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Für ein Leben in Menschenwürde
"Mit Menschenrechten gegen Armut": Zum Start der neuen Kampagne von Amnesty International.
Es gibt Zahlen, die niemand ignorieren kann: Drei Milliarden Menschen haben UNO-Berechnungen zufolge pro Tag weniger als zwei Dollar zum Leben. Zwei Dollar, oder etwa einen Euro fünfzig: So viel kostet auf der Berliner Friedrichstraße eine Kugel Eis. Eine andere Zahl ist noch größer: Vier Milliarden Menschen haben "keinen Zugang zur Justiz". Zwischen diesen Zahlen besteht ein doppelter Zusammenhang.
Es sind häufig die drei Milliarden Armen, die diskriminiert werden und die keinen Zugang zu fairen Gerichtsverfahren haben. Und diese Armen werden Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Armut ist mehr als nur der Mangel an Ressourcen. In vielen Ländern können Arme nicht zum Arzt gehen, weil kein Arzt erreichbar ist oder sie ihn nicht bezahlen können. Häufig versorgen die Wasserwerke vornehmlich die mittelständischen Wohngebiete, die Slumbewohner hingegen müssen entweder verschmutztes Flusswasser trinken oder aber zu überhöhten Preisen Wasser von privaten Anbietern kaufen. Ihre Kinder können oft keine Schule besuchen, weil keine entsprechenden Einrichtungen vorhanden sind oder weil einfach die finanziellen Mittel fehlen.
Das alles sind Menschenrechtsverletzungen, denn es gibt das Recht auf angemessene Gesundheitsversorgung und Unterkunft, das Recht auf eine ausreichende Menge Trinkwasser und das Recht auf Bildung. Zu diesen – und anderen – Rechten haben sich 160 Staaten der Erde formell bekannt, als sie den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte unterzeichneten.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Amnesty International sagt nicht, dass Armut selbst schon eine Menschenrechtsverletzung ist. Aber es gibt eine enge Verbindung: Armut ist oft die Folge von Menschenrechtsverletzungen, sie macht für Menschenrechtsverletzungen besonders verwundbar, und weitere Menschenrechtsverletzungen machen die Armut für die Betroffenen zum unentrinnbaren Schicksal.
In Armut und zugleich menschenwürdig zu leben, ist sehr schwer. Die Menschenwürde aber ist die unverfügbare Grundlage unseres Menschseins. Aus ihr erwachsen alle Menschenrechte. Deshalb steht der Begriff "Würde" im Mittelpunkt unserer neuen Kampagne, die im Englischen "Demand Dignity" heißt und bei uns den Titel "Mit Menschenrechten gegen Armut" trägt. Wir werden in den nächsten Jahren im Rahmen dieses Schwerpunkts vor allem zu vier Bereichen arbeiten, die ich kurz vorstellen möchte:
1. Wohnen. In Würde. In den Tagen, da dieses Heft erscheint, beginnen wir mit Aktionen und Informationen zum Recht auf Wohnen. Kurz nachdem ich bei Amnesty als Generalsekretärin angefangen habe, wurde in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh die Siedlung Gruppe 78 geräumt. Lange haben sich die Bewohner dieses Slums gegen ihre Vertreibung gewehrt. Ich kenne den Slum aus meiner Arbeit in Phnom Penh gut und habe selbst gehört, wie Bewohner sagten: "Wir haben eigentlich kein Geld, aber wir müssen für unsere Rechte vor Gericht streiten." Also haben sie zusammengelegt, um einen Anwalt zu bezahlen. Doch Zugang zu Justiz bedeutet auch: Zugang zu einer nicht korrupten Justiz, die faire Verfahren durchführt. Im Fall Gruppe 78 siegten profitable Stadterneuerungsinteressen über die Menschenrechte. Um noch einmal mit einer unvorstellbaren Zahl zu kommen: Eine Milliarde Menschen leben weltweit in Slums, eine Million allein in Kibera in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Trinkwasser ist dort Mangelware, Krankheiten sind weit verbreitet, Schulen gibt es kaum. Aber auch dies ist ein Ort, wo Menschen sich wehren und ihr Schicksal in die Hand nehmen. Sie brauchen unsere Unterstützung, deshalb setzen wir hier das erste Ausrufezeichen.
