Amnesty Report Algerien 22. Mai 2013

Algerien 2013

 

Amtliche Bezeichnung:
 Demokratische Volksrepublik Algerien Staatsoberhaupt: Abdelaziz Bouteflika Regierungschef: Abdelmalek Sellal (löste im September Ahmed Ouyahiya im Amt ab)

Die Regierung schränkte weiterhin die Rechte auf Meinungsfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ein, löste Demonstrationen auf und schikanierte Menschenrechtsverteidiger. Frauen wurden vor dem Gesetz und im täglichen Leben diskriminiert. Die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen während der 1990er Jahre sowie jene, die sich der Folter und Misshandlung von Häftlingen in den Jahren danach schuldig gemacht hatten, gingen nach wie vor straffrei aus. Bewaffnete Gruppierungen verübten Angriffe, bei denen Menschen zu Tode kamen. Im Jahr 2012 wurden mindestens 153 Todesurteile verhängt, Hinrichtungen gab es jedoch nicht.

Hintergrund

Im Berichtsjahr kam es zu Protestaktionen und Demonstrationen von Gewerkschaften und anderen Gruppierungen. Die Menschen protestierten gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption. Die Demonstrationen wurden von den Sicherheitskräften aufgelöst oder schon im Vorfeld verhindert, indem Zugangswege blockiert und Protestierende verhaftet wurden.

Algeriens Menschenrechtsbilanz wurde im Mai 2012 im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung des UN-Menschenrechtsrats begutachtet. Die Regierung nahm Empfehlungen zur Abschaffung von Gesetzen nicht an, die auf den nationalen Ausnahmezustand in den Jahren 1992 bis 2011 zurückgingen und die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit einschränkten. Darüber hinaus verwehrte sie den Familien der in den 1990er Jahren "verschwundenen" Personen das Recht auf Wahrheit. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte stattete Algerien im September einen Besuch ab und diskutierte mit den Behörden den bereits seit langem anstehenden Besuch der UN-Arbeitsgruppe zur Frage des Verschwindenlassens von Personen.

Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit

Neue Medien- und Vereinigungsgesetze traten im Dezember 2011 in Kraft. Sie schränken die journalistische Tätigkeit in den Themenbereichen Staatssicherheit, nationale Souveränität und Wirtschaftsinteressen ein. Die Überwachung von NGOs wurde verschärft. Die Behörden sind jetzt berechtigt, NGOs aufzulösen, ihnen die Zulassung zu verweigern oder die finanziellen Mittel zu entziehen. Journalisten wurden wegen Verleumdung strafrechtlich verfolgt.

  • Der Journalist Manseur Si Mohamed, der
für die Zeitung La Nouvelle République in Muaskar arbeitete, wurde im Juni 2012 wegen "verleumderischer Kommentare" zu zwei Monaten Haft und einer Geldstrafe verurteilt. Er hatte über einen Staatsbeamten berichtet, der sich geweigert hatte, eine gerichtliche Anordnung in Kraft zu setzen. Während der Dauer seines Berufungsverfahrens blieb er auf freiem Fuß.

  • Im Oktober 2012 wiesen die Behörden ohne nähere Begründung einen Antrag auf Zulassung der nationalen Vereinigung zum Kampf gegen die Korruption (Association nationale de lutte contre la corruption – ANLC) ab.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Auch nach Aufhebung des Ausnahmezustands im Jahr 2011 verboten die Behörden weiterhin Demonstrationen in Algier und beriefen sich dabei auf ein Dekret aus dem Jahr 2001. Im gesamten Land verhinderten Sicherheitskräfte Protestaktionen im Vorfeld, indem sie Zufahrtswege sperrten oder Menschen in Gewahrsam nahmen. Dennoch stattfindende Demonstrationen wurden gewaltsam oder unter Androhung von Gewalt aufgelöst.

