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Zermürbte Seelen
Grafische Nachbildung eines Zellentraktes des nördlich von der syrischen Hauptstadt Damaskus gelegenen Saydnaya-Gefängnisses
© Amnesty International/Forensic Architecture
Gewalt, aber auch prekäre Verhältnisse nach der Flucht belasten Flüchtlinge.
Von Jana Hauschild
Mahmoud* hat nicht nur eine Hölle erlebt. Als der Syrer 2011 an einer Demonstration gegen den syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad teilnimmt, wird er vom Staatsschutz festgenommen – und in Haft gefoltert.
Bis zur Ohnmacht treiben ihm seine Peiniger Elektroschocks durch den Körper. Sie fesseln seine Arme hinter seinem Rücken und hängen ihn stundenlang daran auf. Mit anderen Männern wird er so eng in einer Zelle zusammengepfercht, dass sie nur stehen, nicht schlafen können. Im Ohr immer die Schreie der anderen, die gefoltert werden.
Die Wächter drohen zudem, Mahmoud zu vergewaltigen und seine Familie zu überfallen. Der 35-Jährige ist verheiratet und hat zwei Kinder. Es gelingt seiner Familie, ihn aus der Haft freizukaufen. Mit dem letzten Geld finanzieren sie seine Flucht. Für Frau und Kinder reicht es nicht. Sie bleiben zurück, dort, wo das Regime die Familie im Visier hat – und ihr Leben bedroht.
Mahmoud steigt in Libyen auf ein Schiff Richtung Europa. Es havariert, Menschen ertrinken, er überlebt und kommt in Italien in Gewahrsam. Die Beamten misshandeln ihn. Als er freikommt, kann er sich nach Deutschland durchschlagen. Berlin erreicht er im Herbst 2014. Im Gepäck: Angst und die bedrückenden Erinnerungen an Gewalt und Tod. Sie haben sich fest in sein Gehirn gebrannt. Im Schlaf, aber auch am Tag überwältigen sie den jungen Mann.
Dann hört er die Männer im Gefängnis schreien, sieht Menschen ertrinken, spürt die Panik in sich hochkommen, hat das Gefühl, er sei wieder zurück. In der Hölle. Ihn verlässt die Kraft. Ohne Familie will er nicht mehr leben.
Mahmoud leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und Depressionen – wie viele Folteropfer, die aus ihrer Heimat geflohen sind. Experten schätzen, dass die Zahl der psychisch Erkrankten unter Geflüchteten generell um ein Vielfaches höher ist als im Rest der Bevölkerung. Sie leiden Erhebungen zufolge bis zu zehnmal häufiger unter Angsterkrankungen, Depressionen oder einer PTBS. Doch vor allem diejenigen, die Folter ausgesetzt waren, erkranken deutlich öfter.
Einer dänischen Untersuchung zufolge weisen Folteropfer bis zu dreimal häufiger Beschwerden von Angst- bis Zwangsstörung auf als Flüchtlinge, die diese Gewalterfahrung nicht gemacht haben. Tatsächlich steigert Folter das Risiko dafür, an einer PTBS zu erkranken, so drastisch wie kein anderes Erlebnis im Leben von Menschen.
Angst, Sucht oder Depressionen sind typische Begleiter der Trauma-Erkrankung. Ob jemand nach einer Flucht psychisch erkrankt, hängt allerdings nicht nur von seinen Erfahrungen im Herkunftsland oder während der oft lebensbedrohlichen Flucht ab, sondern auch davon, wie das Leben in dem neuen Land ist, welche Möglichkeiten er hat, seinen Alltag zu gestalten.
"Gerade Flüchtlinge, die von staatlichen Organen verfolgt, misshandelt oder gefoltert wurden, die also schwere Menschenrechtverletzungen erlebt haben, zeigen ein großes Bedürfnis nach Sicherheit", sagt Johannes Kruse, Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Marburg. Dann kämen sie in ein Land, dessen Sprache sie nicht sprechen und von dem sie nicht wissen, ob es ihnen Schutz gewähren wird. Das verunsichere sie sehr.
