Amnesty Report Algerien 03. Mai 2012

Algerien 2012

 

Amtliche Bezeichnung: Demokratische Volksrepublik Algerien Staatsoberhaupt: Abdelaziz Bouteflika Regierungschef: Ahmed Ouyahiya Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Einwohner: 36 Mio. Lebenserwartung: 73,1 Jahre Kindersterblichkeit: 32,3 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 72,6%

Die Regierung hob zwar den seit 1992 geltenden nationalen Ausnahmezustand auf, beschränkte aber weiterhin drastisch die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie auf Religionsfreiheit. Die Sicherheitskräfte wendeten bei der Auflösung von Demonstrationen und bei Unruhen unverhältnismäßige Gewalt an. Mehrere Menschen kamen dabei zu Tode. Häftlinge waren weiterhin von Folter und Misshandlungen bedroht. Frauen wurden immer noch vor dem Gesetz und im täglichen Leben diskriminiert und waren nur unzureichend gegen sexuelle und häusliche Gewalt geschützt. Die Behörden unternahmen weiterhin nichts, um die vielen Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Im Berichtsjahr wurden zwar Todesurteile verhängt, Hinrichtungen fanden jedoch nicht statt. Bewaffnete Gruppierungen verübten Anschläge, bei denen auch Zivilpersonen getötet wurden.

Hintergrund

Im Januar 2011 kam es zu Massenprotesten und Unruhen, und in den darauffolgenden Monaten fanden regelmäßig Kundgebungen statt. Die Menschen protestierten gegen Preiserhöhungen für Nahrungsmittel und andere Güter, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Korruption in öffentlichen Einrichtungen und gegen Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte. Zu vielen dieser Demonstrationen hatte die Nationale Koordinierungsstelle für Wandel und Demokratie aufgerufen, der Dachverband der Oppositionsparteien, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen.

Die Vereinigung war im Januar ins Leben gerufen worden, nachdem Sicherheitskräfte mehrere Demonstrationen und Unruhen gewaltsam unterbunden hatten. Mehrere Menschen kamen dabei ums Leben, Hunderte erlitten Verletzungen oder wurden inhaftiert. Die Behörden ergriffen Maßnahmen, um einigen Beschwerden der Demonstrierenden zu begegnen. So wurden die Steuern auf Grundnahrungsmittel vorübergehend gesenkt. Im Februar hob die Regierung den Ausnahmezustand auf, der seit 1992 bestand. Im April kündigte Präsident Abdelaziz Bouteflika Reformpläne an, einschließlich neuer, freiheitlicherer Wahl- und Mediengesetze. Außerdem ernannte er einen Ausschuss, der eine Verfassungsreform ausarbeiten soll. Die Reformpläne waren jedoch bis Ende 2011 noch nicht vollständig umgesetzt worden. Zudem stießen viele der Gesetze, die im Zuge der Reformpläne verabschiedet wurden, auf Kritik, weil sie nicht weitreichend genug seien.

Die Regierung gestattete Besuche des UN-Sonderberichterstatters über Meinungsfreiheit sowie der UN-Sonderberichterstatterin über angemessenes Wohnen, sperrte sich aber weiterhin gegen die seit Langem beantragten Besuche des UN-Sonderberichterstatters über Folter sowie der UN-Arbeitsgruppe zur Frage des Verschwindenlassens von Personen.

Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Die Regierung schränkte 2011 weiterhin die Rechte auf freie Meinungsäußerung ein und untersagten nicht genehmigte öffentliche Zusammenkünfte. Im Januar wurden Massenproteste in Algier, Oran und weiteren Städten durch Tausende von Polizisten und andere Sicherheitskräfte gewaltsam aufgelöst. Dabei gab es Tote und Verletzte. In den darauffolgenden Wochen wurden Tausende Sicherheitskräfte vorsorglich nach Algier abkommandiert, um die für den 12. Februar geplanten Protestkundgebungen zu unterbinden. Die Behörden sperrten dem Vernehmen nach in einigen Regionen den Zugang zu Facebook und Twitter, um die Organisation und Koordination der Aktionen zu behindern.

