Internet populär zu machen". Die Anklageschrift stellte weiterhin fest, dass Zhang Junyong, Luo Fuyu und Chen Bing in einem Supermarkt in Sichuan 9000 Yuan (ungefähr €1200) für den Kauf von Wein, Flaschen und Korken ausgegeben haben sollen. Auf dem Etikett steht übersetzt "Erinnert euch, Acht Schnaps Sechs Vier" (mingji bajiu liusi), was sich auf Chinesisch ausgesprochen wie "4. Juni 1989" anhört, und "27 Jahre im Fass gereift, nicht zu verkaufen!". Zwischen dem 28. Mai und dem 21. Juni 2016 nahmen Sicherheitskräfte alle vier Aktivisten fest und fanden dabei weitere 900 leere Flaschen samt Korken.

Die Freund_innen von Chen Bing gehen davon aus, dass er als einziger der vier Aktivisten keine Bewährungsstrafe bekommen hat, da er die Straftat nie zugab. Fu Hailu, Zhang Junyong und Luo Fuyu wurden zu je drei Jahren Haft auf fünf beziehungsweise vier Jahre Bewährung verurteilt – und die Erfahrung anderer festgenommenen Aktivist_innen zeigen, dass auch eine Bewährungsstrafe ein wirksames Mittel ist, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Im April 1989 weiteten sich die Proteste einiger Studierenden in Peking schnell auf das ganze Land aus. Sie hatten sich ursprünglich versammelt, um ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei, Hu Yaobang, zu betrauern. Die Studierenden forderten ein Ende der Korruption durch Regierungsvertreter_innen sowie politische und wirtschaftliche Reformen. Ihre Forderungen fanden in weiten Teilen der Bevölkerung Zustimmung. In Peking und ganz China fanden friedliche Demonstrationen statt. Die Behörden schafften es nicht, die Demonstrierenden dazu zu bewegen, nach Hause zurückzukehren. Als es in Peking zu Ausschreitungen kam, wurde am 20. Mai der Ausnahmezustand ausgerufen. Am Abend des 3. Juni zogen schwer bewaffnete Streitkräfte und Hunderte gepanzerte Fahrzeuge in die Stadt ein, um die prodemokratischen Demonstrierenden zu "beseitigen". Viele unbewaffnete Zivilpersonen, darunter Kinder und ältere Menschen, wurden von den Truppen erschossen. Am 4. Juni übernahm das Militär die vollständige Kontrolle über Peking.

In einem offiziellen Bericht, den die chinesischen Behörden Ende Juni 1989 veröffentlichten, hieß es, dass "während des Aufstands mehr als 3.000 Zivilpersonen verletzt wurden und mehr als 200, darunter 36 Studierende, starben". Dem Bericht zufolge starben auch mehrere Dutzend Soldat_innen. Dennoch übernahm die Regierung nie die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen während der Niederschlagung und zog auch keine der Täter_innen zur Rechenschaft. Mit jedem Jahr, das verstreicht, schwindet die Aussicht auf Gerechtigkeit für die Angehörigen der Hunderten, wenn nicht Tausenden von Opfern, die in Peking und ganz China verwundet oder getötet wurden.

Sofort nach der Niederschlagung durch das Militär begannen die Behörden, die an den Demonstrationen Beteiligten ausfindig zu machen. Zahlreiche Zivilpersonen wurden festgenommen, gefoltert oder nach unfairen Gerichtsverfahren inhaftiert. Viele von ihnen wurden wegen "konterrevolutionären Verbrechen" angeklagt. "Konterrevolutionäre Straftaten" sind seit 1997 nicht mehr Teil des Strafrechts, doch die Fälle derjenigen Personen, die sich wegen solcher Straftaten bereits in Haft befanden, wie beispielsweise die Inhaftierten der pro-demokratischen Protesten von 1989, wurden nicht neu geprüft.

Die Unnachgiebigkeit der Regierung in Bezug auf eine Neubewertung der Tiananmen-Niederschlagung zeigt sich besonders an ihrem Umgang mit Menschen, die sich mutig für das Gedenken an diesen Tag einsetzen. So beispielsweise die Tiananmen-Mütter, eine Interessengruppe, die überwiegend aus Eltern besteht, deren Kinder bei der militärischen Niederschlagung von 1989 getötet wurden. Diese Personen sehen sich Schikanierung, Überwachung und Beschränkung ihrer persönlichen Freiheiten ausgesetzt. Jiang Peikun, Ehemann von Ding Zilin, eine der Gründerinnen der Tiananmen-Mütter, starb 2015, bevor er Gerechtigkeit für den Tod seines Sohnes Jiang Jielian erreichen konnte, der in der Nacht des 3. Juni 1989 erschossen wurde. Die letzte bekannte Person, die für Aktivitäten in direktem Zusammenhang mit der Niederschlagung von 1989 inhaftiert war, Miao Deshun, wurde im Oktober 2016 freigelassen.