Amnesty Report Algerien 10. Mai 2011

Algerien 2011

 

Amtliche Bezeichnung: Demokratische Volksrepublik Algerien Staatsoberhaupt: Abdelaziz Bouteflika Regierungschef: Ahmed Ouyahiya Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Einwohner: 35,4 Mio. Lebenserwartung: 72,9 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 35/31 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 72,6%

Menschenrechtsverteidiger und andere Kritiker der Regierung durften auch 2010 keine Versammlungen und Demonstrationen abhalten. Personen, die im Verdacht standen, die Sicherheit zu bedrohen, wurden festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert. Frauen erhielten keine Wiedergutmachung, wenn sie Opfer von sexueller Gewalt geworden waren. Ausländische Staatsbürger wurden inhaftiert und ausgewiesen, ohne dass sie Gelegenheit hatten, dies rechtlich anzufechten. Christen waren strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt, weil sie ihren Glauben ohne Erlaubnis ausübten. Andere standen wegen Beleidigung des Islam vor Gericht. Es fanden keine Hinrichtungen statt, jedoch wurden Todesurteile gegen 130 Personen verhängt. Die Behörden unternahmen weiterhin nichts, um die vielen Fälle von "Verschwindenlassen" und anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.

Hintergrund

Die Regierung hielt am Ausnahmezustand fest, der bereits seit 1992 besteht.

Es gab weiterhin politisch motivierte Gewalttaten, bei denen mindestens 45 Zivilpersonen und etwa 100 Angehörige der Armee und der Sicherheitskräfte ums Leben kamen. Sie starben zumeist bei Bombenanschlägen bewaffneter Gruppen, insbesondere der Organisation Al-Qaida im islamischen Maghreb. Mehr als 200 mutmaßliche Mitglieder bewaffneter islamistischer Gruppen sollen von den Sicherheitskräften bei Zusammenstößen oder bei Durchsuchungen getötet worden sein. Die genauen Umstände blieben häufig im Dunkeln, so dass befürchtet wurde, in einigen Fällen könne es sich um außergerichtliche Hinrichtungen gehandelt haben.

Im Laufe des Jahres gab es immer wieder Streiks, Aufstände und Demonstrationen. Die Menschen protestierten gegen Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und niedrige Löhne. Einige der Demonstrierenden wurden festgenommen und strafrechtlich verfolgt.

Die Regierung gab 2010 bekannt, sie habe sieben UN-Sonderberichterstatter nach Algerien eingeladen. Die Einladungen bezogen sich jedoch nicht auf den Sonderberichterstatter über Folter und auch nicht auf die UN-Arbeitsgruppe für das Verschwindenlassen, obwohl beide seit langem darum gebeten haben, das Land für Untersuchungen besuchen zu dürfen.

Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Die Behörden verboten einige Zusammenkünfte und Demonstrationen von Menschenrechtsverteidigern, Journalisten und Angehörigen von "Verschwundenen".

  • Im März 2010 untersagten die Behörden der Algerischen Liga für die Verteidigung der Menschenrechte (Ligue Algérienne pour la Défense des Droits de l’Homme – LADDH) den Zugang zum Tagungsort für ihre Jahresversammlung. Der Veranstaltungsort musste kurzfristig verlegt werden.

  • Die Behörden verboten eine für den 3. Mai 2010 in Algier geplante Protestkundgebung von Journalisten und anderen Personen, die sich für mehr Pressefreiheit einsetzten. Vier der Organisatoren kamen kurzzeitig in Haft.

  • Ab August 2010 hinderten die Behörden die Familienangehörigen der "Verschwundenen" daran, vor dem Gebäude der Nationalen Kommission für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte (Commission Nationale Consultative pour la Protection des Droits de l’Homme – CNCPPDH) Protestkundgebungen abzuhalten. Es gab keine offizielle Begründung für diese Maßnahme. Demonstrierende, die sich trotzdem einfanden, wurden von der Polizei gewaltsam vertrieben.