  • Am 24. April 2012 gingen Sicherheitskräfte dem Vernehmen nach gewaltsam gegen Justizangestellte vor, die mit einem Sitzstreik gegen ihre Arbeitsbedingungen protestierten. Die Demonstrierenden wurden verprügelt und festgenommen.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger waren nach wie vor Schikanen durch die Behörden und die Gerichte ausgesetzt.

  • Abdelkader Kherba ist Mitglied der algerischen Liga für die Verteidigung der Menschenrechte (Ligue Algérienne pour la Défense des Droits de l’Homme – LADDH) sowie des nationalen Komitees für die Rechte der Arbeitslosen (Comité pour la défense des droits des chômeurs – CNDDC). Im Mai 2012 verurteilte ihn ein Gericht wegen "direkter Anstiftung zu einer Zusammenkunft" sowie wegen Teilnahme an und Filmens eines Sitzstreiks von Justizangestellten zu einer Geldbuße und einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung. Er saß vom 19. April bis 3. Mai in Haft. Im August wurde er erneut festgenommen, inhaftiert und strafrechtlich verfolgt, weil er versucht hatte, eine Demonstration gegen die eingeschränkte Wasserversorgung in Ksar El Boukhari in der Provinz Médéa zu filmen. Die Anklage lautete auf Beleidigung und tätlichen Angriff auf einen Beamten. Er wurde freigesprochen und am 11. September aus der Haft entlassen.

  • Der Gewerkschafter und Präsident der LADDH in Laghouat, Yacine Zad, wurde im Oktober 2012 von der Polizei festgenommen und geschlagen. Er erhielt eine sechsmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung sowie eine Geldbuße wegen "Gewaltanwendung gegen einen Staatsbeamten". Das Gericht ignorierte seinen Vorwurf, die Polizei habe ihn tätlich angegriffen, obwohl hierfür medizinische Beweise vorlagen.

  • Yacine Zad und drei weitere Menschenrechtsverteidiger nahmen im April 2012 an einem Sitzstreik außerhalb des Gerichtsgebäudes teil, in dem Abdelkader Kherba der Prozess gemacht wurde. Sie erhielten Anklagen wegen "Aufrufs zu einer unbewaffneten Zusammenkunft" – einem Straftatbestand, der mit bis zu einem Jahr Haft geahndet werden kann. Am 25. September erklärte das zuständige Gericht, es könne keinen Prozess gegen die Angeklagten führen. Dennoch waren die Anklagen Ende 2012 noch anhängig.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Bewaffnete Gruppierungen, allen voran Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM), verübten eine Reihe von Anschlägen auf zumeist militärische Einrichtungen. Regierungsberichten zufolge kam es zur Tötung von Angehörigen bewaffneter Gruppierungen durch die Sicherheitskräfte. Die näheren Umstände blieben im Dunkeln, und es steht zu befürchten, dass es sich bei einigen Vorfällen um außergerichtliche Hinrichtungen handeln könnte. Mindestens vier Zivilpersonen wurden durch Bomben oder den Schusswaffeneinsatz der Sicherheitskräfte getötet. Die Sicherheits- und Informationsabteilung (Département de Renseignement et de la Sécurité – DRS) führte im Rahmen ihrer umfassenden Befugnisse Festnahmen und Inhaftierungen von Tatverdächtigen im Zusammenhang mit Terrorismus durch. Die Verdächtigen wurden häufig ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten, was Folter und anderen Misshandlungen Vorschub leistete.

  • Abdelhakim Chenoui und Malik Medjnoun kamen im März bzw. im Mai 2012 frei. Sie waren 2011 zu jeweils zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Den beiden Männern war der Mord an dem kabylischen Sänger Lounès Matoub zur Last gelegt worden. Bis zu ihrem Gerichtsverfahren im Jahr 2011 befanden sich die beiden Männer von 1999 an ununterbrochen in Haft. Abdelhakim Chenoui berichtete, er habe sein "Geständnis" unter Zwang abgelegt und später widerrufen. Malik Medjnoun sagte aus, er sei 1999 während seiner Haft bei der Sicherheitspolizei gefoltert worden.

Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit

Die Behörden haben noch immer keine Schritte zur Untersuchung und Klärung des Schicksals von Tausenden Menschen eingeleitet, die während des Bürgerkrieges in den 1990er Jahren "verschwanden". Die schweren Menschenrechtsverletzungen in dieser Zeit sind nicht aufgeklärt worden und die Verantwortlichen straffrei geblieben. Es fand weiterhin die Charta für Frieden und Nationale Versöhnung (Gesetz 06–01) aus dem Jahr 2006 Anwendung. Sie garantiert den Sicherheitskräften Straffreiheit, öffentliche Kritik an ihrem Vorgehen ist dagegen strafbar. Die Familien der "Verschwundenen" mussten allgemein gehaltene Dokumente akzeptieren, die den Tod ihrer verschwundenen Angehörigen bestätigten, jedoch keine Angaben zu deren Schicksal enthielten. Dies war eine Voraussetzung dafür, dass die Familien Entschädigungszahlungen beantragen konnten. Angehörige, die weiterhin ihr Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit einforderten, wurden schikaniert.

  • Mohamed Sman, der ehemalige Leiter der LADDH in Relizane, hatte sich für Wahrheit und Gerechtigkeit für die Familien der "Verschwundenen" eingesetzt. Im Juni 2012 erhielt er eine Vorladung des Staatsanwalts in Relizane. Als er nicht zu dem Termin erschien, wurde er festgenommen. Die Vorladung stand im Zusammenhang mit einer zweimonatigen Freiheitsstrafe und einer Geldbuße, die gegen ihn verhängt worden waren. Er hatte Kritik an den Behörden geäußert, weil diese im Jahr 2001 Leichen aus einem Massengrab in Relizane entfernt hatten. Sein Urteil war 2011 vom Obersten Gerichtshof bestätigt worden. Im Juli 2012 kam er aus gesundheitlichen Gründen im Rahmen einer Präsidialamnestie frei.

Frauenrechte

Frauen wurden nach wie vor sowohl vor dem Gesetz als auch im täglichen Leben diskriminiert. Dank eines Gesetzes aus dem Jahr 2011, das den Anteil der Frauen im Parlament erhöhen soll, gewannen Frauen bei den nationalen Wahlen im Mai 2012 ein Drittel der Sitze.

Im März forderte der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) die Regierung auf, das Familienrecht zu reformieren. Frauen müssten hinsichtlich Ehe sowie Scheidung, Sorgerecht für die Kinder und Erbschaftsangelegenheiten die gleichen Rechte zuerkannt werden wie Männern. Der Ausschuss forderte die Regierung weiterhin dringend auf, alle Vorbehalte gegen das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zurückzunehmen und das Zusatzprotokoll zu ratifizieren. Außerdem müssten Gesetze erlassen werden, die Frauen gegen häusliche und andere Gewalt schützen. Die Gleichstellung der Geschlechter im Bildungswesen und im Berufsleben müsse vorangetrieben werden.

Todesstrafe

Gerichte in Algerien verhängten 2012 mindestens 153 Todesurteile, viele davon in Abwesenheit der Angeklagten und meist wegen Vergehen im Zusammenhang mit Terrorismus. Es gab jedoch keine Hinrichtungen. Die Behörden hielten damit an einem De-facto-Moratorium für Hinrichtungen fest, das seit 1993 in Kraft ist.

  • Acht Männer wurden am 25. Oktober 2012 wegen Entführung und Mord zum Tode verurteilt. Mindestens zwei der Angeklagten gaben an, während ihrer Untersuchungshaft im Jahr 2011 gefoltert worden zu sein.

Schlagworte

Algerien Amnesty Report

Weitere Artikel