Amnesty Report 02. Juni 2016

Tschad 2016

 

Die bewaffnete Gruppe Boko Haram verübte 2015 vermehrt Anschläge in der tschadischen Hauptstadt N'Djamena und im Gebiet des Tschadsees, die zu Toten in der Zivilbevölkerung führten. Die bewaffnete Gruppe war außerdem für Entführungen von Zivilpersonen und die Plünderung und Zerstörung von Privateigentum verantwortlich. Die staatlichen Stellen reagierten mit verschiedenen Antiterror- und Sicherheitsmaßnahmen; so wurde u. a. ein restriktives Antiterrorgesetz verabschiedet, und die Sicherheitskräfte nahmen willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen vor. Die Behörden schränkten das Recht auf freie Meinungsäußerung weiterhin ein, indem sie Demonstrationen häufig unter Einsatz exzessiver und unnötiger Gewalt auflösten. Hunderttausende Flüchtlinge aus Nigeria, der Zentralafrikanischen Republik, dem Sudan und Libyen lebten nach wie vor unter schlechten Bedingungen in überfüllten Flüchtlingslagern. Der ehemalige tschadische Präsident Hissène Habré musste sich vor den Außerordentlichen Afrikanischen Kammern (Extraordinary African Chambers) im Senegal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und Kriegsverbrechen verantworten.

Menschenrechtsverstöße durch bewaffnete Gruppen

Die bewaffnete Gruppe Boko Haram tötete 2015 mehr als 200 Zivilpersonen und plünderte und zerstörte Privateigentum und öffentliche Einrichtungen. Schätzungsweise 70 000 Menschen sahen sich aufgrund der gewaltsamen Angriffe gezwungen, in andere Landesteile zu fliehen.

Im Februar 2015 tötete Boko Haram auf Inseln im Tschadsee, u. a. in Kaiga-Kingiria, Kangalom und Ngouboua, mehr als 24 Menschen, darunter auch Zivilpersonen. Am 3. April 2015 lauerten Mitglieder von Boko Haram Zivilpersonen auf, die zum Markt in Tchoukou Telia gehen wollten, und töteten sieben Menschen mit Messern und Gewehren. Am 15. Juni 2015 wurden in N’Djamena bei zwei Selbstmordanschlägen, die Boko Haram zugeschrieben wurden, 38 Zivilpersonen getötet und mehr als 100 verletzt. Am 11. Juli 2015 sprengte sich ein Selbstmordattentäter, der eine Burka trug und mutmaßlich Boko Haram angehörte, auf einem Markt in N’Djamena in die Luft und tötete dabei mindestens 15 Zivilpersonen. Mehr als 80 Menschen trugen Verletzungen davon. Bei Selbstmordanschlägen auf den Markt von Bagassola und auf ein inoffizielles Lager für Binnenvertriebene in Kousseri am 10. Oktober 2015 starben mindestens 43 Zivilpersonen. Am 5. Dezember 2015 wurden drei Selbstmordanschläge auf den Markt von Loulou Fou auf einer Insel im Tschadsee verübt. Dabei wurden mindestens 27 Zivilpersonen getötet und mehr als 80 verletzt.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Am 30. Juli 2015 verabschiedete das Parlament ein Antiterrorgesetz, das die Todesstrafe vorsieht und die Strafen für weniger schwere terroristische Straftaten von 20 Jahren Haft auf lebenslänglich erhöhte. Die maximal zulässige Frist, innerhalb der ein Tatverdächtiger einem Richter vorgeführt werden muss, wurde von 48 Stunden auf 30 Tage ausgedehnt, sie kann zudem von der Staatsanwaltschaft zweimal verlängert werden. Das Gesetz definierte den Begriff "Terrorismus" äußerst breit und fasste darunter z. B. auch die Beeinträchtigung öffentlicher Dienstleistungen. Oppositionsparteien und zivilgesellschaftliche Organisationen äußerten die Befürchtung, das Antiterrorgesetz könne dazu benutzt werden, die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit zu beschneiden. Das neue Gesetz trat am 5. August 2015 in Kraft.

Die Behörden ergriffen im Juli 2015 weitere Antiterrormaßnahmen, die sowohl die einheimische Bevölkerung als auch ausländische Staatsangehörige betrafen. Es gab vermehrt Hausdurchsuchungen und Kontrollen an Straßen und auf öffentlichen Plätzen. Außerdem verboten die staatlichen Stellen Betteln in der Öffentlichkeit und das Tragen von Kleidungsstücken, die das Gesicht verhüllen.

Am 9. November 2015 wurde über das Gebiet des Tschadsees der Ausnahmezustand verhängt. Der Gouverneur der Region erhielt die Befugnis, die Bewegungsfreiheit von Personen einzuschränken, Fahrverbote zu verhängen, Hausdurchsuchungen anzuordnen und Waffen zu beschlagnahmen.

Internationale Gremien und tschadische zivilgesellschaftliche Organisationen warfen den Sicherheitskräften willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen vor. Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Menschenrechte wurden nach den Bombenanschlägen in N’Djamena vom 15. Juni 2015 innerhalb von zwei Wochen mehr als 400 ausländische Staatsbürger aus 14 Ländern bei Kontrollen festgenommen.

Exzessive Gewaltanwendung

Die Behörden verstießen gegen die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit, indem sie Proteste in N’Djamena und in anderen Städten mit exzessiver oder unnötiger Gewalt auflösten. So sollen bei einer Demonstration in Kyabé, im Süden des Landes, am 25. April 2015 mindestens drei Menschen getötet worden sein.

