Amnesty Report Tunesien 10. Mai 2011

Tunesien 2011

 

Amtliche Bezeichnung: Tunesische Republik Staatsoberhaupt: Zine el-Abidine Ben Ali Regierungschef: Mohamed Ghannouchi Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Einwohner: 10,4 Mio. Lebenserwartung: 74,3 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 24/21 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 78%

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit blieben auch 2010 stark eingeschränkt. Regierungskritiker wurden weiterhin schikaniert, bedroht und inhaftiert. Auch ehemalige politische Gefangene wurden drangsaliert, eingeschüchtert und unterlagen Beschränkungen. Es gab Berichte über Folterungen und Misshandlungen auf Polizeiwachen und in Gefängnissen. Angeklagte, die auf Grundlage der Antiterrorgesetzgebung schuldig gesprochen wurden, erhielten nach unfairen Gerichtsverfahren hohe Haftstrafen. Es wurden erneut Todesurteile verhängt. Ein Hinrichtungsmoratorium hatte jedoch weiterhin Bestand.

Hintergrund

Im Juni 2010 wurde Paragraph 61 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs geändert und ein neuer Straftatbestand geschaffen. Demzufolge kann jede Person, die "direkt oder indirekt Kontakt zu Agenten eines ausländischen Staates, einer ausländischen Institution oder Organisation mit dem Ziel aufnimmt, die vitalen Interessen Tunesiens und die Sicherheit der Wirtschaft des Landes zu beschädigen", mit Freiheitsentzug von bis zu 20 Jahren bestraft werden. Einen Monat vor der Gesetzesänderung hatten sich tunesische Menschenrechtsverteidiger mit Vertretern der EU und Parlamentsabgeordneten aus Spanien und Belgien getroffen. Sie hatten dringend darum gebeten, die EU möge im Rahmen der Verhandlungen mit Tunesien über einen "fortgeschrittenen Status" in den Beziehungen Druck auf die tunesische Regierung ausüben, damit diese ihren Verpflichtungen bezüglich der Menschenrechte nachkomme. Das neue Gesetz sollte anscheinend die Lobbyarbeit gegenüber anderen Staaten und internationalen Institutionen zugunsten der Menschenrechte in Tunesien unter Strafe stellen und abschreckend wirken.

Im Juni veröffentlichte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes seine Stellungnahme zu Kinderrechten in Tunesien. Er legte der Regierung nachdrücklich nahe, ein Verbot von Körperstrafen gegen Kinder in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Diese sind in der Familie sowie in Kinder- und Jugendeinrichtungen noch immer erlaubt.

Proteste gegen die Regierung

Nach der Selbsttötung des 24-jährigen Mohamed Bouazizi, der sich am 17. Dezember aus Verzweiflung in der Stadt Sidi Bouzid verbrannt hatte, weil ein örtlicher Behördenvertreter ihm untersagt hatte, Gemüse zu verkaufen, und ihn tätlich angegriffen haben soll, brachen Proteste gegen die Regierung aus. Die Sicherheitskräfte gingen mit unverhältnismäßiger Gewalt – u.a. mit scharfer Munition – gegen die in der Mehrzahl friedlichen Demonstrierenden vor. Dabei kamen mindestens zwei Menschen ums Leben. Zahlreiche weitere wurden durch scharfe Munition, Gummigeschosse, Tränengas und Schläge verletzt. Ende 2010 dauerten die Proteste noch an und hatten auf das gesamte Land übergegriffen.

  • Am 24. Dezember 2010 erschossen Angehörige der Sicherheitskräfte während einer Demonstration in Manzel Bouzayane, einer kleinen Stadt in der Provinz Sidi Bouzid, die beiden Männer Mohamed Ammari und Chaouki Belhoussine El Hadri.

Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit

Die Behörden übten nach wie vor eine strenge Kontrolle über alle Medien und das Internet aus. Personen, die offen Kritik an der Regierung übten oder Menschenrechtsverletzungen anprangerten, wurden weiterhin schikaniert, verstärkt überwacht, ungerechtfertigt strafrechtlich verfolgt oder tätlich angegriffen. Unabhängige Menschenrechtsorganisationen konnten nur mit Mühe öffentliche Versammlungen abhalten oder Räumlichkeiten für ihre Treffen anmieten. Ihre Zusammenkünfte standen häufig unter rigoroser Überwachung durch die Sicherheitskräfte.

  • Der Journalist Fahem Boukadous und der erwerbslose Akademiker Hassan Ben Abdallah verbüßten beide eine vierjährige Haftstrafe im Gafsa-Gefängnis. Ihnen war zur Last gelegt worden, im Jahr 2008 an Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit und hohe Lebenshaltungskosten in der Provinz Gafsa im Südwesten Tunesiens teilgenommen zu haben. Fahem Boukadous war außerdem wegen "Verbreitung von Informationen zur Störung der öffentlichen Ordnung" für schuldig befunden worden, weil er in einem privaten Fernsehsender über die Unruhen berichtet hatte. Beide Männer waren in unfairen Gerichtsverfahren verurteilt worden. Zunächst hatte man sie in einem Prozess in Abwesenheit verurteilt. Nachdem sie Ende 2009 eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt hatten, standen sie im Januar und März 2010 erneut vor Gericht. Von Oktober bis November trat Fahem Boukadous 39 Tage lang in den Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung und die schlechten Haftbedingungen zu protestieren. Er beendete seine Aktion, als die Behörden Maßnahmen ergriffen, um seine Haftbedingungen zu verbessern.

  • Im März 2010 hinderten die Behörden mehrere Journalisten und Menschenrechtsverteidiger daran, an einer Pressekonferenz in Tunis teilzunehmen, auf der die Internationale Vereinigung zum Schutz von politischen Gefangenen (International Association for the Support of Political Prisoners) und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ihre jeweiligen Berichte über Schikanen gegen ehemalige politische Gefangene in Tunesien vorstellen wollten.

Schikanen gegen ehemalige politische Gefangene

Zahlreiche ehemalige politische Gefangene waren 2010 weiterhin von "Überwachungsverfügungen" betroffen, die sie verpflichteten, sich häufig auf Polizeiwachen zu melden. In der Regel ging dies auch mit einer umfassenden polizeilichen Überwachung einher sowie mit Auflagen, was die Ausübung ihrer Bürgerrechte betraf. Einige von ihnen wurden erneut festgenommen und ins Gefängnis gebracht, weil sie ihre friedlichen politischen Aktivitäten wieder aufgenommen oder die Regierung öffentlich kritisiert hatten. Manchen blieb der Zugang zu notwendiger medizinischer Behandlung verwehrt. Gegen die meisten wurden Beschränkungen bezüglich ihrer Bewegungsfreiheit innerhalb von Tunesien verhängt, auch Reisepässe wurden ihnen verweigert. Viele ehemalige politische Gefangene konnten aufgrund der Verfügungen weder eine bezahlte Arbeit aufnehmen noch ein normales Leben führen.

  • Sadok Chourou kam am 30. Oktober 2010 aus dem Nadhour-Gefängnis frei. Im Jahr 2008 war er schon einmal unter Vorbehalt entlassen worden. Kurz nach seiner damaligen Freilassung hatte er dem Satelliten-Fernsehsender al-Hiwar (Dialog) und anderen Internetmedien im November 2008 Interviews gegeben. Daraufhin wurde seine Haftentlassung revidiert, und er musste zudem ein weiteres Jahr im Gefängnis verbringen. Bei seiner Freilassung sagten ihm Beamte, er solle sich nicht mehr journalistisch oder politisch betätigen. Ein offizielles Betätigungsverbot wurde allerdings nicht ausgesprochen.