2. Mutter werden. Ohne zu Sterben. Es gibt Länder, da bedeutet Arm oder Reich eine Entscheidung über Tod oder Leben im Kindbett. Peru ist so ein Land. In den armen, indigenen Gebieten stirbt fast jeder zehnte Säugling, in der Hauptstadt Lima sind es nur 1,7 Prozent der Neugeborenen. Auch die Müttersterblichkeit – unser zweiter Schwerpunkt – ist enorm hoch, vier von 1.000 peruanischen Frauen starben 2004 nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation bei der Geburt. Das ist kein Schicksal, sondern ein Menschenrechtsskandal. Weltweit sterben jedes Jahr mehr als 500.000 Mütter, weil ihnen ihr Menschenrecht auf angemessene Gesundheitsversorgung vorenthalten wird. Fast alle dieser 500.000 Frauen könnten leicht gerettet werden.
3. Wirtschaften. Mit Verantwortung. Die Tätigkeit großer Unternehmen kann Menschen krank machen und blutige Konflikte auslösen. Das Nigerdelta ist mittlerweile durch die Ölförderung völlig verseucht. Die Erdölunternehmen nehmen diese Verschmutzung in Kauf. Sie gehen nur ungenügend gegen Lecks und Öllachen vor. Die Folge: 70 Prozent der Menschen im Nigerdelta leben in absoluter Armut. Und die Regierung Nigerias zieht die verantwortlichen Unternehmen nicht angemessen zur Rechenschaft. Unternehmen haben aber eine bindende Verantwortung, die Menschenrechte einzuhalten – das will diese Kampagne klar machen. Und wenn sie Menschenrechte verletzen, dann müssen sie dafür zur Verantwortung gezogen werden.
4. Schließlich will unsere Kampagne erreichen, dass wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte genauso vor internationalen Stellen einklagbar werden wie die politischen Menschenrechte. Das ist im Zusatzprotokoll zum Internationalen Pakt über diese Rechte festgelegt. Es kann noch immer nicht in Kraft treten, weil noch Ratifizierungen ausstehen – unter anderem von Deutschland. Unser Ziel ist, dass alle Staaten dieses Protokoll unterzeichnen und ratifizieren.
Unser neuer Schwerpunkt will keine Entwicklungspolitik machen oder ersetzen. Unbestritten wird viel getan gegen Armut. Im Rahmen der UNO-Millenniumsziele ist Armutsbekämpfung zur globalen Priorität erhoben worden. Allerdings wird das Ziel scheitern, bis 2015 die Zahl der Armen auf der Welt zu halbieren, und das liegt auch an der verengten Perspektive. Denn was Regierungen nicht erkennen oder erkennen wollen: Armut wird nur zu bekämpfen sein, wenn die Menschenrechte der Armen respektiert, geschützt und gewährleistet werden. Deshalb muss die Armutsbekämpfung politisch als ein Menschenrechtsproblem erkannt und behandelt werden.
Das heißt zum Beispiel: Jedes Kind muss eine kostenlose Grundschule erreichen können; jede Frau hat ein Recht, in einer Gesundheitsstation zu entbinden und alle haben Anspruch darauf, täglich eine Mindestmenge an sauberem Trinkwasser zu erhalten. Diese Rechte müssen tatsächlich zur Verfügung stehen. Und im Streitfall müssen die Menschen die Möglichkeit haben, ihre Rechte gerichtlich durchzusetzen. Auch das besagen die Menschenrechte.
Was bedeutet das für die Staaten? Sie sind verpflichtet, alles ihnen Mögliche zu tun, damit sich die Lebenssituation der Armen würdig verbessert. Auch in finanzschwachen Zeiten sind Staaten verpflichtet, ihre Ressourcen so einzusetzen, dass die Bedürfnisse der Schwächsten im Mittelpunkt stehen. Die internationale Staatengemeinschaft hat eine Verpflichtung, sich zu schweren Menschenrechtsverletzungen in einem Staat zu verhalten, statt sie zu ignorieren. Und ein Letztes, ein Wichtiges: Nur wenn die Armen an der Entwicklung von Auswegen aus ihrer Armut beteiligt werden, wird Armutsbekämpfung als Menschenrechtsschutz funktionieren.
Von Monika Lüke.
Die Autorin ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.