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Haiti 2012
Amtliche Bezeichnung: Republik Haiti Staatsoberhaupt: Michel Joseph Martelly (löste im Mai René García Préval im Amt ab) Regierungschef: Garry Conille (löste im Oktober Jean-Max Bellerive im Amt ab) Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 10,1 Mio. Lebenserwartung: 62,1 Jahre Kindersterblichkeit: 86,7 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 48,7%
Die Anzahl der Menschen, die in Notunterkünften lebten, nachdem sie durch das Erdbeben im Januar 2010 obdachlos geworden waren, sank von 1,3 Mio. auf 500000 zum Jahresende 2011. Gewalt gegen Frauen und Mädchen war in den Lagern weit verbreitet. Schlechte sanitäre Verhältnisse und eingeschränkter Zugang zu Wasser trugen dazu bei, dass sich die Cholera ausbreitete und immer wieder neu ausbrach. Haitis Justizwesen stand vor der Herausforderung, die Straflosigkeit für schwere Menschenrechtsverstöße und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beenden, die unter der Regierung von Jean-Claude Duvalier (1971–86) begangen worden waren.
Hintergrund
Jean-Claude Duvalier kehrte im Januar 2011 nach Haiti zurück, nachdem er nahezu 25 Jahre im Exil in Frankreich verbracht hatte. Die Justizbehörden nahmen direkt nach seiner Ankunft strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn wegen Veruntreuung und Diebstahl von Staatsgeldern auf. Nachdem Opfer Klagen eingereicht hatten, kam eine Untersuchung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinzu. Im März kehrte der ehemalige Präsident Jean-Bertrand Aristide nach Haiti zurück, der 2004 abgesetzt worden war. Er hatte sieben Jahre in Südafrika im Exil gelebt.
Michel Martelly wurde im März in einer Stichwahl gegen Mirlande Manigat zum Präsidenten gewählt. Die erste Wahlrunde im November 2010 hatte zu einer Pattsituation zwischen den Präsidentschaftskandidaten geführt. Zudem war der Vorwurf erhoben worden, der Wahlausschuss habe die Wahl zugunsten des Kandidaten der Regierungspartei, Jude Célestin, manipuliert. Internationale und nationale Wahlbeobachter übten ebenfalls Kritik.
Michel Martelly wurde am 14. Mai 2011 vereidigt. Die Bildung eines Kabinetts gelang ihm jedoch erst im Oktober, als das Parlament schließlich die Nominierung von Garry Conille zum Regierungschef akzeptierte.
Das Mandat der UN-Stabilisierungsmission in Haiti (MINUSTAH) wurde bis Oktober 2012 verlängert, die Zahl der eingesetzten Soldaten und Polizisten reduziert.
Die schwere Cholera-Epidemie, die im Oktober 2010 ausgebrochen war, griff weiter um sich. Ende 2011 kam es zu erneut zu Ausbrüchen der Krankheit. Bis zum Jahresende wurden mehr als 529094 Erkrankungen und 7018 Todesfälle gemeldet.
Für das Einschleppen der südasiatischen Form der Cholera machten viele die nepalesischen Soldaten der UN-Friedenstruppe verantwortlich, die am oberen Flusslauf des Artibonite stationiert waren. Dort war die Krankheit erstmals aufgetreten. Eine unabhängige Kommission internationaler Experten, die der UN-Generalsekretär damit beauftragt hatte, die Ursache für den Ausbruch zu finden, stellte im Mai fest, die weite Verbreitung der Epidemie sei durch eine Kombination von Faktoren verursacht worden: durch die Verunreinigung des Artibonite-Flusses mit Fäkalien sowie durch Probleme bei der Wasserversorgung, der Abwasserentsorgung und Defizite im Gesundheitssystem. Im November reichten das in den USA ansässige Institut für Gerechtigkeit und Demokratie in Haiti und seine haitianische Partnerorganisation Bureau des Avocats Internationaux beim Leiter der Beschwerdestelle der MINUSTAH gemäß den Bestimmungen des Truppenstatuts eine Beschwerde gegen die UN ein. Sie forderten wegen der fahrlässigen Einschleppung der Cholera eine Wiedergutmachung für mehr als 5000 Opfer.
Fast die Hälfte der Bevölkerung war von Nahrungsmittelknappheit betroffen; 800000 Menschen hatten keinen regelmäßigen Zugang zu Grundnahrungsmitteln. Im Oktober 2011 wurde die Menschenrechtssituation in Haiti zum ersten Mal im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) durch den UN-Menschenrechtsrat begutachtet.
Erdbebenopfer
Die Anzahl der Binnenflüchtlinge sank im Laufe des Jahres von 1,3 Mio. im Januar auf gut 500000 im Dezember. In den vom Erdbeben betroffenen Regionen waren jedoch noch mehr als 900 Lager registriert. Der Bau provisorischer bzw. halbwegs dauerhafter Unterkünfte ging zwar voran, konnte den Bedarf aber nicht decken. In den Lagern verschlechterte sich der Zugang zu Wasser und zu sanitären Einrichtungen, was zu zahlreichen Cholerafällen führte. Die Flüchtlinge, die in Lagern im Großraum von Port-au-Prince lebten, waren noch stärker von Nahrungsmittelknappheit betroffen als die übrige Bevölkerung.
Zwangsräumungen
Örtliche Behörden und Grundbesitzer nahmen rechtswidrige Zwangsräumungen vor und vertrieben Tausende von Familien von staatlichen oder privaten Grundstücken.