Journalisten und Menschenrechtsverteidiger wurden verleumdet und strafrechtlich verfolgt, weil sie Regierungsvertreter oder staatliche Institutionen kritisiert oder Korruptionsvorwürfe erhoben hatten.

  • Der Chef der Tageszeitung Réflexion, Belhamideche Belkacem, und zwei weitere Männer wurden am 13. Mai 2010 zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt. Sie wurden für schuldig befunden, den Bürgermeister von Ain-Boudinar beleidigt zu haben. Die Zeitung hatte im Juni 2009 einen Artikel veröffentlicht, in dem sie dem Bürgermeister Korruption vorgeworfen hatte. Alle drei blieben auf freiem Fuß, während sie auf die Entscheidung über die eingelegten Rechtsmittel warteten.

  • Der Journalist Djilali Hadjadj, der sich aktiv gegen die Korruption einsetzt, wurde am 5. September 2010 auf dem Flughafen von Constantine festgenommen. Man teilte ihm mit, er sei zuvor in Abwesenheit wegen Fälschung verurteilt worden. Am 13. September fand eine erneute Verhandlung gegen ihn in Algier statt. Er erhielt eine sechsmonatige Haftstrafe auf Bewährung und eine Geldbuße. Danach wurde er freigelassen.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Der militärische Geheimdienst (Département du Renseignement et de la Sécurité – DRS) verhaftete weiterhin Personen, die im Verdacht standen, die Sicherheit zu bedrohen, und hielt sie ohne Kontakt zur Außenwelt fest, in einigen Fällen länger als die gesetzliche Höchstdauer von zwölf Tagen. In den geheimen Haftzentren drohten den Gefangenen Folter und andere Misshandlungen. Die Verantwortlichen für Folter und Misshandlungen wurden nach wie vor nicht strafrechtlich verfolgt.

  • Am 5. September 2010 wurde Salah Koulal in Baghtiya in der Provinz Boumerdes von Sicherheitskräften in Zivil festgenommen. Er wurde 13 Tage lang in einem geheimen Haftzentrum in Blida in Gewahrsam gehalten. Ende 2010 befand er sich im El-Harrach-Gefängnis und wartete auf sein Verfahren. Man warf ihm vor, terroristische Handlungen "verteidigt" zu haben.

  • Mustapha Labsi wurde vom DRS zwölf Tage lang in Gewahrsam gehalten, nachdem er am 19. April 2010 aus der Slowakei nach Algerien abgeschoben worden war. Später wurde er in das El-Harrach-Gefängnis verlegt. Ende des Jahres wartete er auf sein Gerichtsverfahren wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland".

  • Im April traten Häftlinge, die im Verdacht standen, die Sicherheit zu bedrohen, im El-Harrach-Gefängnis in einen Hungerstreik. Sie protestierten gegen das Gefängnispersonal, dem sie Misshandlungen vorwarfen. Nach Angaben der Gefangenen wurden sie von Wärtern beleidigt, ins Gesicht geschlagen und gedemütigt. Die Vorwürfe wurden nicht offiziell untersucht.

Tatverdächtige, denen Vergehen im Zusammenhang mit Terrorismus und Gefährdung der Sicherheit vorgeworfen wurden, drohten unfaire Gerichtsverfahren. Einige wurden aufgrund von "Geständnissen" verurteilt, die möglicherweise unter Folter und Nötigungen zustande gekommen waren. Dies betraf auch Angeklagte, die von Militärgerichten zum Tode verurteilt wurden. Einigen wurde der Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl verweigert. Andere blieben ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren inhaftiert.

  • Das Verfahren gegen Malik Medjnoun und Abdelhakim Chenoui war bis Ende 2010 nicht wieder aufgenommen worden. Den beiden Männern werden der Mord an dem berühmten kabylischen Sänger Lounès Matoub 1998 zur Last gelegt sowie Vergehen im Zusammenhang mit Terrorismus. Sie befinden sich seit zehn Jahren ohne Gerichtsverfahren in Haft. Nach ihrer Festnahme 1999 waren sie lange Zeit ohne Kontakt zur Außenwelt gehalten und gefoltert worden.