"Wenn die Flüchtlinge dann auch noch von brennenden Flüchtlingsheimen hören oder sehen, wie Einheimische gegen sie demonstrieren, schürt das zusätzliche Ängste", so Kruse. Dabei wisse man inzwischen: Jedes Problem im Aufnahmeland erschwert es den Geflüchteten, die Traumatisierung zu verarbeiten.
"In Erstaufnahmeeinrichtungen haben die Flüchtlinge keinen richtigen Rückzugsraum – egal wie gestresst, erschöpft oder auch traurig sie durch all die Erlebnisse sind", kritisiert die Psychiaterin Meryam Schouler-Ocak von der psychiatrischen Universitätsklinik der Charité in Berlin, wo auch Flüchtlinge mit psychischen Erkrankungen behandelt werden. Dazu kommen: Die willkürliche Zuteilung zu einem Wohnort. Das Zusammenleben auf engstem Raum, mit fremden Menschen, die selbst oftmals psychisch leiden.
Eine Studie aus den USA bestätigt die Eindrücke. Flüchtlinge, die in institutionellen Einrichtungen lebten oder wegen ihres Aufenthaltsstatus keiner Arbeit nachgehen konnten, wiesen mehr psychische Probleme auf als Migranten mit eigener Wohnung oder einem Job.
Doch auch das Asylverfahren ist zermürbend. Die Anhörungen bei Ämtern oder durch das Bundesministerium für Migration stellen für viele eine enorme Herausforderung dar, weil sie dort unter anderem zu ihren traumatischen Erlebnissen befragt werden.
"Nicht selten werden die Berichte von Folter und Gewalt später als Schutzbehauptungen abgetan und der Antrag auf Asyl wird abgelehnt. Ursache dafür ist, dass die Betroffenen meist nicht chronologisch oder nur lückenhaft erzählen", sagt Mediziner Johannes Kruse. Dabei sei eben diese Schwierigkeit meist Ausdruck der Posttraumatischen Belastungsstörung selbst.
Wenn jemand gefoltert wurde, könne er diese Erfahrung nicht wie jedes andere Ereignis im Gehirn abspeichern, sondern nur in Splittern. "Zudem sind diese Erinnerungsfetzen nicht nur sehr brutal, sondern oft auch schambesetzt", ergänzt Kruse. Wird ihnen Asyl verwehrt, können die Antragstellenden Klage einreichen – und müssen dann ihre Biografie und die traumatisierenden Erlebnisse noch einmal vor einem Gericht vortragen.
Die andauernde Unsicherheit darüber, wie es weitergeht, stellt eine existenzielle Belastung dar. Schon 2004 wies eine niederländische Untersuchung auf diesen Umstand hin: Flüchtlingen, die bereits seit zwei Jahren auf eine Entscheidung warteten, ging es psychisch deutlich schlechter als jenen, die weniger als ein halbes Jahr ohne klare Bleibeperspektive in den Niederlanden lebten. Von den gerade erst Angekommenen wiesen 42 Prozent eine Depression, Angststörung oder PTBS auf. In der Gruppe, die schon lange wartete, lag die Rate bei 66 Prozent.
"Das Wichtigste für die Flüchtlinge ist es, ihre Zukunft zu klären", sagt auch die Ärztin und Psychotherapeutin Mechthild Wenk-Ansohn, die die ambulante Abteilung am Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin leitet. Sie und ihre Kollegen erleben oft, dass Asylsuchende im Klageverfahren bis zu fünf Jahre auf eine definitive Entscheidung warten oder über Jahre als Flüchtlinge nur geduldet werden. "Doch erst wenn der Aufenthaltsstatus geklärt ist, kommen die Flüchtlinge zur Ruhe. Und erst dann können sie ihre Erlebnisse wirklich aufarbeiten", betont Wenk-Ansohn. Ein typisches Beispiel dafür sei der Syrer Mahmoud, der seit Anfang 2015 bei ihr in Behandlung ist.
