Schnell beleidigt

Zahlreiche Gewaltdrohungen. Protestaktion gegen die Zeitung "Cumhuriyet" in Istanbul
© Sedat Suna/EPA/pa
Die "Verunglimpfung religiöser Gefühle" ist einer von zahlreichen Artikeln im türkischen Strafgesetzbuch, mit denen die freie Meinungsäußerung beschränkt werden kann. Jetzt traf es die türkische Tageszeitung "Cumhuriyet" – sie hatte im Januar vier Seiten aus der Satirezeitung "Charlie Hebdo" veröffentlicht.
Von Ralf Rebmann
Die Razzia begann in der Nacht zum 14. Januar 2015. Polizeieinheiten blockierten die Zufahrtsstraßen zu einer Druckerei im Westen Istanbuls und durchsuchten die Ladung mehrerer Lkws. Die Beamten waren auf der Suche nach einer besonderen Zeichnung – ein weinender Prophet Mohammed, ein Schild in seinen Händen, darauf die Aufschrift "Ich bin Charlie".
Der Grund für die nächtliche Razzia: Die türkische Tageszeitung "Cumhuriyet", die ihre Ausgaben in dieser Druckerei fertigstellen lässt, enthielt vier Seiten der französischen Satirezeitung "Charlie Hebdo". Zwar verzichtete man darin auf die Titelseite mit der Mohammed-Karikatur. Die Kolumnisten Ceyda Karan und Hikmet Çetinkaya hatten sie jedoch im Briefmarken-Format neben ihren Texten platziert.
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Bewaffnete Polizisten mussten am nächsten Morgen Mitarbeiter der Zeitung vor wütenden Demonstranten schützen, die Kolumnisten erhielten über Twitter zahlreiche Gewaltdrohungen. Gegen beide wurde zudem eine Untersuchung wegen "Provokation" und der "öffentlichen Verunglimpfung religiöser Werte" eingeleitet. Bei einer Verurteilung droht ihnen bis zu ein Jahr Haft.
"Recht auf Meinungsfreiheit heißt nicht Recht auf Beleidigung", beschwerte sich der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu am nächsten Tag. Gleichzeitig ordnete ein Gericht im südöstlichen Diyarbakır an, sämtliche Webseiten zu sperren, die die Titelseite veröffentlicht hatten. Die Seite von "Charlie Hebdo" ist mittlerweile ebenfalls nicht mehr erreichbar.
Das Beispiel von "Cumhuriyet" zeigt, wie restriktiv Artikel 216 Absatz 3, die "Erniedrigung religiöser Werte", ausgelegt wird. Als "drastische Einschränkung der Meinungsfreiheit und staatliche Zensur" kritisierte Andrew Gardner, Türkei-Experte von Amnesty, die Polizeirazzia. Man könne nicht die Meinungsfreiheit einschränken, nur weil die Möglichkeit einer Beleidigung bestehe.
Zuletzt wurde im Fall von Fazıl Say um den Blasphemie-Paragrafen gestritten. Der türkische Pianist erhielt 2013 wegen mehrerer Twitter-Nachrichten eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten. Doch auch gegen den Karikaturisten Bahadır Baruter oder den türkisch-armenischen Autor Sevan Nişanyan wurde aus diesem Grund ermittelt. Nişanyan erhielt 2013 für einen islam-kritischen Blogeintrag eine Gefängnisstrafe von dreizehneinhalb Monaten. "Die Anschuldigung, religiöse Gefühle zu verletzen, kann man sehr weit auslegen", sagt Özgün Özçer. Der 29-Jährige ist Redakteur der sozialistischen und regierungskritischen Tageszeitung "BirGün". "Oft ist es schwierig nachzuvollziehen, wieso genau dieser Tweet oder Bericht ein Problem ist."