  • Hasan Zumiri und Adil Hadi Bin Hamlili wurden von den US-Behörden im Januar 2010 von Guantánamo Bay nach Algerien überstellt. Abdelaziz Naji folgte im Juli. Alle drei blieben auf freiem Fuß, während untersucht wurde, ob man gegen sie Anklage wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland" erheben würde. Zwei weitere ehemalige Guantánamo-Häftlinge, Mustafa Ahmed Hamlily und Abdul Rahman Houari, wurden von ähnlichen Anklagepunkten im Februar bzw. im November freigesprochen. Ein ehemaliger Guantánamo-Häftling, Bachir Ghalaab, wurde zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt.

Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen

Im November 2010 besuchte die UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen Algerien. Die Behörden bemühten sich zwar, eine landesweite Strategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen umzusetzen, doch waren familiäre Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe nach wie vor kein Straftatbestand. Zudem wurden die Verantwortlichen für Gewalt gegen Frauen nicht zur Rechenschaft gezogen.

  • Im März und April 2010 gab es in zwei Wohngebieten der Stadt Hassi Messaoud (Wohngebiet 36 und 40) eine Serie von gewaltsamen Überfällen auf alleinlebende Frauen. Gruppen von Männern verschafften sich gewaltsam Zutritt zu den Wohnungen der Frauen, raubten sie aus und griffen sie tätlich an. Einige der Frauen wurden sexuell misshandelt. Nach Beschwerden der Frauen wurden die betreffenden Wohngebiete schärfer bewacht. Die mutmaßlichen Täter wurden jedoch nicht strafrechtlich verfolgt.

»Verschwindenlassen«

Die Behörden haben noch immer keine Schritte zur Untersuchung und Klärung des Schicksals von Tausenden von Menschen eingeleitet, die während des internen Konflikts in den 1990er-Jahren "verschwunden" sind. Es findet weiterhin die Charta für Frieden und Nationale Versöhnung (Gesetz 06–01) Anwendung. Sie sichert den Sicherheitskräften Straffreiheit zu, während öffentliche Kritik am Vorgehen der Sicherheitskräfte strafbar ist. Außerdem sieht die Charta vor, dass Mitglieder bewaffneter Gruppen, die schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben, begnadigt werden. Im Oktober 2010 teilte ein hochrangiger Beamter mit, seit 2005 seien 7500 "reumütige Terroristen" begnadigt worden. Außerdem hätten 6240 Familien von "Verschwundenen" eine staatliche Entschädigungszahlung akzeptiert. Nur zwölf Familien, die "von NGOs und anderen ausländischen Organisationen manipuliert" worden seien, hätten die Entschädigung verweigert. Nach dem Gesetz 06–01 können Angehörige Entschädigungszahlungen beantragen, wenn sie bereit sind, für die "verschwundene" Person eine Sterbeurkunde ausstellen zu lassen.

Die Familien der "Verschwundenen" setzten ihre Demonstrationen in mehreren Städten fort, darunter auch in Algier, Constantine und Jijel. Im August 2010 bezeichnete der Leiter der CNCPPDH die Forderungen der Familien nach Wahrheit und Gerechtigkeit als nicht erfüllbar. Da es keine Zeugenaussagen gebe, sei es nicht möglich, die Verantwortlichen zu identifizieren.

Im Juli forderte der UN-Menschenrechtsausschuss die Behörden auf, das "Verschwinden" von Douia Benaziza zu untersuchen und eine angemessene Wiedergutmachung an ihre Familie zu leisten. Douia Benaziza war im Juni 1996 von Sicherheitskräften festgenommen worden. Nach Ansicht des Menschenrechtsausschusses verletzten die Behörden ihr Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person sowie ihr Recht, vor Folter und Misshandlungen geschützt zu werden.

Religionsfreiheit

Im Berichtsjahr gab es weiterhin Übergriffe auf protestantische Kirchen. Christen und zum Christentum konvertierte Personen wurden wegen "unerlaubter Ausübung einer Religion" gemäß Erlass 06–03 strafrechtlich verfolgt. Dieser Erlass regelt alle nicht islamischen Religionen. Die Verfassung garantiert Religionsfreiheit, nennt jedoch den Islam als Staatsreligion.