Er sollte im Dublin-Verfahren nach Italien zurückgeschoben werden, das Land, in dem er bereits Opfer von Gewalt geworden war. Doch diese Abschiebung konnte verhindert werden. Seit sein Aufenthaltsstatus geklärt ist und er ein Bleiberecht erhalten hat, sind seine Beschwerden deutlich zurückgegangen. Ohne das Behandlungszentrum wäre es wohl nie dazu gekommen. Einzelgespräche, in denen er die Erlebnisse aufarbeitete, und Gruppensitzungen, in denen er Menschen traf, die sich ein neues Leben aufbauen müssen, haben ihm wieder Halt gegeben.
Bundesweit gibt es etwa zwei Dutzend Behandlungseinrichtungen für Geflüchtete und Folteropfer. Das Personal ist im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen geschult. Dolmetscher ermöglichen die Therapiegespräche. Doch Kapazitäten und Geld reichen nicht aus. Die Einrichtungen führen pro Jahr rund 3.600 Psychotherapien durch, schreibt die Bundespsychotherapeutenkammer in einer aktuellen Stellungnahme. Nach ihren Hochrechnungen lag der Behandlungsbedarf im Jahr 2014 aber bei rund 80.000. Das Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin berichtet ebenfalls, dass es zehnmal mehr Anfragen gibt als Therapieplätze existieren.
Oftmals ist der Zugang zu psychiatrischer oder psychologischer Hilfe für Geflüchtete allerdings verstellt. Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht eine medizinische Versorgung für Asylsuchende nur vor, wenn die Erkrankung akut oder lebensbedrohlich ist. "Psychische Störungen zählen oft nicht dazu. Bleiben die Beschwerden allerdings unbehandelt, können sie sich verschlimmern oder chronisch werden, mit all dem Leid für die Betroffenen", betont die Berliner Psychiaterin Schouler-Ocak.
Gleichzeitig bleiben psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen häufig unerkannt. Das EU-geförderte Projekt PROTECT (Verbesserung der Erkennung und Versorgung von geflohenen Folteropfern in der EU) hat deshalb in den vergangenen Jahren einen kurzen Fragebogen entworfen, mithilfe dessen auch Nicht-Mediziner feststellen können, ob ein Flüchtling aufgrund von Folter und massiver Gewalterfahrung Behandlungsbedarf hat.
In einigen Ländern, die an dem Projekt teilnahmen, gehört der Test schon zum Standardverfahren bei der Erstaufnahme, in Deutschland noch nicht. "Die Vorstöße, die es hierzulande gibt, sind leider bisher nicht ausreichend zu den Flüchtlingseinrichtungen durchgedrungen", sagt Johannes Kruse, der mit einem Team der Düsseldorfer Uniklinik versucht hat, ein eigenes Screening-Verfahren in den Asylprozess zu integrieren.
Viele Erstaufnahmen hätten zurückgemeldet, sie hätten keine Kapazitäten, um die Befragungen bei allen durchzuführen. "Doch selbst wenn sie das täten und bedürftige Flüchtlinge identifizieren würden, wäre eine Versorgung notwendig, für die aber weiterhin die Mittel und die personellen Ressourcen fehlen", so Kruse.
Mahmoud lernt inzwischen Deutsch und möchte wieder in seinem alten Beruf als Maler arbeiten. Die Behörden stimmten zu, dass er seine Frau und Kinder nach Deutschland nachholen kann. Mit ihnen möchte Mahmoud in eine Wohnung ziehen, gemeinsam von vorn beginnen. Zukunftspläne, wo vor wenigen Wochen noch der Wunsch zu sterben stand. Die Schreie der anderen, die ins Gehirn eingebrannten Schreckensbilder: "Sie werden wohl nie ganz weg sein", sagt seine Therapeutin Wenk-Ansohn. "Doch sie werden nicht mehr seinen Alltag bestimmen."
- Name geändert
Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.
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