Seit der Aufhebung des Ausnahmezustands am 24. Februar waren Demonstrationen nach vorheriger Genehmigung wieder erlaubt. Dies galt jedoch nicht für Algier. Oft wurden solche Genehmigungen allerdings verweigert. Trotzdem fanden in Algier und in anderen Städten nicht zugelassene Protestaktionen statt, die häufig von Sicherheitskräften mit Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst wurden. Viele Demonstrierende kamen in Haft. Einige von ihnen wurden angeklagt und vor Strafgerichte gestellt. Die Anklagen lauteten auf Teilnahme an "verbotenen unbewaffneten Zusammenkünften" und Angriffe auf die Sicherheitskräfte.

Die meisten Angeklagten wurden später freigesprochen. Im Dezember 2011 verabschiedete das Parlament ein neues Mediengesetz, welches die journalistische Tätigkeit in den Themenbereichen Staatssicherheit, nationale Souveränität und Wirtschaftsinteressen einschränkte. Verstöße gegen dieses Gesetz wurden mit hohen Geldstrafen geahndet.

Menschenrechtsorganisationen berichteten, dass die Behörden ihnen bisweilen keine Genehmigung für ihre Versammlungen erteilten. Gewerkschaftsmitglieder klagten über Schikanen durch die Sicherheitskräfte. Die Regierung weigerte sich Berichten zufolge, neue Vereinigungen oder politische Parteien zu genehmigen. Den Antragstellern wurde zu verstehen gegeben, dass neue Gesetze abgewartet werden müssten, die noch nicht verabschiedet worden seien. Im Dezember verabschiedete das Parlament ein neues Vereinsgesetz, das den Behörden umfassende Befugnisse verleiht, NGOs vorübergehend die Arbeit zu untersagen oder sie aufzulösen. Zudem wurde die Zulassung und Finanzierung von NGOs weiter erschwert.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Bewaffnete Gruppierungen, allen voran Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM), verübten eine Reihe von Anschlägen auf zumeist militärische Einrichtungen. Dabei kamen jedoch auch Zivilipersonen ums Leben. Über 100 vermeintliche Mitglieder von AQIM und anderen islamistischen Gruppierungen sind Berichten zufolge von Sicherheitskräften getötet worden. Die Umstände der Tötungen blieben im Dunkeln, und es ist nicht auszuschließen, dass es sich bei einigen Vorfällen um außergerichtliche Hinrichtungen handeln könnte.

  • Bei einem Angriff der AQIM auf eine Militärkaserne in Cherchell am 26. August kamen dem Vernehmen nach zwei Zivilpersonen und 16 Soldaten ums Leben.

Im Februar 2011 erteilte der Präsident per Dekret dem Militär Befugnisse, den "Terrorismus" zu bekämpfen, und hob gleichzeitig den Ausnahmezustand auf.

Ebenfalls im Februar wurde per Präsidialdekret die Strafprozessordnung abgeändert, so dass Richter die Macht erhielten, Tatverdächtige, denen Vergehen im Zusammenhang mit Terrorismus vorgeworfen werden, in "sicheren Einrichtungen" an unbekannten Orten für viele Monate festzuhalten. Dies entspricht einer Legalisierung von geheimer Haft über lange Zeiträume hinweg.

Häftlinge, denen Vergehen im Zusammenhang mit Terrorismus vorgeworfen wurden, erlitten offensichtlich während ihrer Haft beim militärischen Geheimdienst Folter und andere Misshandlungen. In manchen Fällen verbrachten die Gefangenen ihre Haftzeit ohne Kontakt zur Außenwelt, was dem Tatbestand des Verschwindenlassens gleichkommen könnte.

  • Am 18. Juli wurden Abdelhakim Chenoui und Malik Medjnoun nach einem offensichtlich unfairen Gerichtsverfahren zu jeweils zwölf Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Den beiden Männern wurde der Mord an dem kabylischen Sänger Lounès Matoub im Jahr 1998 zur Last gelegt. Sie befanden sich seit 1999 ohne Gerichtsverfahren in Haft. Ihre Verurteilung fußte auf einem "Geständnis", das Abdelhakim Chenoui nach eigenen Aussagen unter Zwang abgelegt und später widerrufen hatte.