- Im Juni 2011 vertrieben Polizisten und Beamte der Kommunalverwaltung von Port-au-Prince 514 Familien von einem Parkplatz am Sylvio-Cator-Stadion, ohne sich an ein ordentliches Verfahren zu halten. Nur 110 Familien wurde die Umsiedlung an einen anderen Ort angeboten, der jedoch über keine angemessenen sanitären Anlagen verfügte. Im März 2010 waren dieselben Familien bereits rechtswidrig von einem Fußballfeld vertrieben und auf dem Parkplatz angesiedelt worden.
Gewalt gegen Frauen und Mädchen
In den Lagern für die Erdbebenopfer und in Gemeinschaften gesellschaftlicher Randgruppen war sexuelle Gewalt weit verbreitet. Junge Mädchen waren davon in besonderem Maße betroffen. Die große Mehrheit der Straftäter wurde nicht zur Rechenschaft gezogen. Für die Opfer geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt gab es im Großraum von Port-au-Prince kaum medizinische oder sonstige Hilfsangebote. In den ländlichen Regionen gab es solche Dienste so gut wie überhaupt nicht.
Überlebende sexueller Gewalt sahen sich mit vielen Hindernissen konfrontiert, wenn sie ihren Fall vor Gericht bringen wollten. Die Polizei und die Justizbehörden verfügten nicht über die Mittel, um zu ermitteln und die Täter strafrechtlich zu verfolgen. Zwar waren immer mehr Frauen, die sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt erlitten hatten, zu einer Aussage bereit, die Mehrheit von ihnen schwieg jedoch weiterhin. Die Gründe hierfür waren zum einen die gesellschaftliche Stigmatisierung, die mit diesem Verbrechen verbunden war, zum anderen die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Täter.
Das Ministerium für Frauenangelegenheiten und Frauenrechte erarbeitete einen Gesetzentwurf zur Vorbeugung, Bestrafung und Beendigung von Gewalt gegen Frauen. Er sah u.a. die Einrichtung von Sondergerichten im ganzen Land vor, die für Fälle von Gewalt gegen Frauen zuständig sein sollten. Außerdem enthielt der Entwurf schärfere Strafen für alle Arten geschlechtsspezifischer Gewalt. Als Teil eines dreijährigen Strategieplans zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen richtete die Regierung bei der Haitianischen Nationalpolizei eine Koordinationsstelle für Gender- und Frauenangelegenheiten ein.
Straflosigkeit
Gegen den ehemaligen Präsidenten Jean-Claude Duvalier wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Wirtschaftsverbrechen ermittelt. Die Ermittlungen in Bezug auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die während seiner Regierungszeit verübt worden waren, kamen nur langsam voran. Der ermittelnde Richter unterbreitete der Staatsanwaltschaft von Port-au-Prince im Juli seine Untersuchungsergebnisse. Ende 2011 stand die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über das weitere Vorgehen jedoch noch aus. Anhänger von Jean-Claude Duvalier beschimpften mehrfach Opfer von Menschenrechtsverstößen und Justizbeamte. Die mangelnde Unterstützung der Zeugen und ein fehlendes Zeugenschutzprogramm stellten für die Opfer und ihre Familien ein großes Hindernis bei ihren Bemühungen um Gerechtigkeit dar.
Justizwesen
Das unzulängliche Justizwesen Haitis war 2011 weiterhin eine Quelle für Menschenrechtsverletzungen. So wurden Tausende Menschen in lang andauernder Untersuchungshaft gehalten. Nach Angaben des Nationalen Netzwerks zur Verteidigung der Menschenrechte waren weniger als 30% der Gefangenen vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Auch Minderjährige wurden bis zum Beginn ihres Prozesses inhaftiert, einige von ihnen mehrere Jahre lang. Ende 2011 waren nur 23% der inhaftierten Jungen und keines der 18 Mädchen, die sich in Haft befanden, vor Gericht gestellt worden.
Die schlechte Infrastruktur und eine mangelhafte Ausstattung des Justizwesens mit Personal und Geld führten zu einem erheblichen Rückstau bei der Bearbeitung der Fälle und zu einer Überbelegung der Gefängnisse. Mindestens 275 Häftlinge fielen der Cholera-Epidemie zum Opfer.
- Ein Junge namens Joseph wurde im April 2006 im Alter von zwölf Jahren wegen Vergewaltigung festgenommen. Im Oktober 2011 wartete er noch immer im Gefängnis auf sein Gerichtsverfahren. Er war erstmals im November 2008 einem Ermittlungsrichter vorgeführt worden und saß seit diesem Zeitpunkt in einer Haftanstalt für Jugendliche ein.
Verfahren gegen Polizisten wegen außergerichtlicher Hinrichtungen 13 Polizisten und 21 weitere Männer, darunter Gefängniswärter, wurden im Zusammenhang mit der Tötung von mindestens zwölf Gefangenen während einer Revolte im Gefängnis von Les Cayes im Januar 2010 vor Gericht gestellt. Das Verfahren war Ende 2011 noch nicht abgeschlossen.
Amnesty International: Missionen und Berichte
Delegierte von Amnesty besuchten Haiti in den Monaten Januar und September.
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Aftershocks: Women speak out against sexual violence in Haiti’s camps (AMR 36/001/2011)
- Haiti: "You cannot kill the truth" – the case against Jean-Claude Duvalier (AMR 36/007/2011)