Am 9. März 2015 trieben Sicherheitskräfte in N’Djamena eine Demonstration von Studierenden unter Einsatz von Tränengas, Schlagstöcken und scharfer Munition auseinander. Berichten zufolge wurden vier Studierende getötet und zahlreiche weitere Demonstrierende verletzt. Bis zum Jahresende waren wegen der Tötungen keine Ermittlungen erfolgt oder Anklagen erhoben worden. Videoaufnahmen belegten außerdem, dass Angehörige des mobilen Einsatzkommandos der Polizei Studierende, die bei der Demonstration festgenommen wurden, folterten und in anderer Weise misshandelten. Die Sicherheitskräfte schlugen die Studierenden, zwangen sie, sich auf dem Boden zu wälzen, sich Sand ins Gesicht zu reiben und sich an den Ohren zu ziehen.

Nachdem ein Video im Internet aufgetaucht war, das die Identität der Sicherheitskräfte enthüllte, die die Studierenden gefoltert und in anderer Weise misshandelt hatten, verurteilte der Oberste Gerichtshof in N’Djamena am 20. Mai 2015 acht Polizisten "wegen unrechtmäßiger Gewalt, vorsätzlichem Schlagen und Verletzen sowie Mittäterschaft" zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 50 000 CFA-Francs (rund 76 Euro). Sechs weitere Polizisten wurden freigesprochen.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Mitte Juni 2015 wurde der Landrechtsaktivist Djeralar Miankeol, Vorsitzender der NGO Association Ngaoubourandi (ASNGA), festgenommen und vom Staatsanwalt in Moundou wegen "Beleidigung der Justiz" angeklagt, nachdem er in einem Radiointerview die Kompetenz tschadischer Justizbediensteter in Zweifel gezogen hatte. Das erstinstanzliche Strafgericht in Moundou verurteilte ihn zu einer zweijährigen Haftstrafe und einer Geldstrafe. Das Berufungsgericht in Moundou hob das Urteil am 28. Juli 2015 auf, ließ sämtliche Anklagepunkte gegen ihn fallen und ordnete seine Freilassung an.

Mahamat Ramadane, ein Redakteur der Zeitung Alwihda, wurde am 22. Juni 2015 festgenommen und bis zum folgenden Tag in Gewahrsam gehalten, weil er einen Einsatz der Sicherheitskräfte in N’Djamena fotografiert hatte, bei dem die Polizei dem Vernehmen nach mit exzessiver Gewalt vorgegangen war.

Am 23. Juni 2015 wurde der für Radio France Internationale tätige Korrespondent Laurent Correau gemeinsam mit einem Menschenrechtsverteidiger aus dem Ausland in N’Djamena von Staatsbediensteten angegriffen. Laurent Correau wurde noch am selben Tag aus dem Tschad ausgewiesen.

Rechte von Flüchtlingen und Migranten

Außer den etwa 70 000 Binnenvertriebenen, die vor den Angriffen Boko Harams in andere Landesteile geflohen waren, beherbergte der Tschad 2015 fast 500 000 Flüchtlinge aus den Nachbarländern Sudan, Zentralafrikanische Republik, Nigeria und Libyen. Was die Anzahl der Flüchtlinge anging, lag das Land damit an zweiter Stelle unter den afrikanischen Ländern. Viele Flüchtlinge lebten unter erbärmlichen Bedingungen in überfüllten Lagern. Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Menschenrechte schob der Tschad 2015 unter Missachtung des internationalen Prinzips des Non-Refoulement (Nichtzurückweisung) nigerianische Flüchtlinge, denen vorgeworfen wurde, der bewaffneten Gruppe Boko Haram anzugehören, in ihr Heimatland ab.

Internationale Rechtsprechung

Am 20. Juli 2015 begann vor den Außerordentlichen Afrikanischen Kammern im Senegal der Prozess gegen den ehemaligen tschadischen Präsidenten Hissène Habré wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und Kriegsverbrechen, die während seiner Herrschaft von 1982 bis 1990 verübt wurden. Es war das erste Mal, dass ein afrikanisches Gericht einen Staatschef eines afrikanischen Landes nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit strafrechtlich zur Verantwortung zog.

Am 25. März 2015 sprach das Strafgericht von N’Djamena 20 ehemalige Angehörige des Staatssicherheitsdienstes aus der Habré-Ära wegen Folter schuldig. Das Gericht sprach vier weitere Angeklagte frei und befand, für ihre Taten sei der tschadische Staat verantwortlich. Die Angeklagten und der Staat wurden dazu verurteilt, den 7000 Zivilparteien Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 75 Mrd. CFA-Francs (rund 114 Mio. Euro) zu zahlen. Der Tschad hatte 2014 ein Gesuch der Außerordentlichen Afrikanischen Kammern abgelehnt, die Angeklagten an das Gericht im Senegal zu überstellen oder ihre Befragung im Tschad durch Vertreter des Gerichts zu erlauben.

Todesstrafe

Am 29. August 2015 richtete ein Erschießungskommando zehn mutmaßliche Mitglieder von Boko Haram hin, die einen Tag zuvor in einem nichtöffentlichen Prozess zum Tode verurteilt worden waren. Sie waren für schuldig befunden worden, im Juni 2015 zwei Anschläge in N’Djamena verübt zu haben, bei denen 38 Menschen getötet wurden. Es waren die ersten Hinrichtungen im Tschad seit 2003. Das Land hatte 2014 angekündigt, die Todesstrafe abschaffen zu wollen, diese aber im Juli 2015 in das neue Antiterrorgesetz aufgenommen.

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