  • Abdellatif Bouhajila wurde weiterhin ein Reisepass verweigert, den er benötigte, um für eine dringend notwendige medizinische Behandlung ins Ausland reisen zu können. Er war 2007 unter Auflagen aus der Haft entlassen worden. 2001 hatte man ihn wegen Mitgliedschaft in der islamistischen Gruppe al-Ansar (Die Partisanen) zu 17 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Berichten zufolge war seine Gesundheit nach Misshandlungen im Gefängnis und mehreren Hungerstreiks stark angegriffen.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger wurden auch im Jahr 2010 von den Behörden schikaniert. Sie standen unter ständiger strenger Überwachung. Ihre Internetzugänge und Telefonleitungen wurden gestört oder gekappt. Bisweilen wurden sie gewaltsam daran gehindert, an Treffen oder Versammlungen zu Menschenrechtsfragen teilzunehmen. Einige von ihnen wurden tätlich angegriffen. Die meisten unabhängigen Menschenrechtsorganisationen erhielten auch 2010 keine Zulassung. Im Februar forderte die UN-Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für die Lage von Menschenrechtsverteidigern die tunesischen Behörden auf, ihre psychologische und physische "Einschüchterungskampagne" gegen Menschenrechtsverteidiger sofort einzustellen.

  • Der 78-jährige Ali Ben Salem wurde von den Behörden 2010 weiterhin wegen seiner Menschenrechtsarbeit schikaniert und eingeschüchtert. Er ist Gründungsmitglied von mehreren Menschenrechtsorganisationen, wie z.B. dem Nationalrat für Freiheiten in Tunesien (Conseil National pour les Libertés en Tunisie) und der Vereinigung gegen Folter in Tunesien (Association de Lutte contre la Torture en Tunisie). Sein Haus in Bizerta beherbergt auch das Regionalbüro der Tunesischen Menschenrechtsliga (Ligue Tunisienne pour les Droits de l’Homme). Beamte des Staatssicherheitsdienstes waren ununterbrochen vor seinem Haus postiert, seine Telefonleitungen und seine Internetverbindung wurden gekappt. Ali Ben Salem befand sich unter ständiger Überwachung und wurde gewaltsam daran gehindert, an Versammlungen von Menschenrechtsverteidigern teilzunehmen. Die Behörden verweigerten ihm nach wie vor eine Karte, die eine kostenlose Gesundheitsversorgung ermöglichen würde, sowie einen Reisepass. Somit konnte er für seine schweren Rücken- und Herzbeschwerden keine medizinische Hilfe in Anspruch nehmen.

  • Der Menschenrechtsverteidiger und Journalist Zouheir Makhlouf kam im Februar 2010 frei. Er war im Oktober 2009 festgenommen worden und im Zusammenhang mit einem Dokumentarfilm über Umweltverschmutzung im Industriegebiet der Stadt Nabeul im Nordosten Tunesiens verurteilt worden. Im April suchten ihn acht Polizeibeamte auf und teilten ihm mit, er stünde unter Arrest. Als er den Haftbefehl sehen wollte, verprügelten sie ihn vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder und hielten ihn anschließend sieben Stunden lang auf einer Polizeiwache fest. Bei seiner Freilassung wies Zouheir Makhlouf Blutergüsse und eine gebrochene Nase auf. Im Dezember wurde er erneut von einem mutmaßlichen Polizisten in Zivil geschlagen, als er sein Haus verließ, um über die Unruhen in der Region Sidi Bouzid zu berichten.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Personen, denen man Vergehen im Zusammenhang mit der Sicherheit zur Last legte, wurden inhaftiert und vor Gericht gestellt. Einige von ihnen waren zuvor aus anderen Staaten nach Tunesien abgeschoben worden. Berichten zufolge wurden seit 2003 rund 2000 Personen wegen Verstößen gegen das Antiterrorgesetz verurteilt. Viele von ihnen in Abwesenheit und nach Prozessen, die nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprachen. Angeklagte gaben an, man habe sie während ihrer Untersuchungshaft ohne Kontakt zur Außenwelt unter Folterungen und Nötigungen gezwungen, "Geständnisse" zu unterschreiben. Diese "Geständnisse" wurden später vor Gericht als Beweismittel zugelassen, ohne dass den Foltervorwürfen angemessen nachgegangen worden wäre.