Gegen drei Redakteure von "BirGün" wurde im November 2014 ebenfalls eine Untersuchung wegen Blasphemie eingeleitet. Begründet wurde dies mit zwei Artikeln, die über den anonymen Twitter-Account "Tanrı (cc)" (auf Deutsch "Gott") verbreitet wurden. "Religiöse Identität ist die Grundlage dieser Regierung. Äußerungen, die das kritisieren, sind deshalb ein Problem", sagt Özçer.
Die Diskussion um "Charlie Hebdo" sei weniger eine Frage der Religionsfreiheit, als vielmehr der Meinungsfreiheit. "Man kann seine Meinung frei äußern und trotzdem religiöse Werte respektieren", meint Sevgi Akarçeşme. Die Journalistin arbeitet für die auflagenstärkste türkische Tageszeitung "Zaman", die der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen nahesteht. "Persönlich lehne ich Karikaturen des Propheten Mohammed ab. Ich kann aber nicht verlangen, dass andere meine religiösen Werte teilen." Dass ein Staat seine Version von Religion den Menschen auferlege, halte sie für falsch.
Die "Beleidigung religiöser Gefühle" ist einer von vielen Artikeln im türkischen Strafgesetzbuch, mit denen die freie Meinungsäußerung bestraft werden kann. Dazu gehören die "Beleidigung der türkischen Nation" sowie mehrere Artikel der Antiterrorgesetzgebung. Der Straftatbestand "Propaganda für eine Terrororganisation" kann mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. In der Vergangenheit traf dies vor allem Journalisten kurdischer Zeitungen und Nachrichtenagenturen.
2014 hat sich die Situation für Journalisten weiter verschärft. Die türkischen Journalistenvereinigungen TGC und TGS teilten im Dezember mit, zwar sei die Zahl der inhaftierten Journalisten zurückgegangen, der Druck sei jedoch gestiegen: Mehr als 500 Journalisten seien entlassen worden, mehr als 80 Journalisten gaben ihren Beruf auf.
Dem unabhängigen Nachrichten-Netzwerk BIA zufolge wurden allein von Oktober bis Dezember 2014 43 Journalisten festgenommen, 22 Journalisten waren Ende des Jahres in Haft. Hinzu kommen zahlreiche Ermittlungen wegen "Beleidigung", die nicht selten vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angestrengt werden. Vor allem Twitter steht im Fokus der türkischen Regierung. 2014 war der Dienst vorübergehend zensiert. Zwischen Juli und Dezember 2014 forderten türkische Behörden das Unternehmen nach eigenen Angaben auf, 477 Nutzerprofile zu entfernen. Die Türkei hatte damit mehr Anfragen als die restlichen Länder zusammen.
"Repressionen gegen Journalisten sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Sobald man nicht die Position der Regierung vertritt, geht man ein Risiko ein", erklärt Sevgi Akarçeşme. Journalisten der "Zaman"-Gruppe stehen seit knapp zwei Jahren besonders unter Druck. Seit im Dezember 2013 Korruptionsermittlungen gegen die türkische Regierung eingeleitet wurden, herrscht zwischen der Gülen-Bewegung und Erdoğans AKP-Partei ein offener Machtkampf. Repressionen richteten sich in den vergangenen Monaten deshalb vor allem gegen Medien, die über die Korruptionsvorwürfe berichteten.
Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung am 14. Dezember 2014, als 27 Journalisten und Mitarbeiter der "Zaman"-Gruppe verhaftet wurden, darunter der Chefredakteur der Zeitung, Ekrem Dumanlı. Gegen Sevgi Akarçeşme und die Redaktionsleitung der englischen Ausgabe "Today’s Zaman" wird ebenfalls ermittelt. Akarçeşme wird vorgeworfen, den Premierminister auf Twitter beleidigt zu haben. Der Inhalt ihres Tweets: Ahmet Davutoğlu würde als ein Premierminister in die Geschichte eingehen, der die Pressefreiheit in der Türkei abgeschafft habe.
Der Autor ist Journalist und lebt zurzeit in Istanbul.