Frauenrechte

Frauen wurden nach wie vor sowohl vor dem Gesetz als auch im täglichen Leben diskriminiert. Das 2005 verabschiedete Gesetz zum Schutz der Familie ordnet die Rechte der Frauen noch immer denen der Männer unter, vor allem, wenn es um Regelungen bei der Heirat, bei einer Scheidung, dem Sorgerecht für die Kinder und Erbschaftsangelegenheiten geht.

Nach ihrem Besuch in Algerien im April 2011 sagte die UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen, dass die Regierung sich bemüht habe, die Rechte der Frauen zu verbessern. Sie rief die Behörden jedoch dazu auf, dringend notwendige Maßnahmen gegen die anhaltende Gewalt gegen Frauen in der Familie, sexuelle Belästigungen und die Stigmatisierung von ledigen sowie von alleinlebenden Frauen zu ergreifen.

Im November 2011 verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz, das den Anteil der Frauen im Parlament erhöhen soll. Vorschläge für Gesetzentwürfe, nach denen eine 30%-Quote für Frauen in allen Wahlbezirken eingeführt und Frauen bei Wahlen auf höhere Listenplätze gesetzt werden sollen, wurden allerdings nicht angenommen.

  • Im Juni und Juli griffen Berichten zufolge Gruppen von jungen Männern in der Stadt M’sila im Norden des Landes Frauen an und bezichtigten sie der Prostitution.

Straflosigkeit – Verschwindenlassen

Die Behörden haben noch immer keine Schritte zur Untersuchung und Klärung des Schicksals von Tausenden von Menschen eingeleitet, die während des Binnenkonflikts in den 1990er Jahren "verschwanden". Die schweren Menschenrechtsverletzungen in dieser Zeit sind nicht aufgeklärt worden und die Verantwortlichen straffrei geblieben. Es fand weiterhin die Charta für Frieden und Nationale Versöhnung (Gesetz 06–01) Anwendung.

Sie garantiert den Sicherheitskräften Straffreiheit, während öffentliche Kritik an ihrem Vorgehen strafbar ist. Außerdem sieht die Charta vor, dass Mitglieder bewaffneter Gruppen, die schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben, begnadigt werden. Die Familien der "Verschwundenen" wurden von den Behörden unter Druck gesetzt, damit sie allgemein gehaltene Dokumente akzeptierten, die den Tod ihrer Angehörigen bestätigten, jedoch keine Angaben zum Todesdatum und zur Todesursache enthielten. Dies war eine Voraussetzung dafür, dass die Familien Entschädigungszahlungen beantragen konnten. Sicherheitskräfte lösten Protestaktionen von Angehörigen "Verschwundener" auf.

Religionsfreiheit

Christen und zum Christentum konvertierte Personen wurden wegen "unerlaubter Ausübung religiöser Praktiken" gemäß Erlass 06–03 strafrechtlich verfolgt. Der Erlass, der den Umgang mit Religionen regelt, die nicht die Staatsreligion (Islam) sind, erschwert es Christen weiterhin, Kirchen zu bauen oder zu unterhalten. Im Mai 2011 ordnete der Gouverneur von Béjaa in der Nord-Ost-Provinz unter Berufung auf den Erlass die Schließung aller Kirchen an. Diese Anordnung wurde vom Innenminister widerrufen.

  • Am 25. Mai verurteilte ein Gericht in Cité Jamal in der Stadt Oran den zum Christentum übergetretenen Abdelkarim Siaghi wegen "Beleidigung des Propheten Mohammed" zu fünf Jahren Gefängnis und einer hohen Geldbuße. Sein Verfahren war unfair, und seine Rechtsanwälte durften die Zeugen nicht ins Kreuzverhör nehmen. Abdelkarim Siaghi befand sich Ende des Jahres noch auf freiem Fuß, weil die Entscheidung über sein Berufungsverfahren noch anhängig war.

Todesstrafe

Gerichte in Algerien verhängten auch 2011 Todesurteile, viele davon in Abwesenheit der Angeklagten und meist wegen Vergehen im Zusammenhang mit Terrorismus. Die letzte Hinrichtung fand 1993 statt.

Amnesty International: Mission

Delegierte von Amnesty International hielten sich von Februar bis März in Algerien auf.

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