Der UN-Sonderberichterstatter über die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus kritisierte bei seinem Tunesienbesuch im Januar das Antiterrorgesetz von 2003. Er forderte die Regierung nachdrücklich dazu auf, die viel zu weit gefasste Definition von "Terrorismus" zu ändern und die Anwendung des Gesetzes so zu begrenzen, dass es nicht länger Personen treffe, die zuvor in unrechtmäßiger Weise des "Terrorismus" für schuldig befunden worden waren.

  • Seifallah Ben Hassine befand sich 2010 weiterhin im Mornaguia-Gefängnis in der Nähe von Tunis in Isolationshaft. Er wurde seit 2007 in Isolation gehalten, obwohl das tunesische Recht dies nur für zehn Tage erlaubt. Seifallah Ben Hassine war 2003 auf der Grundlage des Antiterrorgesetzes und des Militärstrafgesetzbuchs verurteilt worden. Er musste sich in sechs gesonderten Gerichtsverfahren verantworten, von denen vier vor dem Militärgericht von Tunis stattfanden. Die sechs Schuldsprüche brachten ihm insgesamt 68 Jahre Haft ein, die er nacheinander abbüßen muss. Er war während einer Reise in die Türkei festgenommen worden und wurde dort, seinen Angaben zufolge, einen Monat lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten und gefoltert, ehe man ihn nach Tunesien abschob.

Frauenrechte

Die Behörden stellten Tunesien weiterhin als einen Staat dar, der Frauenrechte fördert und schützt. Journalistinnen, die Kritik an der Regierung übten, sowie Menschenrechtsverteidigerinnen wurden jedoch schikaniert und waren verunglimpfenden Schmutzkampagnen in den staatlich kontrollierten Medien ausgesetzt.

  • Faten Hamdi, eine Reporterin von Radio Kalima, einem Sender, der in Tunesien keine Sendeerlaubnis hat, wurde im Februar 2010 in Tunis von zwei Polizeibeamten in Zivil angegriffen. Die Beamten versuchten Faten Hamdi in ein Auto zu zerren und schlugen sie ins Gesicht, ehe ihr die Flucht gelang.

Unter den ihres Amtes enthobenen Führungspersönlichkeiten der tunesischen Richtervereinigung (Association de Juges en Tunisie) befanden sich auch mehrere Richterinnen. Sie hatten sich für die Unabhängigkeit des Gerichtswesens ausgesprochen und wurden dafür fortgesetzt schikaniert.

  • Die Richterin Kalthoum Kennou wurde gegen ihren Willen von Kairouan nach Tozeur versetzt, obwohl sie in ihre Heimatstadt Tunis hatte zurückkehren wollen. Vielen Richterinnen wurde ohne voherige Mitteilung das Gehalt gekürzt, und sie wurden bei Beförderungen übergangen.

Im Oktober äußerte sich der UN-Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) in einer Stellungnahme zu Frauenrechten in Tunesien besorgt angesichts von Hinweisen, wonach Mitglieder von NGOs und Menschenrechtsverteidigerinnen "willkürlich festgenommen und schikaniert" würden. Kritisiert wurde auch, dass unabhängige Frauenorganisationen von politischen Prozessen ausgeschlossen seien und keine staatliche Förderung erhielten.

Todesstrafe

Gegen mindestens 22 Personen ergingen 2010 Todesurteile, Hinrichtungen fanden jedoch nicht statt. Die Regierung hält seit 1991 ein De-facto-Moratorium für Hinrichtungen aufrecht. Den 136 in den Todeszellen einsitzenden Gefangenen, darunter vier Frauen, blieb jeglicher Kontakt mit ihren Familien oder ihren Rechtsanwälten untersagt.

Amnesty International: Berichte

Freed but not free: Tunisia’s former political prisoners (MDE 30/003/2010)

Independent voices stifled in Tunisia (MDE 30/008/2010)

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Tunesien Amnesty Report

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