  • Eine protestantische Kirche in Tizi Ouzou wurde im Januar 2010 verwüstet. Die Behörden ordneten keine Untersuchung des Falls an.

  • Im August 2010 begann in der Stadt Al-Arba’a Nath Irathen der Prozess gegen Mahmoud Yahou und drei Personen, die zum Christentum übergetreten waren. Mahmoud Yahou hatte Anfang des Jahres in der Provinz Tizi Ouzou eine protestantische Kirche errichtet. Den Angeklagten wurde zur Last gelegt, den Erlass 06–03 verletzt zu haben. Offensichtlich war das Gotteshaus nicht registriert worden, weil die Behörden sich geweigert hatten, weitere protestantische Kirchen zu genehmigen. Im Dezember wurden die vier Männer zu Geld- und Gefängnisstrafen auf Bewährung verurteilt.

Einige Personen wurden strafrechtlich verfolgt, weil sie sich während des Ramadan nicht an das Fastengebot hielten. Dies ist laut Artikel 144, Abs. 2 des Strafgesetzbuchs strafbar. Die Rechtsprechung war in diesen Fällen nicht einheitlich. Manchmal wurde die Klage fallengelassen, in anderen Fällen verhängten die Gerichte Haftstrafen und Geldbußen.

  • Am 5. Oktober 2010 sprach ein Gericht in Ain El-Hammam zwei zum Christentum übergetretene Personen von allen Anklagepunkten frei. Hocine Hocini und Salem Fellak waren strafrechtlich verfolgt worden, weil sie während des Ramadans tagsüber etwas gegessen hatten.

Todesstrafe

Algerien unterstützte die Resolution der UN-Generalversammlung für ein weltweites Hinrichtungsmoratorium. Seit 1993 gibt es in dem Land ein De-facto-Moratorium. Trotzdem wurden 2010 mehr als 130 Personen zum Tode verurteilt, viele davon in Abwesenheit. Die Anklage lautete meist auf Vergehen im Zusammenhang mit Terrorismus.

Rechte von Migranten

Tausende Algerier und Afrikaner aus Ländern südlich der Sahara versuchten nach wie vor, von Algerien aus Europa zu erreichen. Auch eine Reform des Strafgesetzes aus dem Jahr 2009, wonach die "illegale" Ausreise aus Algerien unter Strafe steht, konnte sie nicht davon abhalten. Einige kamen in der Wüste oder auf See ums Leben, andere wurden von Grenzschutzbeamten abgefangen.

Nach Angaben der Polizei wurden im ersten Halbjahr 2010 allein 34 ausländische Staatsangehörige ausgewiesen und 5232 Personen aus dem Land abgeschoben. Nach dem Gesetz 08–11, das die Einreise, den Aufenthalt und die Bewegungsfreiheit von Ausländern regelt, können Provinzgouverneure Personen abschieben lassen, die sich "illegal" im Land aufhalten bzw. "illegal" eingereist sind. Es gibt keine Möglichkeit, diese Anordnung rechtlich anzufechten.

Im Mai äußerte der UN-Ausschuss für Arbeitsmigranten Bedenken bezüglich eines Gesetzes, das es den Behörden erlaubt, "illegale" Arbeitsmigranten auf unbestimmte Zeit zu inhaftieren. Auch hätten es die Behörden versäumt, Berichten über Massenausweisungen nachzugehen.

Amnesty International: Mission und Berichte

Amnesty International erhielt keine Erlaubnis für eine Reise nach Algerien zu Recherchezwecken. Die Behörden teilten mit, die Organisation dürfe nur die von der Frente Polisario verwalteten Sahraui-Flüchtlingslager in Tindouf besuchen, nicht aber den Rest des Landes.

Algeria: Investigate and prosecute attacks against women (MDE 28/002/2010)

Algeria: Release Malik Medjnoun (MDE 28/008/2010)

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